ALEXANDER HACKE

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Brückenbau(t)en

Alexander Hacke, Jahrgang 1965, ist seit 1983 Mitglied von EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, war einst Mitglied von CRIME AND THE CITY SOLUTION, spielte immer wieder mal für befreundete Musiker und Bands Gitarre und produzierte das eine oder andere Album. Darüber hinaus war er für die Musik von Fatih Akins Film „Gegen die Wand“ verantwortlich und erforschte mit Akin für „Crossing The Bridge“ die Musikszene Istanbuls. Nur ein Solo-Album gab es von ihm nie – bis jetzt. Im Mai erschien „Sanctuary“, sein Debüt, auf dem er sich für elf Songs Hilfe von Freunden wie J.G. Thirlwell, Vinnie Signiorelli, David Yow, Chrislo Haas, Caspar Brötzmann oder Gianni Nannini holte. Entstanden ist ein facettenreiches, faszinierendes Album, das weit von den Neubauten entfernt ist. Hacke beantwortete mir via E-Mail ein paar Fragen.

Ich habe heute morgen noch die DVD-Neuauflage der Videoversion von „1/2 Mensch“ gesehen, und der Weg von da bis zu „Crossing The Bridge“ scheint mir ein sehr weiter zu sein. Kannst du diese Entwicklung erklären, erläutern?
Zunächst einmal liegen zwischen den Aufnahmen von „1/2 Mensch“ in Tokio und der Arbeit an „Crossing The Bridge“ in Istanbul 20 Jahre. Ich denke, eine gewisse Offenheit fremden Kulturen gegenüber war für das Entstehen beider Filme durchaus angebracht, wobei sich natürlich „1/2 Mensch“ weitaus weniger um Japan schert als „Crossing ...“ um die Türkei. Das Aufeinandertreffen verschiedener Menschen und die Reibung, die dadurch entsteht, hat in beiden Fällen nicht nur den Reiz bei der Herstellung ausgemacht, sondern überträgt sich auch für den Zuschauer.

Wo siehst du Parallelen zwischen dem künstlerischen Extrem, an dem du mit gerade 20 beteiligt warst, und den teilweise sehr jungen Musikern, die Fatih Akin und du im Film porträtieren?
Auch hierbei handelt es sich um wenig kompromissbereite Künstler, die ihren Weg unbeirrbar verfolgen. Auch hat mich die Solidarität der Musiker in Istanbul untereinander angenehm überrascht. Eine Qualität, die mir hier weitgehend verloren gegangen zu sein scheint.

Ist es konstruiert, Berlin Anfang/Mitte der Achtziger und Istanbul jetzt irgendwie zu vergleichen? Eine Stadt als Fluchtpunkt für Kreative, für die das Land sonst noch nicht reif ist?
Nein, ich glaube das trifft es ganz gut. Allerdings kenne ich keine andere türkische Stadt. So wie Berlin damals durchaus ein besonderer Ort war, ist es Istanbul im Moment.

Bei den porträtierten Bands/Musikern aus Istanbul habe ich persönlich „richtigen“ Underground, wie man ihn hier so kennt, vermisst: seltsame Elektronikbastler, ultraschnelle Todesmetaller, Fetisch-Goth-Rocker und was weiß ich noch alles. Oder ist das heute Mainstream? Warum eure Auswahl?
Nun ja, viele sind nicht berücksichtigt worden, sonst wäre das auch eher eine Fernsehserie geworden. Diverse, wirklich große türkische Künstler kommen gar nicht vor wie: Bülent Ersol, Zeki Müren – übrigens beides Transsexuelle – oder Cem Karaca. Metal und Hardcore gibt es da natürlich auch, und ich habe mich ordentlich eingedeckt. Elektronik ist wirklich erst ganz langsam am kommen und Goth-Bands finde ich meistens nur unfreiwillig komisch. Wir mussten uns entscheiden. Es ging ja auch nicht darum, einen umfassenden Überblick zu vermitteln, sondern eher ein Gefühl zu übertragen.

Von der angeblich zweitgrößten türkischen Stadt Berlin in die größte, Istanbul – ein weiter Weg? Inwiefern ist „Crossing The Bridge“ auch politisch zu verstehen, oder ist das völlig losgelöst von der Zuwanderungs- und Integrationsdebatte zu sehen?
Wenn Idioten wie zum Beispiel RAMMSTEIN behaupten, ihre Faszination von totalitären Bildwelten rühre von rein ästhetischen Gesichtspunkten her, machen sie sich damit nur umso politischer. Nur sind sie zu dumm, das zu erkennen. Wenn ich also sage, dass mich hierbei nur die Musik interessiert, unterstreicht das natürlich den politischen Kontext und die konservative Haltung der Türkei gegenüber, die stumpfen Äußerungen von Unionspolitikern und der ganze Diskurs darum sind somit auch die beste Promotion für so einen Film.

