Thank God It's Thursday!

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Ein Szenebericht aus Tel Aviv

Ich war ungefähr vor einem Jahr zum ersten Mal in Tel Aviv. KOMMISSAR X aus Dresden haben mit ein paar israelischen Hardcore-Bands gespielt. KOMMISSAR X fand ich echt gut - richtiger Unfug und Blödsinn, und sie haben gerockt. Aber mein erster Eindruck war, dass es fast nur Hardcore in Israel gibt, und zwar politischen Hardcore mit veganem Essen und Broschüren über Anarchismus am Eingang. Diesmal habe ich drei Monate in Tel Aviv verbracht unde meine Theorie wurde widerlegt. In der Tel Aviver Rock'n'Roll-Szene geht's nicht immer um Politik. Manchmal ist die Musik doch wichtiger ...


Jetzt muss ich doch erklären, dass es in dieser Reportage im Prinzip nur um die Szene in Tel Aviv geht. Andere Städte haben auch Musikszenen, aber die von Tel Aviv ist die Größte. In Jerusalem geht es mehr um elektronische Mucke, besonders Trance, eine Musikrichtung, die in Israel seit Jahren sehr beliebt ist. Ich bin ein paar Mal in Jerusalem ausgegangen, und Jerusalem und Tel Aviv sind wie Tag und Nacht. Obwohl es auch Clubs und Kneipen in Jerusalem gibt, gibt es in der Stadt sehr viele Gläubige (wie in Kansas City, meiner Heimatstadt, aber das sind eher christliche Fundamentalisten). Überall sieht man orthodoxe Juden, Kopftücher und Männer, die das auch in Deutschland beliebte Palituch auf den Kopf tragen. Am Wochenende stehen Polizisten an jeder Straßenecke. In Jerusalem könnte ich nie wohnen, aber Tel Aviv ...

Mit der Zeit habe ich in Tel Aviv echt talentierte Bands live gesehen und kennen gelernt, so viel, dass ich nicht dazu kam, manche Bands richtig zu interviewen. Neben den Übersetzungen, die ich hier bereits gemacht habe, hatte ich eigentlich keine Zeit mehr. Es war wie die Domino-Theorie oder wie ein positiver Teufelskreis. Ein Onkel von mir hat mir mal gesagt: "Gute Probleme gibt es auch, mein Junge."

USELSESS ID ist die bekannteste Punk- oder "Underground"-Band aus Israel. Auch Ofra Haza (R.I.P.) darf man auch nicht vergessen - vor allem ihre Zusammenarbeit mit THE SISTERS OF MERCY. Das Lied "Temple of love" war Ende der 90er immer noch ein Hit auf Studentenpartys in Tübingen (neben "51st state of America" und "Basket case"). Aber wer Punkrock kennt, kennt auch USELESS ID. Und ohne USELESS ID wäre Israel schon etwas ärmer an ausländischen Punkbands, die in Israel touren. Es werden immer mehr, seitdem die zweite Intifada "vorbei" ist.

Kaum eine Woche war ich in Tel Aviv und schon habe ich den USELESS ID-Gitarrist Ishay kennen gelernt. Ein ganz netter, trinkfreudiger Kerl. Seine andere Band hat an dem Abend gespielt. Sie heißt BO LABAR, auf gut Hebräisch: "Geh an die Bar". Die Band ist schon Punkrock, etwas poppig, aber härter als USELESS ID. Die Lieder und die Texte habe ich nicht verstanden, aber meine Freundin Shy hat mir alle übersetzt: "Du bist hässlich, geh an die Bar" oder "Die Muschi deiner Mutter" ...

Ein paar Tage später haben wir ihn wieder getroffen, diesmal in einer Kneipe, The Freeland (Allenby-Straße). Der Laden sieht aus wie ein britischer Pub, und dort läuft alles von Punk bis Metal. Ishay legt sonntags auf (Sonntag ist hier wie Montag, Donnerstag wie Freitag, Freitag wie Samstag und so weiter). Man sieht ihn immer hinter der Theke beim Auflegen und Saufen (im guten Sinne des Wortes), und er kennt JEDEN in Tel Aviv. Wie er damit umgeht, ist für mich ein Wunder. Er redet mit jedem, macht Witze, lächelt, lacht, ist glücklich und vergisst nie einen Namen. Er könnte ein Politiker sein (im besseren Sinne).

