Rebel Films

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Alltagsabenteuer in Mexiko City

Ganz ins kalte Wasser sind die beiden Hagener Sarah Möckel und Stefan Schulte nicht gesprungen, als sie sich im Januar zu einem einjährigen Mexiko-Aufenthalt aufmachten, um dort mit der Kamera Land, Leute, Musik und Kultur einzufangen. 2003 weilten die beiden bereits für einige Zeit in Mittelamerika, um den Film „Rebel Music“ (rebelfilms.de) über die Band PANTEÓN ROCOCÓ aufzunehmen, der ja durch viele Programmkinos und Konzert-Locations tourte. Doch ein Jahr alles hinter sich zu lassen und mal zu sehen, was sich so ergibt, das ist ja schon ein ganz schön mutiger Schritt. Doch lassen wir die beiden selbst von ihren bisherigen Erlebnissen berichten ...

20. Januar 2005
Dass man in Mexiko ist, merkt man schon direkt am Flughafen. Wie Kirmes ist das und chaotisch ohne Ende, doch trotzdem sehr sympathisch. Wir sind direkt mit dem Taxi weiter nach Guerrero, einem Ghetto im Zentrum von Mexico City, wo wir wohnen werden. Leider gibt es in unserer Unterkunft nur den Strom, der von einer Lampe im Hausflur abgekniffen wird, was für maximal zwei Geräte gleichzeitig reicht. Dafür können wir aber auf das Dach klettern und von dort die ganze Stadt sehen, hören und riechen. Bei wenig Smog erkennt man sogar den 70 Kilometer entfernten Vulkan. Wow, hier ist man wirklich mitten im Leben. Bei dem Weg durch die Stadt passieren dann auch ständig völlig verrückte Dinge am Straßenrand, doch trotz der Millionen Menschen, Autos und Busse lauft alles ganz entspannt. Irgendwie fast unvorstellbar. Zwei PANTEÓN ROCOCÓ-Konzerte haben wir in den ersten Tagen auch schon erlebt, was natürlich von der Stimmung her grandios war, gerade hier in ihrer Heimat.
Aber auch in den zweifelhaften Genuss eines Hahnenkampfes in einer extra dafür vorgesehen Arena sind wir schon gekommen. Also das muss man wirklich nicht gesehen haben, auch wenn es irgendwie schon interessant ist, wie die Verlierer-Hähne ihre Innereien wieder reingestopft bekommen und zugenäht werden. Das machen extra dafür bestellte Ärzte direkt neben dem Essensstand – wo es natürlich fast ausschließlich Huhn zu kaufen gibt ... Alles in allem geht es uns hier bislang super, wo wir weiter wohnen werden, wissen wir allerdings noch nicht genau, wir suchen noch ein bisschen oder bleiben hier im Ghetto und fangen langsam und nach zahlreichen Fiestas an, uns einzuleben und uns auf die Suche nach interessanten Filmthemen zu begeben.