Und noch ein (vermeintlicher) Gegensatz: Bevor ich mich so circa 1984 für Punk und EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN zu interessieren begann, hörte ich auch Gianna Nannini. Und jetzt finde ich diese Dame als Gastsängerin auf deinem neuen Album. Wie geht das zusammen?
Ich kenne und schätze Gianna seit Mitte der 90er Jahre. Ich habe auch mal eine Weile in ihrer Band gespielt und für „Dispetto“ bei den Aufnahmen mitgewirkt. Sie ist wie alle anderen Musiker auf „Sanctuary“ eine gute Freundin von mir. Natürlich kann eine italienische Pop-Ikone nicht ganz so einfach alle Dinge tun und lassen, wie sie möchte. Schließlich ist ein ganzer Konzern mit vielen Existenzen von ihren Entscheidungen abhängig, aber Gianna ist sehr interessiert an vielen Arten von Musik, zum Beispiel ein großer Fan von Steve Albini-Produktionen. Aber in erster Linie ist sie eine der charismatischsten Sängerinnen, die ich kenne. Sie hat eine übermenschliche Präsenz, nicht nur auf der Bühne und ist sowieso ein toller Mensch.

Die anderen Gäste und Mitmusiker deines Albums entstammen dann schon eher dem musikalischen Kosmos, mit dem man dich in Verbindung bringt. Willst du etwas zum Album und seinem Entstehungsprozess erzählen?
Ich wollte eine Platte aufnehmen, so wie ein Filmregisseur ein so genanntes Road Movie machen würde. Das heißt, es gibt kein fertiges Script, der Film wird mit minimalem technischen Aufwand während einer Reise hergestellt und die Personen, denen man auf dieser Reise begegnet, werden als Charaktere in die Handlung eingearbeitet. So bin ich auch losgezogen mit einem portablen Studio – wie auch bei „Crossing The Bridge“ –, habe Freunde besucht, mit ihnen musiziert und das Material auf dem Weg zum nächsten oft komplett verwurstet.

Erschienen ist die Platte auf KoolArrow, dem Label von Billy Gould. Wie kam dieser Kontakt zustande, und gab es tatsächlich kein hiesiges Label, das sich interessiert gezeigt hätte?
Billy kenne ich noch aus seiner FAITH NO MORE-Zeit, aber wir hatten uns fast zehn Jahre aus den Augen verloren. In Mexiko bin ich auf die Band BRUJERIA aufmerksam geworden und im Zuge der Recherche, wer das denn eigentlich ist und wo sie veröffentlicht werden, bin ich auf KoolArrow gestoßen. Speziell der mit „Philosophy“ betitelte Teil der Website hat mir sehr zugesagt. Erst bei der Unterschrift habe ich festgestellt, dass ich den Labelchef ja kenne, und so habe ich ihn dann kontaktiert und der Rest ist bekannt. Wahr ist allerdings, dass mich das Gerede der meisten Pappnasen, die ich mit „Sanctuary“ angesprochen habe, sehr gelangweilt hat. Insbesondere die Absage von Mute, mit denen mich ja durch die Neubauten eine langjährige Geschichte verbindet, hat mich sehr enttäuscht. Aber das ist der Lauf der Welt und die Feiglinge und Deppen haben den Laden längst übernommen.

Was für Musik ist für dich heute herausfordernd, interessant, neu, extrem?
Auf KoolArrow gibt es eine Band namens KULTURSHOCK, die ich großartig finde. THE STREETS sind sehr amüsant. WOVEN HAND ist toll. THE TIGER LILLIES natürlich, und vieles mehr, aber normalerweise setzt mein Gedächtnis bei der Frage erstmal eine Weile komplett aus.

Welche alten Bands hörst du gerne noch?
Well, ZZ TOP, SLAYER, alte Country- und Bluegrass-Sachen, SUICIDE, STOOGES und so weiter und so fort.

Im August lief in Berlin ein Projekt an namens „Berge des Wahnsinns“, eine Umsetzung von H.P. Lovecraft-Motiven. Kannst du das erläutern?
Die Künstlerin Danielle de Picciotto – die auch für das Artwork von „Sanctuary“ verantwortlich ist und die Visuals auf der Tour im November ausrichten wird – und ich sind gefragt worden, uns für das zehnjährige Bestehen der Berliner Arena ein Programm auszudenken. Als Fans der TIGER LILLIES, deren Musik ich schon immer mal mit elektronischen Klängen kombinieren wollte, haben wir als thematischen Überbau die „Berge des Wahnsinns“ entwickelt und mit großem Erfolg dort uraufgeführt. Eine DVD der Show ist in Vorbereitung und natürlich werden wir das Programm im nächsten Jahr an vielen Plätzen nicht nur in Deutschland spielen.

Was sind deine aktuellen Pläne und Vorhaben?
Am 8.10.05 machen Danielle und ich eine Performance im Museum Oldenburg zum Thema ‚Geschichte der Elektrizität‘ und ab November werden wir „Sanctuary“ live umsetzen, mit illustren Gästen und mit Sicherheit auch in deiner Nähe.