35 Jahre später: EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN - 1/2 Mensch (LP, What’s So Funny About, 1985)

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Ursprünglich als „Album mit Liebesliedern“ angekündigt – im September 1984 erklärte Blixa Bargeld im Musikexpress, kompositorisch neue Wege zu gehen – und auf bizarre Weise tanzbar, skizziert „1/2 Mensch“ die Vielschichtigkeit zerrissener Großstadtseelen: rhythmischer Anti-Pop im Zeitalter des Kalten Krieges. Im an Intensität schwer zu übertreffenden „Yü-Gung (Fütter mein Ego)“, ein Highlight und subjektiv einer der besten Texte von Blixa Bargeld – über den Nick Cave einmal sagte, er habe noch niemanden gesehen, der so krank und zerstört aussehe – reizt er gesanglich seine „brennende Seele“ markerschütternd aus. Das Album steht wie kaum ein anderes für die Wortgewalt von Blixa Bargeld, der seinen Namen vom Dadaisten Theodor Baargeld abgeleitet hat. Die Zeit nannte ihn einst „Sprachkünstler“. Er selbst relativiert: „Ich habe mir keine eigene Sprache erschaffen. Ich habe mir die Sprache auch nicht untertan gemacht. Eigentlich bin ich gar kein Texter.“

Das bisher oft apokalyptische Stahlsoundgewitter wurde deutlich reduziert, man ließ hier im weitesten Sinne „Songstrukturen“ zu, was live sonst nicht zwingend der Fall war. Bei Aufführungen des Theaterstücks „Andi“ unter der Regie von Peter Zadek, das von EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN 1986 „vertont“ wurde, spielten sie teilweise mit 120 Dezibel – ein Presslufthammer hat 100 Dezibel. Ein Flugblatt der Intendanz verkündete: „Bei Infarktgefährdeten und Besuchern mit vorgeschädigtem Innenohr kann dies zu Gesundheitsschäden führen.“

Man kann den veränderten Sound auch Produzent Gareth Jones zuschreiben. Erstmals kamen Synthesizer hinzu und rudimentär wurden Samplings eingesetzt. Jones hatte ein Jahr zuvor das Album „Some Great Reward“ von DEPECHE MODE im gleichen Studio produziert, die sich ihrerseits bei „People are people“ am Sound der Neubauten bedienten. Die Band war zu dieser Zeit wohl dem Konsum von Speed nicht abgeneigt, was sich in der Songzeile „Fütter mein Ego“ im Song „Yü-Gung“ widerspiegelt. Es ist zugleich der erste Song, der nicht mit metallischem Lärm unterfüttert wurde. „Yü-Gung“ hat einen fast tanzbaren Grundrhythmus. Diesen lieferte das Hacken eines Rasiermessers auf einem Spiegel, um akustisch das Ziehen einer Line anzudeuten. Der Text behandelt die Egomanie und Paranoia, die sich beim Konsum von Speed entwickelt: „Niemals schlafen! Alles Lügen! Staubiges Vergnügen!“ Das Titelstück des Albums beginnt mit wechselndem Frauen- und Männergesang. „1/2 Mensch“ war das erste EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN-Album, bei dem die Texte abgedruckt waren, und markiert den Übergang von der „Geniale Dilletanten“-Phase hin zu einem Sound, der mehr als nur experimentelle Provokation darstellen sollte.