30. Januar 2005
So langsam aber sicher haben wir uns nun eingewöhnt. Unsere Entscheidung, im Barrio Guerrero mit dem normalen mexikanischen Leben direkt vor der Hautür zu bleiben, hat viel dazu beigetragen. Der einzige Nachteil ist vielleicht, dass wir in der 5. Etage wohnen, denn man merkt tatsächlich doch die 2.300 Meter Höhe, in der Mexico City liegt. An manchen Tagen schaffe ich es kaum den Schlüssel in der Tür rumzudrehen, wenn ich oben bin. Aber die Übung macht’s und weniger rauchen ist ja auch nicht verkehrt. Etwas gewöhnungsbedürftig ist auch, dass das Haus ständig wackelt. Man sitzt hier und schaukelt durch die Gegend, da werde ich wohl noch eine Weile brauchen, bis mir das normal vorkommt. Aber das sind keine kleinen Erdbeben, sondern nur der Verkehr auf der Straße. Das große Erdbeben von 1985 hat das Haus überstanden, danach wurde eine Art Stoßdämpfer eingebaut, was es hier als Erbebenschutz in vielen höheren Gebäuden gibt.
Schön ist noch immer das Dach, von dem aus wir eine Übersicht über die ganze Stadt haben. Wir haben grade angefangen, es ein wenig zu bepflanzen, und auch ein Kolibri kommt öfters zu Besuch und sitzt bei uns. Allerdings muss man sich draußen auch an die Vielzahl von Gerüchen gewöhnen. Es gibt Tage, da stinkt es absolut pervers, geht man aber nur zwei Straßen weiter, riecht es dann nach den tollsten Früchten, die man sich vorstellen kann. Und noch ein paar Meter weiter wiederum liegt der Geruch des grandiosen mexikanischen Straßenessens in der Luft. In unserem Ghetto kommen wir mittlerweile ganz gut zurecht, wir kennen die Nachbarn, und alle Horrorstorys der Mexikaner über die Gefährlichkeit der Gegend haben sich bisher so gar nicht bestätigt. Bei Nacht weiter ins Ghetto hinein zu gehen, würde ich aber eher vermeiden, da es hier viele Alkohol- und Cracksüchtige gibt, und das ist ja doch mit Vorsicht zu genießen.
Manchmal sitze ich auch einfach stundenlang am Fenster und schaue mir das Treiben auf der Straße an. Was da alles so passiert, ist irre: Gegenüber ist ein Schreiner, der direkt an der Straße arbeitet, ständig veranstalten Leute spontane Grillpartys am Straßenrand oder versuchen nachts unauffällig an der Ecke ihren Müll zu entsorgen. Die Müllabfuhr ist hier ziemlich schwer zu erwischen, denn es kommt irgendwann erst ein Typ, der eine Glocke läutet, dann taucht ein paar Sekunden später der Müllwagen auf, und wenn man nicht auf zack ist, ist er auch schon weg. Und ständig gibt es Geschrei in der Straße, entweder weil jemand Wasser, Gasflaschen oder Essen verkauft, oder einfach nur, weil Besuch vor der Tür steht – denn Klingeln gibt es hier nicht.

25. Februar 2005
In unserem Barrio geht’s uns super. Und mit den Leuten hier kommen wir bestens klar, auch wenn es natürlich so bleiben wird, dass alle Leute uns hinterher sehen, und wir wohl noch immer als Fremde angesehen werden. Aber auch an diese Blicke gewöhnt man sich. Endlich haben wir auch angefangen, unsere ersten Filme zu drehen: einen über zwei ältere Männer hier im Ghetto, die eine Art Xylophon spielen, und eine Doku über das „Faro“, ein in Mexiko einzigartiges riesiges Kulturzentrum.
Das Zentrum ist auf einer alten Müllhalde in einem der ärmsten Viertel der Stadt entstanden, und ist mit den uns bekannten Kulturzentren gar nicht zu vergleichen. Geht es bei uns doch heutzutage fast in erster Linie ums reine Konsumieren, ist es hier eine tatsächliche Perspektive für die Leute in dem Stadtteil. Das Zentrum bietet jeden Tag Kursangebote von Malen über Plakat- und T-Shirt-Entwurf und -Druck bis hin zu Schrottkunst, Tischlerei, Töpfern und Tanz. Gleichzeitig sind auch ein Kindergarten und eine Drogenentzugsstelle integriert. Mittwochs findet in der Gegend der größte Markt in Mexico City statt. Natürlich ein Schwarzmarkt, aber dieser ist etwa zwölf Kilometer lang! Dort verkaufen die Menschen in erster Linie Müll und Schrott, alte Fernseher, Bügeleisen, Autoteile, Schuhe ... Ein sehr bizarres und surreales Bild, wenn man Straßen voll von Müll sieht, der für zwei bis fünf Pesos (eine Summe, die den Bruchteil eines Cents ausmacht) den Besitzer wechselt.
Über diesen Markt, der sich in ein Gebiet zieht, wo die Menschen sich aus Pappe Häuser bauen müssen, wollen wir gerne einen Film drehen, denn das ist eine Seite Mexikos, die sogar den meisten Mexikanern verschlossen bleibt, da sich auch hier die Medien lieber mit Glanz und Glamour beschäftigen, als mit den Problemen der Menschen im eigenen Land. Aber natürlich ist es nicht einfach, dort etwas zu machen, da sich selbst die Mitarbeiter des Kulturzentrums nur in großen Gruppen weiter ins Innere des Stadtteils wagen. Aber es gibt wohl einen Markt-Chef, zu dem wir Kontakt aufnehmen werden. Da es sich um einen Schwarzmarkt handelt, könnte man den wohl auch eher als einen Mafia-Boss bezeichnen, da das Geschäft mit Müll in Mexiko wahrscheinlich mit einem Geschäft mit Gold in anderen Ländern zu vergleichen ist. Man hat uns sogar schon zwei Polizisten als Schutz bei unseren Dreharbeiten angeboten, was wir natürlich dankend ablehnten. Die Märkte hier scheinen hier aber wohl alle in mafiösen Strukturen organisiert zu sein, denn es gibt auch in der Innenstadt alles zu kaufen, von raubkopierten Computerprogrammen, CDs und DVDs, harten Pornos bis zu lebenden Tiere und nachgemachten Jeans, Parfüms und Uhren gibt es einfach alles. Selten habe ich etwas so Kontrastreiches gesehen wie diese Stadt. Man steigt in die Metro, und wenn man nach wenigen Stationen aussteigt, befindet man sich schon wieder in einer anderen Welt, obwohl all das zu Mexico DF gehört.

