PUNK & RELIGION TEIL 10: MIGUEL CHEN, TEENAGE BOTTLEROCKET

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Wir sind die Autorität!

Nachdem in Ox #153 Kyaw Kyaw aus Myanmar als geborener Buddhist und Punk aus Neigung zu Wort kam, geht es jetzt in der kleinen Reihe zu Punk und Religion um den Buddhismus westlicher Prägung. Achtung, Spoiler: Einen theoretischen Abriss zum Buddhismus und zu buddhistischen Punks wird es im nächsten Teil geben. Miguel Chen aus Dallas, Texas ist Buchautor, Yogalehrer, Blogger ... und Bassist von TEENAGE BOTTLEROCKET. Damit ist er geradezu prädestiniert, um in dieser Interviewreihe zu Wort zu kommen. Zwischen den Aufnahmen für das neue TBR-Album und der Arbeit in seiner Yogaschule Blossom Yoga nahm er sich die Zeit, um über die Verflechtung von Glück und Mitgefühl und Donald Trump zu sprechen.

Miguel, wie bist du Buddhist geworden, war bereits deine Familie religiös?

Ich zögere ein bisschen, mich ausschließlich als Buddhist zu bezeichnen, weil meine Religion und meine Lebensphilosophie irgendwo zwischen buddhistisch, taoistisch und yogisch liegt. Ich stelle mir vor, dass mein Ziel Zen, Chan und Dhyana ist. Das bedeutet so viel wie Erleuchtung oder Einssein, obwohl ich mir auch nicht sicher bin, ob diese Bezeichnungen dem exakt gerecht werden. Meine Mutter war ein zutiefst spiritueller Mensch. Nach ihrem Tod begann ich, in alle Philosophien einzutauchen, von denen ich dachte, sie könnten mir helfen, mein Leiden zu lindern. Lange Rede, kurzer Sinn: Der Buddhismus, besonders der Mahayana-Buddhismus, war das Erste, das mir wirklich geholfen hat. Wenn du wirklich tief in diese Materie eintauchen möchtest, mein erstes Buch „I Wanna Be Well. How a Punk Found Peace and You Can Too“ erzählt alles darüber. Die Kurzfassung ist, dass ich etwas brauchte, das für mich einen Weg weit weg von Dogmen, Kirchen und geistigen Führern bot. Der Buddhismus öffnete mir die Tür, um Dinge für mich selbst herauszufinden.

In deinem Blog bezeichnest du dich als Musiker, Punkrocker, Buddhist und Yogi. Wie würdest du diese Rollen für dich persönlich gewichten?
Mittlerweile anders. In erster Linie sehe ich mich heute als Vater und Ehemann. Alles, was ich tue, ist darauf ausgerichtet, ein friedliches, ausgeglichenes Leben für meine Frau und Kinder zu schaffen. Ich praktiziere Buddhismus, unterrichte Yoga und spiele Punkrock. Der Kern von all diesen Dingen ist es, einen offenen Geist zu bewahren und anderen zu helfen. Ich habe schon vor vielen Jahren akzeptiert, dass ich nichts weiß, niemand tut das. Das Beste, was ich tun kann, ist, nach meinen Maßstäben authentisch zu leben und zu versuchen, anderen zu helfen.

Auf den ersten Blick scheint mir der Buddhismus im Vergleich zu anderen Religionen am meisten mit Punkrock gemeinsam zu haben: Glaube nicht deinen Lehrern, glaube nicht deinen Eltern, glaube nicht einmal mir, Buddha, denke selbst. Aber eine Sache verstehe ich nicht: Wenn der einzelne Mensch seine eigenen Entscheidungen treffen soll und für sein eigenes Leben verantwortlich ist, wie Buddha sagt – warum brauche ich dann überhaupt noch einen religiösen Glauben? Wenn der Mensch im Mittelpunkt steht, wird dann Religion nicht überflüssig?
Im Buddhismus geht es um die Wahrheit, es geht darum, sie selbst herauszufinden. Die Religion als solche ist von geringer Bedeutung, vielmehr geht es um die Wahrheit, die man selbst erfahren kann. Der Buddhismus ist einfach ein sehr effektiver Weg, Erkenntnisse über sich und die Welt zu erlangen. Ein wichtiger Grundgedanke ist die Idee, dass wir wählen können, ob wir uns auf einen Gedanken einlassen oder nicht. Wir können wählen, Gedanken und Verhaltensweisen zu kultivieren, die uns wahres Glück bringen. Dabei geht es keineswegs um ein kurzsichtiges Streben nach Vergnügen, sondern um eine tiefe, innere Freude.