Zusammen mit BO LABAR hat auch eine australische Punkband gespielt - YIDCORE. Wegen des Namens dachte ich zuerst, dass die Jungs auf Jiddisch singen würden, und ich könnte alles verstehen. Sie haben doch auf Hebräisch gesungen, und zwar haben sie israelische und alte jüdische Volkslieder im Punk-Tempo gespielt. Ein paar Lieder waren auch auf Englisch. YIDORE sind echt lustig und die Musik macht unheimlich viel Spaß. Vorm Auftritt dachte ich: "Scheiße, schon wieder RAMONES-Nachahmer!" Ab und zu lohnt es sich doch, aufgeschlossen zu sein (oder zu tun, als ob). Sie haben sogar "Smells like teen spirit" von NIRVANA auf Hebräisch richtig witzig, aber zynisch gecovert: "Shalom, Shalom, Shal-om".

Die Vorbands an dem Abend, wir waren in Jerusalem, fand ich nicht so toll. Dann dachte ich: "Ist das alles? Gibt es nur Punk- und Hardcore-Bands in Israel? Kennen sie nur RAMONES, DEAD KENNEDYS, LAG WAGON und NO USE FOR A NAME?" Das kann nicht wahr sein. Israelis reisen (fast) überall durch die ganze Welt. Viele, die ich hier kennen gelernt habe, haben in den USA oder England gelebt, und seit fünf oder sechs Jahren ist es sogar "in", nach Deutschland zu ziehen - oder es zumindest zu besuchen.

In Tel Aviv habe ich dann die Band meiner Träume gesehen. Ich habe so was seit Jahren nicht mehr erlebt. Die Band heißt THE GIRLS. (Es gab eine andere Band aus Seattle, die THE GIRLS hieß. Die Band gibt es leider nicht mehr. Schade, die Seattle-GIRLS waren echt gut ...) THE GIRLS aus Tel Aviv (myspace.com/thegirls) bestehen aus drei Jungs und einer Sängerin, die auch Gitarre spielt. Andere Einflüsse sind auch da, aber diese GIRLS erinnern mich schwer an THE PRETENDERS, ohne eine Nachahmung zu sein. Die Sängerin Sharon Kantor ist seit Jahren bekannt in Israel. Sie hat Drehbücher fürs Fernsehen geschrieben, auch für eine Kindersendung. Zur Zeit arbeitet sie als Musikjournalistin und schreibt Drehbücher für Internet-Zeichentrickfilme. Sharon Kantor ist, wie ihre Bandkollegen, ein Mulitalent. Und sie sieht Chrissie Hynde sehr ähnlich.

THE GIRLS ist eine Band, die Tel Aviv wirklich verkörpert. Als ich Sharon und den Bassisten Adam Schleflan interviewte, haben sie die ganze Zeit diskutiert, wie neu und durcheinander alles in Israel ist. Die Musikkultur Israels ist eine Fusion, wie die Gesellschaft hier auch. Klar, die Mehrheit der Israelis sind Juden. Israelische Araber und Drusen gibt es hier natürlich auch. Die Juden stammen aus vielen verschiedenen Ländern - von Polen, Ungarn und Deutschland bis Jemen, Irak und Äthiopien. Israel ist ein Schmelztiegel, die Musikszene hier auch. Sharons Lieblingsband ist BOSTON, und ihre Einflüsse fangen nicht nur bei 60s Garage oder 77er Punk an. Bands wie LYNYRD SKYNYRD, AC/DC und LED ZEPPELIN sind keine Tabuthemen bei THE GIRLS. Die Musik ist Punk, plus ein Hauch von New Wave, hat auch was von Classic Rock und ist eingängig und poppig, ohne "mainstreamig" zu sein. THE GIRLS spielen hier vor Punk-Publikum, ohne mit Flaschen und Aschenbechern beworfen zu werden, und sie können auch in etwas schickeren Läden spielen, ohne der gut gekleideten und pseudo-aufgeschlossenen Bourgeoisie Tel Avivs Angst zu machen.