1. März 2005
Wir waren beim Lucha Libre, dem berühmten mexikanischen Ringkampf. Der Ort des Geschehens ist eine Arena für ca. 3.000 Menschen und in der Mitte nicht mehr als ein kleiner Boxring und eine Treppe für den Aufgalopp der Luchadores (Wrestler). Seinen Sitzplatz zu finden, ist trotz einer Nummer auf der Karte schon ein wenig abenteuerlich. Als ich meinen Platz mit der Nummer 87 endlich hatte und dann mich umdrehte, sah ich auf allen Stühlen bis mindestens zehn Reihen hinter mir auch eine 87. Zum Glück kam irgendwann ein Platzanweiser, der aber das System wohl auch nicht ganz durchblickt hatte, und mich ratlos einfach ein paar Reihen weiter vorne platzierte. Die ganze Arena wirkte noch ziemlich trostlos und nichts deutete auf das atemberaubende Ereignis hin, das uns erwarten würde. Anderthalb Stunden noch bis zum ersten Kampf: ein Zwei-gegen-zwei-Match, in dem uns illustere Kämpfer wie Sombra de Plata, Valiente, Koreana und Loco Max erwarteten. Langsam aber sicher füllte sich die Arena – vor allem mit Essensverkäufern, den wichtigsten Menschen bei mexikanischen Großereignissen. Es macht den Eindruck, als hätten die Mexikaner keinen Spaß an Veranstaltungen, bei der sie sich nicht mit Chips, Tacos, Pizza, Cerveza, aber auch kleinen Schweinereien wie Speckschwarten in Scheiben, mit viel Chilisoße und Pulver verfeinert in einem Plastikbecher serviert, vollstopfen könnten.
Nun lief auch langsam die Merchandise-Maschinerie an. Masken in allen möglichen Farben und Größen, für Kinder, Erwachsene und wohl auch für Hunde und Katzen und sonstige Haustiere, von der Größe der Masken her zu schließen. Masken gehören zum mexikanischen Lucha Libre einfach dazu, fast jeder Luchador trägt eine im ganz eigenem Stil, mal witzig bunt wie ein Clown, mal Furcht einflößend im Stile von SLIPKNOT. Beim Pinkeln kann dann auch eine Begegnung mit einem begeisterten Lucha Libre-Fan schon einen kleinen Schreck verursachen, da sich das Publikum gerne direkt nach dem Kauf der Maske ihres Lieblings mit dieser schmückt. Dann, langsam, aber sicher, fing die Stimmung an zu brodeln. Fanfaren, laute Musik, kreischende Familien ... Leicht bekleidete mexikanische Frauen erschienen auf der Startreppe, jede mit einem Luchador an der Hand, und nach einer kurzen Vorstellung stiegen sie unter johlendem Gebrüll und Gepfeife in den Ring. Und allein der Schiedsrichter war den Abend schon Wert. Ich würde ihn so auf 75 Jahre schätzen, ziemlich klein und schmal und ausgerüstet mit einem Riesenbuckel.
Ohne lange zu fackeln, hauten jetzt die Luchadoren aufeinander ein, für nicht gelernte Lucha Libre-Besucher ist es schwer, die Gegner auseinander zu halten. Fette Körper klatschen zusammen, wirbeln durch den Ring, knallen auf den Boden und fliegen direkt in die ersten Reihen des Publikums, worauf ich mich entschloss, mir einen weiter hinten liegenden Sitz mit der Nr. 87 zu suchen. Es ist bestimmt kein wirkliches Vergnügen, wenn so ein Hundert-Zentner-Luchador kopfüber in deinen Schoß fliegt. Natürlich hat das Publikum seine Lieblinge und je länger der Kampf fortschritt, umso mehr stieg die Stimmung. Wer dann letztlich gewinnt, ist aus rein sportlichen Gründen nur schwer nachzuvollziehen, oft entscheidet der Schiedsrichter willkürlich nach Sympathie, andere Kämpfe gehen außerhalb des Rings einfach weiter.
Wichtig bei einem Besuch des Lucha Libres ist es auch, mexikanische Schimpfwörter zu beherrschen, die dann unter großem Gejohle und Gelächter der umliegenden Reihen ins Publikum gerufen werden. Was allerdings auch schon mal dazu führen kann, dass es, angetrieben von der wilden Stimmung, die die Luchadoren verbreiten, zu kleinen Handgreiflichkeiten und den ersten Ringversuchen des Publikums kommt. Aber so oder so sind wir heute Lucha Libre-Fans geworden und kennen sie jetzt alle, egal ob Shocker, Dr. Wagner, Super Porky oder El Hijo de Santo.