„Du sollst du sein, ich soll ich sein, wir sollen wir sein. Für mich ist es das, was Punkrock ausmacht.“ Ein Zitat von dir, über das ich viel nachgedacht habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig interpretiere. Punk hat immer etwas mit Vernetzung und Kollektivismus zu tun, der Buddhismus eher mit der Verbesserung des Selbst, ähnlich wie die Freimaurerei. Buddhismus als Ideologie, Religion ist also eine sehr persönliche Sache im Gegensatz zu einer musikalischen oder politischen Bewegung wie Punk. Wie siehst du das? Gibt es Überschneidungen?
Punkrock und Religion sind beides sehr persönliche Dinge. Es ist einfach so, dass das, was wir als „Du“ und „Ich“ betrachten, nicht so getrennt ist, wie wir denken. Die meisten Punks sind irgendwann Punks geworden, weil sie nirgendwo anders hineinpassten, es war eine individuelle Reise. Und dann haben sie zufällig eine größere Gemeinschaft gefunden. Beim Buddhismus ist es genauso. Wir fangen an, weil wir allein sind, dann finden wir heraus, dass wir es nie wirklich waren.

Hast du eine Erklärung dafür, warum die buddhistischen Punks sich nicht zu einer Szene entwickelt haben, ähnlich wie die Krishnas oder die Christen? Immerhin gibt es zahlreiche Buddhisten in Bands, aber sehr wenige buddhistische Bands.
Es gibt ein Sprichwort mit sinngemäß folgendem Inhalt: Man praktiziert nicht den Buddhismus, um ein guter Buddhist zu sein, man praktiziert ihn, um besser zu werden in dem, was man schon ist. Buddhisten versuchen im Allgemeinen nicht, andere Menschen dazu zu bringen, den Buddhismus zu praktizieren. Er ist nicht missionierend. Wir versuchen meistens nur, unser Bestes zu geben und eine positive Kraft darzustellen.

Hardcore und Punk sind ursprünglich sehr subversive und größtenteils atheistische Jugendkulturen. Sie stellen Autoritäten in Frage. Wie passt das deiner Meinung nach zu Religion? Ist der Glaube an Gott oder eine höhere Macht nicht ein reines Abbild des Glaubens an eine Autorität?
Nur wenn du glaubst, dass Gott oder eine höhere Macht von dir getrennt ist, was ich nicht tue. Ich denke an Tao oder Gott oder das Universum als eine zusammenhängende Sache. Ich bin dieses Ich, bin dieses eine Ding, du bist dieses eine Ding. Wir alle zusammen sind „es“. Wir sind die Autorität, und doch kennen wir den Grund dafür nicht.

Gibt es irgendwelche Ideen im Buddhismus, die du ablehnst? Vielleicht aus einer Punkrock-Perspektive?
Es gibt bestimmte Sekten des Buddhismus, die eine Menge an Schnickschnack-Ritualen und Glaubensvorstellungen haben, an die ich nicht glaube, aber das ist ja auch der Punkt im Buddhismus: Du findest selbst heraus, was für dich funktioniert und was nicht. Es gibt beispielsweise Gruppen, die glauben, dass Frauen ein anderes Leben als dieses abwarten müssen, um Erleuchtung zu finden. Unnötig zu sagen, dass das Blödsinn ist.

Als Teenager lernte ich viel über Politik durch Bands wie DEAD KENNEDYS, PROPAGANDHI, THE CLASH oder GOOD RIDDANCE, das nicht in der Schule diskutiert wurde. Siehst du buddhistischen Punkrock als einen Weg zur Verbreitung buddhistischer Ideen?
Ich sehe Punkrock als einen Weg, um Freude zu verbreiten, was auch die grundlegende Botschaft des Buddhismus ist. Sei gut und tue Gutes. Das ist der Grund, warum TEENAGE BOTTLEROCKET immer auch auf alberne Botschaften setzen. Das Leben muss nicht so ernst sein. Ich versuche nicht bewusst, etwas anderes als Freude zu verbreiten. Ich möchte, dass meine Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt glücklich sind, wenn auch nur für einen Moment.