Mit 400.000 Einwohnern ist Tel Aviv keine richtige Großstadt, sondern ein großes Dorf. Ein relativ bequemes Dorf, meint Adam Schleflan. Man kann hier nicht so wählerisch sein, wenn es um die Venues geht. Man spielt, wo man kann, man spielt überall. Jeder kennt sich. Deshalb wird man schnell bekannt - in Tel Aviv und in Israel überhaupt. Das bringt leider nicht so viel. Sharon hat es auf den Punkt gebracht: "Israel unterstützt den Rock'n'Roll Way of Life gar nicht. Es gibt zu viele Eltern hier. Familiäre Unterstützung von Rock'n'Roll ist tödlich." Adam konnte nur bestätigen, was Sharon gesagt hat: "Es gibt hier keine Szene. Es gibt keinen Schweiß. Wir haben keinen Tourbus, und wir müssen unsere eigenen Verstärker nicht tragen."

Doch, eine Szene gibt es hier schon. Dieses Problem gibt es in jeder Stadt und in jedem Land. Eine Szene entwickelt sich langsam, aber es kommt einem manchmal wie Inzucht vor. Es kann auch daran liegen, dass Israel so klein ist. Manche behaupten, dass die Armee die Altersgruppe 18 bis 21 wegklaut (bisher mussten Jungs drei Jahre zur Armee, Mädels zwei). Und, nachdem man in der Armee war, macht man zuerst mal Urlaub (meistens in Indien), dann geht man arbeiten oder studieren, und vielleicht hört man auf, nach neuer Musik und so was zu suchen. Jeder behauptet was anderes. Soldaten habe ich mit ihrer M-16-Maschinenpistole schon auf Konzerten gesehen (aber nicht auf Punk-Konzerten). Auf jeden Fall ist diese Altersgruppe schon relativ schwach in der Rock'n'Roll-Szene vertreten. Israel wirkt zum größten Teil wie ein westliches Land, liegt aber natürlich im Nahen Osten. Bands von außerhalb können eine Musikszene schon prägen und beeinflussen, aber es ist schwer für Bands, in Israel zu touren. So viele Städte gibt es nicht, und in den Nachbarländern kann man nicht spielen (in Beirut, Libanon vielleicht noch). Man muss auch bedenken, die Nachbarländer sind zum Teil Israels Feinde. Man fühlt sich hier irgendwie eingesperrt, und eine Musikszene kann nicht alleine vom Radio, MTV, Plattenspielern oder CDs leben.

Während meines Aufenthalts in Tel Aviv habe ich eine echt geile "Szenekneipe" entdeckt. Nicht weit weg von The Freeland und der Kreuzung Allenby/King George entfernt liegt The Riff Raff (Gruzenberg-Straße). Das Riff Raff ist ein kleiner Laden mit einer Theke und mit einer inoffiziellen Minitanzfläche vorne und was Vergleichbarem mit einem Wohnzimmer hinten (mit deutschen Büchern im Regal von Reader's Digest). Der Laden ist relativ dunkel, die Inneneinrichtung ist Vintage (60s, aber nicht so sehr, dass man kotzen müsste), und es läuft alles von Punk, Powerpop und Garage bis Elekronik, Indierock, Emo und Retro-New Wave. Ich habe dort dreimal mit einem Kumpel Eilon aufgelegt. Wir haben alles Mögliche gespielt (von THE CREATION bis GG Allin), und wir haben nur Komplimente bekommen, UND die Leute haben sogar getanzt. Komischerweise musste Eilon auch BOSTON auflegen. (Was haben die Leute hier mit BOSTON? Als einer, der aus Kansas City kommt, sollte ich eigentlich der BOSTON-Angeber sein. Die Band läuft immer noch 20-mal am Tag im Radio im Mittleren Westen.)