4. April 2005
Eigentlich ja gerade erst zwei Monate in Mexiko, bekamen wir eine Einladung der Band KULTUR SHOCK, nach Seattle zu fliegen, um einen Dokumentarfilm über sie zu drehen. Seattle, oh je, war das nicht in diesem Land, wo wir uns geschworen hatten, solange die Leute nicht mal schlauer wählen, keinen Fuß hinein zu setzen? Also zwei, drei Mal kräftig geschluckt, die wirklich am längsten getragenen, stinkigen Socken angezogen und los ging es zum Flughafen. Ein bisschen Spaß muss ja auch sein, wenn wir an den Sicherheitskontrollen viermal die Schuhe ausziehen müssen. Nach der Abnahme unserer Fingerabdrücke, eines Iris-Fotos, der Schuhkontrolle und der Feststellung, dass es sich wohl nicht um eine Schuhbombe, sondern eher um Biowaffen handelt, wurden wir als nicht El Qaida zugehörig erkannt und im Land der unbegrenzten Möglichkeiten willkommen geheißen. Die Grenzen waren dann aber schon beim ersten Kaffee in Seattle ziemlich schnell klar, ein scheiß Wetter und rauchen darf man in jedem Restaurant oder Café nur draußen im Regen. Aus Gesundheitsgründen und zum Schutz der anderen Gäste. Dass jeder pubertäre 18-Jährige dafür schon mit einer Knarre rumlaufen darf, stört hingegen niemanden. Na ja, außer vielleicht die Familien der ca. zwanzig Opfer der Schulmassakers, das an unserem Ankunftstag stattfand.
Bei Seattle denkt man ja eigentlich an NIRVANA, PEARL JAM und Konsorten, aber die Stadt ist einfach öde. Natürlich, es gibt eine ausgeprägte Club- und Konzertszene, da kann man sich nicht beklagen, aber als wir nach anderthalb Stunden Fußmarsch abends in eine Kneipe kamen, mit Durst über beide Ohren, wurden wir leider nicht bedient, da wir unsere Reisepässe nicht dabei hatten, und man als unter 21-Jährige abends nicht mehr in Discos, Cafés oder Kneipen darf. Ich bin mir jetzt nicht so sicher, ob ich das nun als Kompliment der Kellnerin ansehen soll, dass sie mich als unter 21 einschätzte, das ist ja nun doch schon einige Jährchen her ... Jetzt sind wir auch glücklich, wieder in Mexiko angekommen zu sein und stellen gerade den Film über KULTUR SHOCK fertig, damit diese den ab Mitte Mai auf Deutschlandtour mitnehmen können.