Du überträgst das Konzept der spirituellen Verbindung von Menschen auf konkrete politische Forderungen, wie eine allgemeine Gesundheitsversorgung und ein Grundeinkommen. Denkst du, dass der Buddhismus mehr Potenzial für konkrete politische Forderungen hat?
Ich denke, der Buddhismus fordert uns auf, füreinander zu sorgen, und die Politik sollte das Gleiche tun. Im Allgemeinen kommen alle Probleme von Spaltung, aus dem Vergessen, dass wir miteinander verbunden sind. Solange jemand anderes leidet, leiden wir in gewisser Hinsicht alle. Also ist das Beste, was wir tun können, ob in der Religion oder in der Politik, uns um alle Menschen so zu kümmern, als wären sie unsere Brüder und Schwestern.

Du sagst in deinem Blog: „Tatsächlich müssen wir uns aus yogischer Sicht zuerst um uns selbst kümmern, bevor wir anderen wirklich dienen können.“ Ich stimme dem zu. Auf der anderen Seite hat Punkrock immer viele gebrochene Persönlichkeiten und Künstler angezogen. Auch nihilistische Charaktere wie zum Beispiel POISON IDEA oder BLACK FLAG haben andere positiv beeinflusst, obwohl sie ein negatives Weltbild vermittelten.
Es liegt in unserer Natur, gut zu sein, also ja – wir können durchaus Gutes tun, ohne die Absicht zu haben. Indem wir unsere eigene Dunkelheit ans Licht und zum Ausdruck bringen, ermächtigen wir andere Menschen, das Gleiche zu tun.

Das Konzept der Verbundenheit aller Menschen ist ein zentraler Bestandteil des buddhistischen Glaubens. Ich formuliere jetzt bewusst überspitzt und naiv: Heißt das, Anne Frank und Adolf Hitler waren zu ihrer Zeit miteinander verbunden? Sind Donald Trump und ich das heute? Als Nicht-Buddhist ist dieser Punkt für mich schwer zu verstehen.
Das ist mit Sicherheit ein schwieriger Aspekt. Alles, was wir tun können, ist üben, unseren eigenen Hass und Zorn zu betrachten und zu sehen, wie wir damit zu größerem Leid in der Welt beitragen. Es ist leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Und es ist auch leicht, das zu werden, was wir hassen. Wir sind dazu aufgerufen, die absolut beste Version von uns selbst zu sein, sogar die Monster unter uns zu lieben. Denn wenn wir sie hassen, geben wir ihnen mehr Macht. Es klingt sicherlich sehr idealistisch, aber es ist ein Ideal, das wir alle anstreben können. Ich versuche, mir solche Menschen als Kinder vorzustellen, bevor sie aus irgendeinem Grund sehr gelitten haben. Jemand, der nicht leidet, kann keinen anderen verletzen, jemand anderem nicht wehtun. Also müssen wir auf einer gewissen Ebene Mitgefühl haben, sogar mit den Schlimmsten unter uns. Das soll nicht heißen, dass wir die andere Wange hinhalten sollen und sie mit ihren bösen Taten davonkommen lassen müssen. Es heißt nur, dass wir das Richtige tun und unser Mitgefühl im Auge behalten sollten.

Ich mag deinen Gedanken des Single-Tasking sehr, den du in deinem Blog erläuterst. Insbesondere deshalb, weil ich selbst zu ineffizientem Multitasking neige. Wie kamst du zu dieser Erkenntnis? Ist Single-Tasking eine ursprünglich buddhistische Idee?
Single-Tasking ist im Grunde nur ein anderes Wort für Achtsamkeit. Und die kommt tatsächlich aus dem Buddhismus. Die Idee ist, eine Sache komplett zu tun und sie dann loszulassen. Es sind nur moderne Begriffe für ein uraltes Konzept.

Während meiner Recherchen bin ich immer wieder dem Vorwurf der kulturellen Aneignung im Zusammenhang mit dem westlichen Buddhismus begegnet. Das Thema ist aufgrund der zeitgenössischen Identitätspolitik aktuell. Wie begegnest du diesem Vorwurf, wie würdest du ihn entkräften?
Ich würde sagen, es gibt einen großen Unterschied zwischen Integration oder Anerkennung einer Philosophie und ihrer Aneignung. Ich habe tiefen Respekt vor den Traditionen und der Geschichte des Buddhismus, Taoismus und Yoga. Ich ehre diejenigen, die vor mir gekommen sind. Nun ist es meine Aufgabe, die grundlegenden Wahrheiten dieser Lehren in einer Sprache darzustellen, die Menschen in meiner Reichweite verstehen können.