FAVEZ

In der Schweiz gibt es nur Käse, Milka-Kühe, Banken und gute Skifahrer? Pustekuchen, FAVEZ aus Lausanne beweisen, dass von dort auch hervorragende Musik kommen kann. Und was für welche!

Ich war wirklich restlos begeistert, als ich das neue Album von FAVEZ in die Hände bekam. So eine wundervolle Scheibe hatte ich von den Schweizern nicht unbedingt erwartet. Klar, ihr letztjähriges Debüt "A Sad Ride On The Line Again" war schon ziemlich klasse, aber nicht unbedingt sehr repräsentativ für die Jungs. Damals setzten sie sich in eine Kirche und nahmen zehn sehr traurige, rein akustische Tracks auf, die in ihrer sanften Melancholie manchmal ein wenig an RADIOHEAD erinnerten. Aber FAVEZ können auch unheimlich emotional rocken, wie "Gentlemen Start Your Engines" jetzt mehr als eindrucksvoll beweist. Denn selten zuvor habe ich eine solch emotionale und perfekt arrangierte Scheibe in den Händen gehalten. Ja, nennen wir das Kind ruhig beim Namen: Emorock! Oder von mir aus auch Emocore. Und zwar Emocore der besten Sorte!

Chris, der Sänger der Schweizer Ausnahmeband, hat mit dem Begriff "Emo" überhaupt keine Probleme, wie er mir gegenüber in einem Münchner Restaurant zugibt: "Mit dieser Bezeichnung kann ich leben. Ich mag es, wenn Emotionen im Spiel sind. Es ist cool, wenn immer mehr Hardcore-Bands nicht nur wie verrückt rumbrüllen und schreien, sondern auch singen, das erweitert nämlich das emotionale Spektrum der Musik ungemein." Nun hat sich die Emo-Szene nicht nur in den Staaten größtenteils auf kleinen, aber sehr feinen Independent-Labels wie z.B. Doghouse, Deep Elm oder Revelation entwickelt, wobei auch FAVEZ keine Ausnahme bilden. Chris ist der Independent-Status sehr wichtig: "Die Leute bei den großen Plattenfirmen haben doch keine Ahnung von guter Musik, denen geht es nur um die Kohle. Das sind gute Geschäftsleute, aber keine Musikliebhaber. Wir wollen keine Musik für Schlipsträger machen. Schau dir doch bloß mal an, was mit JIMMY EAT WORLD passiert ist, die haben bei Capitol zwei hervorragende Alben veröffentlicht, stehen aber jetzt kurz vor der Auflösung, weil sie angeblich zu wenig verkaufen."

Recht hat er. In den Staaten steht das Quintett aus Lausanne übrigens bei Doghouse Records unter Vertrag, während man in Deutschland bei Stickman bzw. Sticksister Records (u.a. MOTORPSYCHO) untergekommen ist. Wie sind Chris und seine musikalischen Mitstreiter zu diesen beiden feinen Labels gekommen? "Wir haben damals eigentlich nur zwei Exemplare des Akustikalbums verschickt - eine Platte an Stickman und eine Platte an Lumberjack, einen amerikanischen Vertrieb. Wir wollten sehen, ob die "A Sad Ride On The Line Again" in den Staaten vertreiben. Wollten sie auch, aber sie sagten auch, dass es eine Schande wäre, gerade mal 20 Stück ohne eine gescheite Plattenfirma im Rücken abzusetzen. Zufälligerweise befindet sich das Büro von Lumberjack im selben Gebäude wie Doghouse, so dass sie die Scheibe direkt an Doghouse weitergaben. Und zwei Wochen später hatten wir dann schon einen Plattenvertrag! Bei Stickman hat es sogar nur zwei Tage gedauert, bis wir einen Rückruf bekamen!" Das spricht für die Qualität der Band.

Doch kommen wir nun auf das neue Album zu sprechen. Was hat der Titel "Gentlemen Start Your Engines" genau zu bedeuten? "Mein Vater war Rennfahrer, der sogar in Le Mans gefahren ist. Deshalb haben wir auch das Le Mans-Coverartwork für die neue Platte gewählt. Und außerdem soll das füruns so eine Art Startschuss symbolisieren, nachdem das letzte Album sehr ruhig, langsam und traurig ausgefallen war. Die neue Platte kommt hingegen sehr rockig und aggressiv aus den Startlöchern." Aufgenommen wurde die neue Scheibe in Amerika, und zwar unter der Regie von John Agnello (u.a. THE BREEDERS, DINOSAUR JR, SCREAMING TREES), der Chris´ absoluter Lieblingsproduzent ist: "Wir sind eigentlich nur wegen John Agnello nach Amerika gegangen, weil der fast alle meine persönlichen Lieblingsplatten produziert hat. Aber er ist nicht nur ein genialer Produzent, sondern auch ein sehr lustiger und netter Mensch."

Die Produktion ist wirklich erstklassig, das kann ich nur bestätigen. Kann Chris einen speziellen persönlichen Lieblingssong auf der neuen Platte ausmachen? "Eigentlich habe ich drei Lieblingsstücke - das ziemlich poppige "Headed For The Ocean", bei dem ich den Chorus wirklich liebe. Außerdem mag ich auch noch "New In Colors" und "It Started Like This" sehr gerne." Eine gute Überleitung zu den Texten: Welche Bedeutung haben sie für Chris als Textschreiber? "Schwer zu sagen, sie entstehen immer sehr kurz vor der Produktion. Diesmal habe ich zwei Texte sogar erst einen Tag vor der Aufnahme geschrieben. Grundsätzlich haben die Texte bei FAVEZ einen nicht so hohen Stellenwert, wichtig ist in erster Linie, dass sie gut zur Musik passen. Und was die Inhalte angeht, stelle ich meist Monate später fest, dass sie doch meist eine tiefere Bedeutung haben, die mir im Moment des Schreibens gar nicht richtig bewusst waren." Verstehe ich zwar ehrlich gesagt nicht so ganz, aber was soll´s. Und was für Erwartungen haben FAVEZ nun mit ihrem kleinen Meisterwerk im Gepäck? "Wir haben eigentlich keine großen Erwartungen, wir wollen nur gute Musik machen." Was ihnen mit "Gentlemen Start Your Engines" zweifellos gelungen ist. Und live sind die Eidgenossen ohnehin eine Macht. Ich habe sie letztes Jahr im Vorprogramm von FIRESIDE gesehen, wo sie die vier Schweden glatt an die Wand gespielt haben.