Ich habe einmal den Vorwurf gehört, dass dieser Laden affektiert sei. Nein. Der Laden hat schon einen Look: 60s Garage- und Indierock-Fans mit Brille, schwarzen Rollkragen, Frauen in Vintage-Klamotten. Etwas intellektueller kommt der Laden auf den ersten Blick rüber. Das Personal und die Kunden im Riff Raff sind sehr freundlich. Man fühlt sich da immer willkommen und kommt leichter ins Gespräch mit ihnen, im Vergleich zu Kneipen in anderen Großstädten. Der Besitzer Ran ist groß und schlank und hat die perfekteste schwarze Scheitelfrisur, die ich jemals gesehen habe. Bei Wind, Regen, Schnee oder Hagel bewegt die Frisur sich nie. Ich habe ihm mal gesagt, dass das Riff Raff schon die coolste Kneipe Tel Avivs sei. Mit einer gewissen Selbstironie meinte er: "Klar, das Riff Raff ist die Szene in Tel Aviv."

Obwohl der Laden so klein ist, gibt es auch manchmal Live-Auftritte. Hinten im Garage/Indierock-Wohnzimmer hat SPINSTER SISTER gespielt, eine andere Band von Sharon Kantor. (In Tel Aviv spielt man manchmal in zwei oder drei Bands). SPINSTER SISTER sind nur Sharon und ihre Schwester Eleanor, die in Berlin lebt und als Englischlehrerin arbeitet. Sharon spielt E-Gitarre und beide Schwestern singen. Und das können sie auch. Nach zwei Liedern standen die beiden auf den Tischen und haben gezeigt, dass man nicht so viel Strom braucht, um gute Musik mit voller Lautstärke zu machen. Man hört die Einflüsse: GUN CLUB, JON SPENCER BLUES EXPLOSION, X. Ich habe sie ein zweites Mal gesehen mit einer anderen Band aus Tel Aviv, ELECTRA (auch eine echt gute Band - Mod, 60s Pop und Harmoniegesänge). An dem Abend haben sie einen Schlagzeuger dabei gehabt (den von ELECTRA). Das hat mir besser gefallen. Ohne Basser kann man leben, aber ein Schlagzeuger ist notwendig (finde ich). SPINSTER SISTER ist trotzdem ein Muss, und man kann sie ab und zu in Berlin sehen.

Wenn man in Tel Aviv weggeht oder das Radio einschaltet, hört man ständig Shy Nobleman. Ab und zu sieht man ihn auch. Momentan ist er echt groß in Israel, und, wie er meint, ist es das erste Mal, dass einer aus der Underground-Szene hier es nach oben geschafft hat. Was ist Shy Nobleman? Pop? Powerpop? 60s-Pop? Mod? Rock? Egal. Er kommt bei jedem an, und die Mucke ist auf jeden Fall radiotauglich (was nicht unbedingt schlecht ist).

Shy Nobleman (shynobleman.com) ist kein Neuling in der Musikszene. Mit acht Jahren hat er auf der Orgel angefangen. Dann, nach und nach, hat er Gitarre, Bass und Schlagzeug gelernt. In seiner Jugend hat er in einigen israelischen Bands gespielt. 1996, nach seiner Entlassung aus der Armee, ging er nach London. Dort hat er in Mod-, 60s Garage- und Beat-Bands gespielt. Auf Mod-Veranstaltungen sind sie aufgetreten, und eine von seinen Bands hat sogar eine Single, "Sad Song, Happy Song", in den Toerag-Studios aufgenommen (1999, mit WHITE STRIPES-Produzent Liam Watson). "Sad Song, Happy Song" wurde in der britischen Presse gelobt, besonders im Melody Maker. Sie sind auch nach Berlin geflogen und haben dort ein Video für das Lied drehen lassen (bei Film Lounge Productions).