14. April 2005
Mann, wie die Zeit vergeht, und eine längere Mail zu schreiben fällt momentan echt schwer. Wir hatten zwischenzeitig unsere Wohnung auf Vordermann gebracht, da kam gestern die Schreckensmitteilung, dass wir ausziehen müssen! Aber wir haben Glück im Unglück und innerhalb von zwei Stunden direkt eine neue Bleibe gefunden. Und das in einem Land, wo eigentlich alles sehr langsam geht. Doch jetzt beginnen alle Probleme von vorne. Woher bekommen wir Tische, Stühle, Kochplatten? Alles Dinge, die in Deutschland sehr einfach zu regeln sind, hier aber eine kleine Ewigkeit in Anspruch nehmen. Dafür entwickeln sich unsere Filmarbeiten hervorragend, liegen aber gerade ein wenig auf Eis. Ansonsten haben wir mittlerweile fast soviel Arbeit wie zu Hause und sehen viele Dinge jetzt auch schon lockerer als am Anfang. Außerdem sind wir zu der Erkenntnis gekommen, dass das Land und die Stadt für ein, zwei Jahre sicher sehr interessant sind, es uns wohl aber auch absolut nichts ausmacht, wenn wir die Zeit, die wir uns hier vorgenommen haben, nicht ganz durchhalten werden. Gerade für Frauen ist die Situation hier aufgrund des permanenten Machismo nämlich nicht gerade einfach ...

14. Mai 2005
PANTEÓN ROCOCÓ feiern ihr zehnjähriges Bestehen und wir sind live und hautnah dabei! 15.000 Menschen haben sich im Faro del Oriente eingefunden, einem Kulturzentrum in einem der härtesten Stadtteile Mexico Citys, Iztapalapa – dort, wo jeden Mittwoch auf zig Kilometern Länge der größte Müllmarkt Lateinamerikas stattfindet. Heute Abend allerdings steht hier eine riesige Open-Air-Bühne, die mit sieben Meter hohen Skeletten geschmückt ist. Die Panteóns geben alles, sämtliche Hits der letzten zehn Jahre, Tanzeinlagen von Indigenas auf der Bühne, Feuerwerk, Samba, Trommelgruppen, Filmschnipsel ... Alles in allem eine würdige Geburtstagsfeier, die die bedeutende Position der Band in Mexiko widerspiegelt.

31. Mai 2005
Nach dem wochenlangen Eingeschlossensein, um den Film über KULTUR SHOCK fertig zu bekommen, stehen wir jetzt wieder mitten im mexikanischen Leben. Und jetzt merkt man erstmal, was alles so los ist. Bei der ganzen Nachtarbeit war mir gar nicht richtig aufgefallen, dass sich unser neues Zuhause zwischen zwei riesigen Baustellen befindet, die einem das Schlafen manchmal unmöglich machen ... und dazu noch lebensgefährlich sind. An der einen, unmittelbar neben unserem Haus, sind jetzt schon zweimal aus der fünften Etage des Neubaus komplette Seitenwände runtergestürzt. Die haben zum Glück aber bislang nur parkende Autos in Schutt und Asche verwandelt. Ein Erdbeben möchte ich hier echt nicht erleben, die Bauqualität lässt doch etwas zu wünschen übrig ...
Dazu wohnen wir noch an einer Straße, die direkt zu einer der wichtigsten Kirchen der Stadt, der Basilika Guadalupe, führt. Mittlerweile fallen mir beim morgendlichen Brötchenholen irgendwelche Fackelzüge und in weiße Fahnen gehüllte Menschen, die Marienstatuen vor sich tragen, kaum noch auf. Und auch Menschenmengen, die bei ihren Prozessionen riesige Feuerwerkskörper zünden, übersieht man irgendwann. Aber es gibt auch irgendwelche Religions-Spinner, die tatsächlich meinen, auf den Knien zur Basilika kriechen zu müssen, und das irritiert dann doch schon ein wenig.
Ansonsten erforschen wir gerade die 45 mal 25 Kilometer große Stadt, immer auf der Suche nach neuen Filmthemen, und ich bin mir sicher, dass wir einen sehr ungewöhnlichen und bunten Mexico-City-Film hinbekommen. Sarah treibt sich, auf der Suche nach Praktikumsplätzen, mittlerweile schon im Fernsehen rum, und morgen läuft eine Seifenoper, in der sie eine Touristin spielt ...
Einen Radioauftritt zu unserer Arbeit haben wir auch schon erfolgreich gemeistert, es läuft also alles super. Obwohl es nach wie vor noch sehr schwer ist, sich hier richtig zu Hause zu fühlen, da jedes Mal Rausgehen, und wenn nur zum Zigarettenholen, ein kleiner Auftritt ist. Ich erwische mich dabei, dass ich jedes Mal vorher in den Spiegel schaue – aber das macht man wohl automatisch, wenn man weiß, dass man fast immer wie ein Außerirdischer begutachtet wird. Man hört die Hirne der Menschen förmlich rattern, wenn sie sich fragen, was um alles in der Welt dieser Typ hier wohl macht. Das Leben hier als Ausländer ist wohl eher was für Mediengeile oder Schauspielschüler. Wer mit diesen Blicken klarkommt, dem ist kein Publikum mehr zu hart.

