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Lebe lieber gewöhnlich

Im Jahr 1995 erschien die Split-7" zweier nahezu unbekannter Bands auf einem kleinen Label namens Wooden Blue Records. Sie war auf 1.000 Stück limitiert und in ein liebevoll per Hand gefertigtes Cover verpackt. Auf der einen Seite war ein Lied zu hören, das ein gewisser Jim Adkins geschrieben hatte, auf der anderen eines von Eric Richter. Welche Band einmal erfolgreicher sein würde, war damals unmöglich vorherzusagen. Doch schon kurze Zeit später sah die Sache ganz anders aus: Adkins und JIMMY EAT WORLD veröffentlichten ihr zweites Album "Static Prevails" bei einem Majorlabel und brachten mit jeder weiteren Platte die Genrebezeichnung "Emo" weiter in das Bewusstsein des Mainstreams, bis diese zur Erfassung musikalischer Inhalte schließlich nahezu unbrauchbar geworden war.


Richter dagegen blieb lediglich ein Gastauftritt auf dem Album seines Freundes sowie die Gewissheit, ihm ein entscheidender Einfluss gewesen zu sein, denn nicht einmal zwei Jahre nach der gemeinsamen 7" löste sich seine Band CHRISTIE FRONT DRIVE auf. Wenn also der Sänger und Gitarrist heute "They're just an ordinary band with an ordinary plan" singt und damit auch seine aktuelle Band THE 101 meint, dann ist das natürlich ein Stück weit Koketterie mit der eigenen Bedeutung. Aber eben auch die nüchterne Realität einer Band, die weiterhin auf Kleinstlabels veröffentlicht und nur auf Tour gehen kann, wenn es die Arbeit zulässt. Doch dass Eric Richter auch zehn Jahre nach dem, was die einen eine verpasste Chance nennen würden, noch immer mit demselben Enthusiasmus Lieder schreibt, das macht ihn in den Augen der anderen mindestens so erfolgreich wie seinen alten Weggefährten von JIMMY EAT WORLD.


Du betonst immer wieder, dass du mit THE 101 nichts Bestimmtes ausdrücken möchtest und es einfach liebst, Musik zu machen. Wieso rückst du die eigene Gewöhnlichkeit so sehr in den Vordergrund?

Wahrscheinlich deshalb, weil ich kein wirklich politischer Mensch bin, zumindest was meine Musik betrifft. Ich versuche nicht, irgendjemanden zu verändern. Persönlich interessiere ich mich sehr wohl für Politik und unterstütze auch gewisse Dinge, die mir wichtig sind. Aber ich habe nicht das Bedürfnis, meine Ansichten in meiner Musik auszudrücken. Politik ist eine schwierige und oft deprimierende Angelegenheit. Musik zu machen, befreit mich auf eine Weise davon. Das ist die Zeit, während der ich nicht darüber nachdenke, was alles schief läuft in der Welt, sondern mich darauf konzentriere, was mir Spaß macht. Musik ist für mich etwas sehr Therapeutisches, eine Form der Entspannung und des Vergnügens. Ich will die Leute damit glücklich machen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass sich manche Bands so sehr in Politisches verstricken, dass sie nicht mehr genug über Musik nachdenken.

Deine frühere Band CHRISTIE FRONT DRIVE gilt gemeinhin als stilprägend für ein ganzes Genre. Warum hast du dich trotzdem mit dem Begriff "Emo" stets so schwer getan?

Weil ich nie verstanden habe, was damit gemeint ist. Wir haben doch einfach nur Musik gemacht, ohne darüber nachzudenken, was wir tun - und plötzlich hieß es, wir seien eine "Emo-Band". Und egal, was ich später auch musikalisch angestellt habe, immer haben mich die Leute in diese Schublade gesteckt. Ich bin für den Rest meines Lebens gebrandmarkt. Auf der anderen Seite ist es natürlich nett von den Leuten, überhaupt irgendetwas über mich zu sagen. Deswegen zerbreche ich mir nicht mehr so den Kopf darüber wie früher. Auch wenn es mir manchmal eiskalt den Rücken herunter läuft, wenn ich das Wort "Emo" höre. Das ist schon ein interessanter Begriff. Das Lustige ist doch, dass letztendlich jede Musik emotional ist. Ich weiß nicht, warum JIMMY EAT WORLD oder MINERAL emotionaler sein sollen als andere Bands. Phil Collins ist manchmal auch ziemlich emotional. Denk nur mal an einen Song wie "In the air tonight" - dunkler und emotionaler geht es doch gar nicht.

Trotzdem wird Phil Collins nicht "King of Emo" genannt.

Wir waren nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wir galten doch allein deshalb als originell, weil wir vor Leuten gespielt haben, die andere Musik gehört haben als wir. Hätte unser Publikum Bands wie BUFFALO TOM, SAMIAM oder ARCHERS OF LOAF gekannt, hätten sie gewusst, dass wir uns lediglich nach denen anhören. Aber wir haben eben hauptsächlich mit Hardcore-Bands gespielt. Gerade zu Beginn war das oft gar nicht so einfach. Wir haben einige Touren erlebt, bei denen uns die Leute beschimpft haben. Aber irgendwann hatten die Kids einfach genug von all diesen schnellen Bands. Dann haben sie melodische Musik plötzlich als ein großartiges Konzept abgefeiert, haha. Ich glaube, dass es jede Band schaffen kann, ganz egal wie gut oder schlecht sie ist. Es ist nicht mehr als ein Glücksspiel.

Spricht aus diesen Worten nicht auch die Frustration, zwar als Wegbereiter für ein Genre zu gelten, davon aber nie profitiert zu haben?