Shy blieb bis 2001 in London, wo er einige von den Liedern geschrieben hat, die auf seiner Debütplatte "How To Be Shy" erschienen sind (2001, Noble Tunes). In London hat er sein Studium zu Ende gemacht und ist dann nach Israel zurückgezogen. Dort hat er den Longplayer "How To Be Shy" mit Musikern der israelischen Rocklegende ROCKFOUR aufgenommen. Die Scheibe wurde nicht nur in der israelischen Presse gelobt, sondern auch vom Rolling Stone in den USA. In einer Sonderausgabe hat der Musikkritiker Richtie Underberg "How To Be Shy" als eine der zehn besten Platten des Jahres 2002 bezeichnet. Die Zeitschrift Alternative Press hat Shy Nobleman als einen von 25 Acts gewählt, die Amerika erobern könnten (zusammen mit THE HIVES, THE SOUNDTRACK OF OUR LIVES und so weiter). Er wurde zum "International Pop Overthrow" eingeladen und spielte öfters als Headliner im CBGB's und The Knitting Factory. Er ist sogar in mehreren US-Städten aufgetreten - Gigs, die er selbst von Israel aus gebucht hat. Die Reise an sich durch die USA war einsamer, düsterer und frustrierender, als er doch jemals hat vorstellen können. Seine Bandkollegen wollten das Risiko nicht eingehen und Shy ist alleine in die USA geflogen und von der Ostküste bis zur Westküste und zurück mit einem kaputten Auto gefahren. Bei ein paar Auftritten hat er eine Band dabei gehabt, die er in den USA zusammengestellt hat. Meistens ist er aber alleine mit seiner Gitarre aufgetreten, und die etwas rockigere Mucke von der Scheibe konnte er nicht immer rüber bringen. Shy dazu: "Ich war wochenlang in meinem Auto. Ich fing an, mit mir selber zu reden. Ich hatte keine Gesellschaft, keine Kumpels. Ich hatte eine kleine Snoopy-Puppe, und ich habe mich die ganze Zeit mit ihr unterhalten."

Seine Konzerte haben gute Reviews bekommen, und er hat sich sogar regelmäßig mit einem A&R-Typen von SubPop getroffen. Aber sie wollten relativ schnell eine neue Platte von ihm. Er stand ohne Label und ohne Management da. Nach der Tournee ist er nach New York gezogen, auf Grund seines Künstlervisums durfte er in den USA bleiben. Anfang 2003 ist er wieder nach Israel zurückgekommen. Danach wurde er nach Hamburg für ein Israel-Kulturfestival eingeladen. Er fing dann an, eine Deutschlandtournee zu planen. Die Sponsoren des Festivals haben sich aber zurückgezogen, und schon wieder ist Shy Nobleman gegen eine Mauer gerannt.

Zu Hause in Israel haben die Radio- und Fernsehsender die Finger von der Platte gelassen.

"Die ganzen Radio-DJs und die größten Talkshows im Fernsehen hatten wirklich was dagegen, dass ein Israeli auf Englisch singt, weil sie dachten, dass die ganzen Zuschauer und Zuhörer das nicht verstehen und zu anderen Sendern umschalten würden. Weil es bisher keine so große Geschichte gab, in der erfolgreiche Israelis auf Englisch gesungen haben. Es gab früher Israelis, die auf Griechisch gesungen haben, auf Spanisch oder Arabisch ... Wenn man den Sendern was Westliches gegeben hat, dann dachten sie: ?Oh, vielleicht ist das zu westlich.'"

