Gerry Hannah und Direct Action

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In Ergänzung zum obigen Interview sprach Allan MacInnis separat auch noch mit Gerry Hannah über seine Zeit bei Direct Action, über die Wichtigkeit, sich zu informieren, und den Verlust der Bedeutung des Begriffes Punkrock.



Gerry, ich nehme an, du weißt, was Mr. Kinsella über dich denkt und sagt.


Nicht im Detail, aber er ist wohl der Meinung, ich sei ein Arschloch. Ein diabolisches Arschloch.



Es gab wohl den Ausdruck "fucking terrorist asshole" ...

Ja.



Und er hat dich mit dem Neonazi George Burdi (George Burdi war in den Neunzigern eine der Größen der kanadischen Nazi-Musikszene, hat sich aber nach einer Haftstrafe von dieser abgewendet; Anm. jh) verglichen, mit der Begründung, ihr hättet beide Gewalt angewendet. Und auch andere Leute von damals wie der Autor Chris Walter waren mit der Anwendung von Gewalt nicht einverstanden. Doch trotz der Ablehnung der Methoden von Direct Action hatten die meisten Leute doch irgendwie auch Sympathie für eure Motivation, die Frustration über die gesellschaftliche Situation, und eure Ziele.



Genau das sagt meine Mutter auch, haha.

Jedenfalls schrieb ich Warren Kinsella diesbezüglich, und er antwortete mir, ich könne gerne aus seinem Buch zitieren - und dass, ich zitiere, "Gerald Hannah denkt, es ist Punk einen unschuldigen Menschen in die Luft zu jagen. Das ist aber nicht Punk, so was macht nur ein Arschloch, und für so eins haben wir alle Hannah gehalten".



Wen meint er mit "wir alle"?



Das habe ich ihn auch gefragt. Ich schickte ihm eine Liste von Links als Beispiele von Punks, die mit Direct Action sympathisierten oder zumindest Verständnis für deren Tun äußerten, aber er antwortete mir nicht mehr. Allerdings gab es einen da draußen, der sich kritisch äußerte: Steve Albini. Meinte Kinsella also die Punks in Calgary? Sich und Steve Albini? Die HOT NASTIES? Ich wollte also aus Kinsella herauskitzeln, was und wen genau er meint, für wen er zu sprechen vorgibt. Er schrieb mir dann nur noch, er habe das Gefühl, ich versuche da jemanden reinzuwaschen, und das war's. Wie stehst du denn heute mit Kinsella?

Ich kann dir genau sagen, warum Kinsella mich hasst. Ich beobachte das schon seit einer ganzen Weile und bin mir da mittlerweile recht sicher: Warren hat eine ganze Weile versucht, mit mir in Kontakt zu treten - ich glaube es war über Joe Keithley von D.O.A. -, weil er dabei war ein Buch über die kanadische Punk-Szene zu schreiben. Er wollte mich interviewen, doch mein erster Gedanke war: Was?! Warren Kinsella will ein Buch über Punkrock schreiben? Was für eine lächerliche Idee! Der Typ war schließlich der Redenschreiber für den kanadischen Premierminister Jean Chrétien! Und der will "alles" über die kanadische Punkrock-Geschichte wissen? Wie denn? Ich habe das so nicht zu Kinsella gesagt, aber für mich war klar, dass ich ihm bei seinem Buch nicht helfen werde. Und man darf ja nicht vergessen, dass er wohl auch derjenige war, der Chrétien die großartige Rede geschrieben hat, die der hielt, nachdem es angesichts eines Besuchs des indonesischen Dikators Suharto an der Universität zu Protesten gekommen war, die von der Polizei mit Pfefferspray aufgelöst wurden. Eine Menge Leute hatten damals das Gefühl, die Anweisung zur gewaltsamen Auflösung der Demo seien direkt aus Chrétiens Büro gekommen, und als Chrétien dann Journalisten darauf ansprachen, kam von ihm die Antwort "Ach, ich habe auch gerne etwas Pfeffer auf meinem Steak". Wer weiß, vielleicht war das ja die Sternstunde von Kinsellas Karriere. Warum also sollte ich diesem Typen helfen, die Punk-Geschichte von Kanada zu schreiben? Ich antwortete ihm nicht, und deshalb hasst er mich.