Überhaupt nicht. Ich freue mich für JIMMY EAT WORLD und habe nie an ihnen gezweifelt. Es ist doch schön, dass Leute Erfolg haben, mit denen ich befreundet bin und deren Musik ich außerordentlich schätze. Das ist heutzutage eher selten. Klar haben auch wir damals mit Majorlabels gesprochen, aber letztendlich haben wir uns dazu entschieden, diesen Weg nicht zu gehen.

Wohl keine selbstverständliche Entscheidung für einen gerade Zwanzigjährigen.

Meine Unabhängigkeit war mir damals eben ausgesprochen wichtig. Ich gehe nicht gern Kompromisse ein. Leuten von größeren Labels gegenüber war ich schon immer sehr zögerlich und argwöhnisch. Etwas schien da einfach nicht zu stimmen. Man kennt doch die Geschichte: Eine große Firma stiehlt einer Band ihr Herz und ihre Seele, woraufhin diese zugrunde geht. Das habe ich nicht nur ein Mal mit ansehen müssen. Außerdem wüsste ich gar nicht, ob wir das bei einem Major gepackt hätten. Wir wären bestimmt eine dieser Bands gewesen, die ein Album aufgenommen hätte, welches niemals veröffentlicht worden wäre, weil es das Label nicht gut genug gefunden hätte. Wir spürten einfach, dass unsere Zeit abgelaufen war. Wir haben ja nicht mal mehr neue Songs geschrieben. Ich denke, es war die richtige Entscheidung aufzuhören, solange wir noch gut waren. So hat uns wenigstens jeder in guter Erinnerung behalten.

Du hast deine Entscheidung also niemals bereut?

Natürlich würde ich gerne vom Musikmachen leben. Aber man muss sich auch vor Augen halten, welchen Preis man dafür zahlen muss. Ich hatte immer Angst davor, etwas zu meinem Beruf zu machen, das ich so sehr liebe. Sicher wäre es schön, nach einer Tour nach Hause zu kommen und nicht gleich wieder arbeiten gehen zu müssen. Aber es ist eben, wie es ist. Und das ärgert mich vor allem deshalb nicht, weil ich nichts so sehr liebe, wie Gitarre zu spielen und zu singen. Ginge es mir nur um das Geld, hätte ich schon vor langer Zeit aufgehört, Musik zu machen. Ich habe damit nämlich noch nie etwas verdient.

Bei "Numbers" singst du: "We're on a stage and you're far away". Wie schwer fällt es, auf Tour zu gehen und sein normales Leben zurückzulassen?

Das ist natürlich immer wieder aufs Neue herausfordernd. Und das, obwohl wir ja meistens nur für ein paar Wochen unterwegs sind. Meine Katze fehlt mir immer sehr, aber für unseren Schlagzeuger ist es wahrscheinlich noch härter, schließlich ist er verheiratet. Trotzdem gehen wir gerne auf Tour. Dein Leben ändert sich völlig während dieser Zeit, du lässt deine Alltagssorgen hinter dir und lebst wie in einem Kokon. Alles konzentriert sich auf die eineinhalb Stunden, die du am Abend auf der Bühne bist. Der Rest des Tages dümpelt so vor sich hin. Aber wenn du dann spielst - und sei es nur vor fünf Leuten wie zum Beispiel gestern - dann weißt du wieder, warum du das alles tust. Auf der Bühne zu stehen, ist ein Stück Heimat. Es ist das einzige, was während eines Tages passiert, das dir vertraut vorkommt.

Wie reagiert denn dein berufliches Umfeld auf die Band? Ist es nicht unheimlich schwierig, eine längere Tour auf die Beine zu stellen?

Da ich als Lehrer in einer Vorschule arbeite, geht das eben nur während der Ferien. Während der Arbeit spreche ich nicht gerne über die Band. Und das nicht nur, weil die Kids mit fünf Jahren noch zu jung sind, um sich dafür zu interessieren. Ich versuche, meinen Beruf und THE 101 zu trennen. Ich fühle mich einfach nicht wohl dabei, vor Leuten über meine Band zu sprechen, die nicht wissen, dass ich Musik mache. Das war schon immer so. Leider verpasst meine Mutter keine Gelegenheit, den Leuten auf die Nase zu binden, was ich mache. Aber für die Kids bin ich einfach nur Eric, der etwas sonderbare Lehrer.

Meinst du damit, dass sich deine Erfahrung als Musiker auch irgendwie auf deine Lehrtätigkeit auswirkt?

Ich weiß nicht. Ich denke eher nicht, dass ich mich deswegen von anderen Lehrern unterscheide. In einer Schule hat man ohnehin nicht besonders viel Spielraum, sich anders zu verhalten als vorgeschrieben. Kann sein, dass manche Eltern mich etwas schräg anschauen, weil ich gerne schwarz trage und mich nicht jeden Tag rasiere. Aber spätestens wenn ich mit den Kindern zum Spielen rausgehe, ist das alles vergessen. Mit ihnen zu spielen, ist das Beste an meinem Job. Jeden Tag passieren bestimmt zehn Sachen, die zum Totlachen sind. Da sammeln sich so einige Anekdoten an.

Welche ist dir besonders im Gedächtnis geblieben?

Es gab da diesen Jungen, Winston war sein Name, der sich immer meldete, um dann willkürlich Dinge zu sagen, die überhaupt nichts mit dem zu tun hatten, worüber wir gerade sprachen. Einmal rief ich ihn also auf und er sagte so etwas wie: "Letzte Nacht hatte ich diesen Traum. Ich trug eine Tasche voller Lämmer." Das Bild, wie er mit einer Tasche voller Lämmer umherläuft, bekam ich einfach nicht mehr aus meinem Kopf. Ich habe mich bestimmt fünfzehn Minuten nicht mehr eingekriegt vor Lachen.