Nach einer etwas längeren Pause hat er neue Musiker gefunden und seine zweite Platte "Beautiful Life" aufgenommen. "Beautiful Life" ist viel poppiger als "How To Be Shy", sogar schon Richtung Bubblegum. Man könnte den Sound zum Teil mit Bands wie THE TURTLES, THE MONKEYS oder den alten Sachen von Neil Diamond vergleichen. Auf der anderen Seite hört man auch Einflüsse von BIG STAR, THE RASPBERRIES, THE WHO, THE KINKS und THE BEATLES. Shy Nobleman ist richtig abwechslungsreich. "Beautiful Life" ist in Israel derzeit ein Hit. Shys Lieder laufen ständig im Radio, zwei Singles von ihm sind in den Charts, seine Videos kann man auf Kanal 24 sehen, dem israelischen Musiksender, und Shy Nobleman-Klingeltöne für das Handy kann man auch kaufen. Shy Nobleman ist nicht ausgelaugt, aber man merkt, er hat schon einiges durchgemacht. Und das wollte er. Er hat das System besiegt, und er wirkt fröhlich und erleichtert. "Ich habe gewonnen ... zum ersten Mal in ihrem Leben haben diese DJs das Publikum entscheiden lassen, ob sie ein Lied mögen oder nicht. Meine Lieder mögen sie. Vielleicht sind die Medien jetzt dazu in der Lage, den Massen neue Musik und neue Richtungen zu zeigen. Vielleicht wird es dann mehrere Bands aus dem Independent-Bereich geben, die erfolgreich werden." Heute Israel, morgen die Welt.

Independent. Alternative. Punk. Underground. Es gibt so viele Begriffe dafür, was ich selber einfach als anständigen Rock'n'Roll bezeichnen würde. Aber wenn man eine neue "Underground"-Band (der beste Begriff, finde ich) in Tel Aviv abchecken möchte, ob eine israelische oder von weit weg, geht man ins Patifone (hebräisch für "Plattenspieler"). Der Laden liegt in der Itzhak-Sade-Straße 32 im Industriegebiet, neben Stripclubs, 24-Stunden-Kiosken und Schickimicki-Diskos. Das Patifone ist klein, aber fein, und sieht ein bisschen aus wie eine Garage. Live-Auftritte gibt es, es wird aufgelegt, und Eintritt sowie Getränke sind billig. Das Patifone ist nicht nur ein Club oder eine Kneipe, sondern das Hauptquartier eines israelischen Plattenlabels namens Fast Music. Fast Music ist spezialisiert auf Garage, Emo, Indierock und Punk - aus aller Welt (fastmusic.co.il). Ein eigenes Studio haben sie neben dem Büro, in dem israelische Bands ihre Platten aufnehmen. Das Patifone organisiert auch Tourneen für Bands aus dem Ausland (zum Beispiel von K Records und Estrus). Patifone/Fast Music machen viel. Ich habe einen von den drei Teilhabern, Ami Shalev, interviewt. Ein Patifone- und Bandkollege von ihm, PUNKACHE-Sänger und -Bassist Yonatan Gat, war auch dabei.

Die beiden haben zusammen die Band THE MONOTONIX gegründet (ein Seitenprojekt von Amis früherer Math-Rockband MONO ADDICTED ACID MAN). Die Band ist unglaublich. Zwei Gitarren und ein Schlagzeug. Die beiden waren damit einverstanden, als ich während des Interviews das Trio mit den OBLIVIANS, COMPULSIVE GAMBLERS, BANTAM ROOSTER und IMMORTAL LEE COUNTY KILLERS verglichen habe. Ami ist ein Spastiker auf der Bühne - aber eigentlich spielen sie nicht auf der Bühne, sondern auf dem Boden vor der Bühne (Schlagzeug auch). Ami springt überall rum, rennt gegen die Wand und gegen das Publikum, fliegt auf den Bier bespritzen Boden, zündet eine Kippe an, spielt weiter, rennt aus der Tür raus, und fährt mit einem fremden Fahrrad von draußen wieder rein. "Wir spielen die einfachste, tanzbarste Rock'n'Roll-Musik", sagte Yonatan. Ami stimmt zu: "Wir versuchen, die Situation zu minimalisieren."