1. Juni 2005
Unsere Filmarbeiten gehen zügig voran. Heute haben wir einen Film über einen Schrott-Kunst-Recycling-Künstler gedreht. Er hat ein Grundstück mitten in der Stadt, was von weitem aussieht, als wäre es einfach mit Müll zugestellt. Erst nach genaueren Erklärungen und genauem Hinsehen erkennt man den künstlerischen Teil. Seine Wohnung hat er sich komplett aus Müll zusammen geschustert – mit Balkon, Waschmaschinenbullaugen als Fenster und Kloschüsseln als Außenwände. Aus alten Autoreifen bastelt er Taschen, hält sich eine Schmetterlingszüchtung, für die er schon drei Monate ins Gefängnis musste, und bastelt Bilder aus Reis und Marihuana.

12. Juni 2005
Unser Vermieter prahlt gerne mit seinem Handylogo, das ihn mit seiner 45er Magnum zeigt. Na ja, er ist trotzdem ganz okay, denn wann passiert es einem in Deutschland schon, dass man direkt nach dem Einzug vom Vermieter zur Geburtstagsparty von dessen Tochter eingeladen wird? Außerdem hat er die Marotte, jeden Freitagabend mit seiner gesamten Familie und einer Kiste Bier bei uns vor der Tür zu stehen, um sich selbst einzuladen. Gewöhnungsbedürftig, aber auch ganz witzig.

4. Juli 2005
An das Chaos, den Verkehr, die allgegenwärtigen Kampfhunde und alles Mögliche hab ich mich wirklich so langsam gewöhnt. Und dass man sich wehren muss, um nicht einen Handkuss von einem Taxifahrer zu bekommen, wenn dieser herausfindet, dass wir aus dem Land des Papstes stammen, ist mittlerweile auch kein Problem mehr. Unangenehm ins Auge stechen allerdings immer noch die zahlreichen Reichskriegsflaggen, Hitler-Bücher und -Videos an vielen Marktständen. Eine stundenlange Diskussion mit Verkäufern von diesem Scheiß brachte dann folgende Erkenntnis an den Tag: Es gibt hier Leute, die sich mit der deutschen Geschichte tatsächlich sehr gut auskennen, T-Shirts mit deutschsprachigen Schriftzügen wie „Arbeit macht frei“ drucken lassen – es dann aber gar nicht gut finden, dass wir uns als Deutsche dauerhaft in Mexiko aufhalten. Was sagt man dazu?! Verpeilte Menschen gibt es einfach überall.

15. Juli 2005
Unser Vorhaben, einen eineinhalbstündigen Film mit dem Titel „Mexico City Short Stories“ zu verwirklichen, stellt sich als wirkliche Herausforderung dar. Wir schleichen ständig durch finstere Viertel und Ghettos auf der Suche nach interessanten Geschichten. Dabei bekamen wir heute einen ziemlich ekligen Einblick in einen so genannten „Busurero“, einen Müllmarkt. Hier wird nicht nur an den „normalen“ Ständen Müll und Schrott verkauft, auch Essenstände bieten „Second-Hand-Fleisch“ an. Die Menschen sammeln abgelaufenes Flugzeug-Essen, das „frisch“ ja schon unerträglich ist, oder besorgen sich das bei McDonalds weggeschmissene Fleisch aus deren Mülltonnen, um es dann für Burger und Hot Dogs zu verwenden. Zum Glück hat uns das eine Frau am Marktstand rechtzeitig erzählt, und wir haben dann doch lieber abends zuhause gekocht ...