THE MONOTONIX sind "unaristokratischer Rock'n'Roll". Die beiden meinten, sie wollen auf der gleichen Ebene wie das Publikum sein. "Wir finden es etwas komisch [auf der Bühne zu spielen]. Es ist manchmal komisch, wenn eine Rockband auf die Bühne geht. Da entsteht ein sehr merkwürdiger Blickwinkel, wie zum Beispiel, wenn Menschen ein Aquarium angucken. Es ist das Gleiche, wenn man ein Konzert anguckt. Wir spielen auf dem Boden, und dabei wird das Publikum zum Teil der Band." Das Publikum darf auch mitmachen. Auf jedem Konzert von MONOTONIX haben Leute aus dem Publikum auf das Schlagzeug gehauen. Man muss nur aufpassen, dass man keine Ellenbogen in die Fresse kriegt ...

Das Patifone hat drei Chefs, aber der Laden wirkt wie ein Kollektiv. Die Mitarbeiter dürfen einiges mitbestimmen und jeder hat was zu sagen. Ich habe im Patifone eine andere Band gesehen, namens MIDNIGHT PEACOCKS (myspace.com/midnightpeacocks). Die Band hat keine/n Chef/in oder Band-Dikator. MIDNIGHT PEACOCKS sind ein richtiges Kollektiv. Mitglieder der Band kommen und gehen, wie sie wollen, aber meistens bleibt das Line-up fest. THE MIDNIGHT PEACOCKS bestehen maximal aus acht Mitgliedern. Ein Ex-USELESS ID-Schlagzeuger, Ido Blaustein, ist auch dabei. Ihre Richtung nennen sie selber "Circuscore", und ihre neue Scheibe "It's A Brutal Machine" (Phonector/Earsay Records) haben sie im Low Swing-Studio in Berlin aufgenommen. Die Musik ist experimentell und Avantgarde auf der einen Seite, aber man merkt die Hardcore-, Punk- und Rockeinflüsse. THE MIDNIGHT PEACOCKS nehmen auch was aus arabischen und anderen orientalischen Musikrichtungen hinzu, und ein Mitglied der Band hat seinen Hintergrund im Cabaret und Avantgarde-Theater. Das klingt sehr un-rock'n'rollig, aber die Band ist eine Wucht auf der Bühne. Sie sind ein Haufen talentierter Musiker und es geht richtig zur Sache - Theater- oder Literaturwaschlappen oder Studenten sind sie nicht. Die Mucke liegt irgendwo zwischen Progrock und Punkrock. Der Basser und Songscheiber Eitan Radoschinski meinte, dass es die Idee der Band war, die Engstirnigkeit in der Musikszene zu bekämpfen. Er fühlt sich unwohl unter Leuten, die er als "faschistoid" bezeichnet. "Man sollte sich nicht auf eine Musikrichtung begrenzen", meinte Eitan.

Ich habe auch eine Garage/Punkband in Tel Aviv gesehen, die nur ein Lied auf Englisch gesungen hat. Wieder mal habe ich gar nichts verstanden und meine Freundin Shy fragte mich, ob sie alles übersetzen sollte. Das wollte ich nicht. Ich habe kaum gemerkt, dass sie auf Hebräisch gesungen haben. Ich konnte nicht weggucken und ich wollte nicht weghören. Später hat die Ex-Gitarristin von VA' ADAT KISHUT, Pelleg, mir gesagt, dass die Texte von HASHAKRANIM (THE LIARS) echt blöd und krank sind, aber auch etwas gesellschaftskritisch. Schade, dass es schon zwei Bands gibt, die so heißen (THE LYRES aus Boston und THE LIARS aus New York), aber der Name ist halt auf Hebräisch. Zu einer Klage wird's nicht kommen. HASHAKRANIM erinnern mich an THE BUZZCOCKS und SHAM 69, aber sie haben auch einen 60s-Sound (THE WHO, THE PRETTY THINGS, THE TROGGS). Schon wieder fällt es schwer, die Band einzuordnen. Ich glaube, das nennt man "innovativ".

Eine Band, die ich leider verpasst habe, waren die legendären ASTROGLIDES. Sie haben gar nicht gespielt, als ich da war. Die Richtung nennt man "Surfcore". Ihr Schlagzeuger hat eine andere Band, LOS KYKES. Der Begriff "Kyke" oder "Kike" kommt aus dem Jiddischen und ist generell ein Schimpfwort gegen Juden, ursprünglich ärmere Juden. Den Begriff kenne ich auch aus den USA. In Israel wird er eher gegen Juden europäischer Herkunft verwendet. LOS KYKES sind eine Mischung aus Garage, Punk und Rockabilly. Die Vocals sind eher Death Metal, und das ist Absicht. Die Jungs sind öfters dermaßen besoffen ... und richtig besoffene Leute sieht man hier nicht so häufig wie in Deutschland. Ich habe die LOS KYKES einmal nach einer Skateboard-Preisverleihung live gesehen. Es gab keine Monitorboxen und auch keine P.A. Der Laden, eine Disko, war riesig, und der Sound war beschissen. Die Band mag ich trotzdem. Nach zehn Minuten hat ihnen ein Barkeeper von dem Laden den Strom ausgeschaltet, und der Gig war sofort vorbei. Kaputte Gläser und Flaschen lagen überall auf dem Boden. Die Punkrock-Wut konnte man in der Luft - und auf der Toilette - riechen. Die Band war richtig sauer, und der Basser hat einen Barhocker in die Hand genommen und hat ihn gegen die Theke geschmissen. Ich glaube nicht, dass sie dort wieder spielen, auch wenn sie wollten.

Eine ähnliche Band habe ich in der linken WG Hagada Hasmalit gesehen. Das Gebäude sieht aus wie ein Studentenwohnheim in Tübingen und hat sogar eine Hausbar (und zwar echt billig). Der Name der Band ist auf Englisch, aber klingt sehr mediterran: MONKEY SON OF A DONKEY. Als ich mal im Riff Raff aufgelegt habe, kam der Sänger zu mir her und fragte: "Hast du wirklich die letzte COCKNOOSE-Scheibe veröffentlicht?" Er wollte die bösen Einzelheiten der Tournee von 2003 hören. Die Jungs (und ein Mädel) stehen auch auf GG Allin, THE DWARVES, THE MUMMIES, ANTISEEN und THE BULEMICS. Ihre Texte sind wirklich derb, aber mit 34 bin ich von nichts mehr schockiert. Sie singen über Gewalt, Vergewaltigung, Pisse, Scheiße, Drogen und Blut. Die Band ist etwas sloppy, aber sie haben unheimlich viel Energie. Sie gehen im Sommer auf Tour in den USA, zum Teil mit den THE BULEMICS. (Mehr Infos zu HASHAKRANIM, LOS KYKES und MONKEY SON OF A DONKEY kann man auch unter myspace.com finden.)

Was mich wirklich enttäuscht hat, war, dass ich Charlie Megira nicht sehen konnte. Mein DJ-Partner Eilon hat mir eine gebrannte CD mit seinen alten Sachen geschenkt. Reverend Beat-Man wäre stolz. Charlie Megira ist Surf, Rockabilly und Country, richtig Lo-Fi und mit passenden Echoeffekten aufgenommen. Anscheinend taucht er selten in der Öffentlichkeit auf und spielt heutzutage richtige Depri-Mucke wie JOY DIVISION. Wie er diesen Sprung gemacht hat, konnte kein Mensch erklären. Aber untypisch ist es schon, und davor habe ich nur Respekt.

Vor der Szene in Tel Aviv habe ich auch nur Respekt. Die Menschen dort sind weder verwöhnt noch ausgebrannt. Sie haben weniger Möglichkeiten als die Amis oder die Europäer, und irgendwie kriegen sie was auf die Reihe. Einen Haufen anderer Bands gibt es hier auch. Ich habe sie leider nicht alle gehört oder erwähnt. Kein Mensch kann das. Es gibt viele Bands hier, und die Mehrheit von denen können alle anständig spielen und singen. Musik haben die Tel Aviver im Blut.

Erik Bauer