22. Juli 2005
Unser nächster Dreh führte uns nach Tepito, einem Stadtteil, der als gefährlichster innerhalb von Mexico DF gilt. Unsere Idee ist es, eine Kurzdoku über drei Menschen zu machen, die einen besonderen Bezug zu den Traditionen des Ghettos haben. Zunächst wäre da ein durchgedrehter Maler, bei dem der Besuch schon ein Abenteuer für sich war. Neben diversen Bierchen, Tequila und Mezcal braucht er mindestens zwei Gramm Koks am Tag, um sich künstlerisch voll zu entfalten. Das sorgte allerdings auch für einige Probleme beim Interview – nach zehn Minuten war er so voll, dass wir wohl das eine oder andere werden nachdrehen müssen.
Drogenbeschaffung ist in diesem Stadtteil übrigens kein Problem, da sich hierhin eh nur Polizisten trauen, die direkt am Handel beteiligt sind. Tepito steht aber nicht nur für Drogen, sondern auch für Musik. Aus diesem Teil der Stadt kommen sehr viele Musiker, traditionelle Mariachis, Hip-Hop-Crews oder Soundsystems und auch der Lucha Libre hat hier seinen Ursprung.

30. Juli 2005
Heute wollen wir hinter die Kulissen der CD-Piraterie schauen. Es ist nicht einfach, die entsprechenden Kontakte zu finden, denn die meisten Leute lassen sich hier nur ungern filmen. Durch einen Kontakt bekamen wir aber schließlich Einblick in die Hinterhöfe des Marktes, wo in Privatwohnungen die Raubkopien hergestellt werden. Neben der Küche und dem Schlafzimmer gibt es einen Raum voll mit Computern, wo in einer Stunde 150 Kopien produziert werden können. Ein anderer Raum ist voll mit leeren CDs und Covern, die hier alle zusammengebastelt werden. Der Preis für eine Raubkopie schwankt von 30 Cent für mexikanische Künstler bis zu 60 Cent für ausländische Bands. Gleichzeitig werden hier alle nur erdenklichen Filme als DVDs kopiert, meist noch vor Kinostart.

10. August 2005
Der letzte Tepito-Film ist in Arbeit. Heute geht es zu einer Heiligen-Statue, der St. Muerte. Sie steht für den Totenkult in Mexiko und zeigt eine Skelettfrau mit einer Waage in der Hand. In einer unscheinbaren Straße mitten im Ghetto hat eine Frau vor etwa vier Jahren diesen Schrein für sie errichtet. Dieser Kult entwickelt sich mittlerweile zu einem echten Problem für die Katholische Kirche, so dass die Regierung versucht ihn zu verbieten. Während wir ein Vorgespräch mit der Frau führen, die die Statue errichtet hat und daneben einen kleinen Merchandise-Stand mit Totenköpfen und Skelett-Figuren betreibt, nähern sich der Statue immer wieder finstere Gestalten. Diese stellen als Opfergaben Geld, Tequila, Bier oder Zigaretten vor den Schrein und beten. Eine besondere Gabe ist es, St. Muerte mit Zigaretten- oder Zigarrenrauch anzupusten. Alles etwas strange. Am 31. Oktober gibt es ein großes Fest mit 6.000 Personen, das wir auf jeden Fall filmen wollen. Die ganze Straße ist dann voll mit Kerzen, Blumen, Bier, Tequila und riesigen Torten mit Skeletten drauf.

15. August 2005
Unsere Mexiko-Reise neigt sich zumindest vorübergehend dem Ende zu. Zum Arbeiten geht es Ende August für zwei Monate nach Deutschland zurück, bevor wir zwei weitere Monate zur Fertigstellung des Films wieder hier in Mexiko verbringen werden. Nur schwer können wir uns gerade den Wechsel vorstellen, ohne diese Farbenpracht und das Leben auf den Straßen. All diese Dinge, die man hier täglich sieht und die einem auch nach sieben Monaten noch sehr unwirklich vorkommen, werden uns mit Sicherheit trotzdem sehr fehlen.