Wenn man zwischen den Zeilen von Kinsellas Buch liest, kann man diesen Eindruck gewinnen, ja. An einer Stelle schreibt er auch, Hannah gebe nur Interviews an Leute, mit deren politischer Meinung er übereinstimmt. Dabei ist er es, der sich so verhält.

So sehe ich das auch, und ich habe darüber auch mit ein paar Leuten gesprochen, die mir das bestätigten. Er wollte wohl auch ein Interview mit John Lydon machen, er drängelte und drängelte, und letztlich bekam er zu hören, er solle sich verpissen - man weiß ja, dass John nicht immer besonders höflich ist. Und so fing Kinsella an, Scheiße über Lydon zu schreiben, er sei ein Arschloch und so weiter. Und jemand anderem, der Kinsella ein Interview verweigerte, erging es genauso.



Sprechen wir über den Grund, weshalb Kinsella ein Problem mit dir hat: Du warst zwar selbst nicht am Bombenanschlag in Litton beteiligt, bei dem ein Mensch verkrüppelt wurde, aber Kinsellas Kritik bezieht sich direkt darauf. Dadurch werde jeder politische Idealismus, auf den sich Direct Action womöglich berufe, diskreditiert.

Hm, vielleicht ist meine Erinnerung ja nicht mehr die beste, ich bin ja auch schon beinahe 50, aber von "beinahe verkrüppelt" weiß ich nichts, nur von einer gerissenen Milz als größter Verletzung.



Laut Kinsella war der Mann total erledigt.

Dann solltest du herausfinden, was dem wirklich passiert ist. Er hatte auch andere Verletzungen, aber die ernsteste war wohl die Milz. Klar, das ist eine ernste Verletzung und auch schrecklich. Und ich glaube, es hat ihm gewisse Mobilitätsprobleme bereitet, aber ich wüsste nicht, dass er ein "Krüppel" ist, was sowieso kein Begriff ist, den man verwenden sollte. (Anmerkung AM: Hannah lag ganz gut mit seiner Einschätzung. Ein Interview mit dem damals verletzten Chikowski bestätigte, dass die Hauptspätfolge des Bombenanschlags anhaltende Schmerzen sind, resultierend aus gerissenem Muskelgewebe in seinem Rücken und diversen Knochenbrüchen. Dazu kommt ein geschwächtes Immunsystem wegen einer sich auflösenden Milz und gewisse physische Einschränkungen, so kann er nicht mehr als Hockey-Schiedsrichter arbeiten, da es zu schmerzvoll ist, sich nach dem Puck zu bücken. Aber es geht ihm an sich gut; als ich mit ihm sprach, plante er gerade einen Urlaub in Las Vegas und war gut gelaunt.)

Ich muss aber noch mal klarstellen, dass ich an dem Bombenanschlag von Litton nicht beteiligt war. Die Bullen haben nicht mal versucht, mir da was anzuhängen, die wussten, ich habe damit nichts zu tun. Ich unterstützte die Aktion, ich glaubte daran, aber ich war nicht aktiv daran beteiligt. Und ich bin sicher, ich war nicht der einzige, der sie unterstützt hat, da gab es Hunderte, Tausende, die sie auf dem einen oder anderen Level billigten, allerdings nicht, dass Menschen verletzt wurden. Ich weiß nicht, ob du weißt, dass Direct Action nach dem Anschlag eine Entschuldigung an die Verletzten veröffentlicht hat. Keiner bei Direct Action war froh über die Verletzten, das hätte nicht passieren dürfen. Als die Fabrik eine Weile vor dem Anschlag ausgespäht wurde, gab es da keine Nachtschicht, man ging davon aus, sie wäre leer, von ein paar Wachleuten mal abgesehen. Als die Leute dann nach Toronto zurückkehrten mit all dem Material, das sie zur Ausführung der Aktion brauchten, stellten sie aber fest, dass es in der Fabrik nun eine Nachtschicht gab. Die Sache abzublasen, wäre damals ein großer Rückschlag für die Gruppe gewesen, und so waren sie dazu nicht bereit. Also planten sie die Aktion so, dass es keine Verletzten gibt. Sie gaben also 30 Minuten vorher eine Bombenwarnung ab, forderten die Fabrik zu räumen. Die Warnung war sehr klar formuliert, wurde zweimal telefonisch gegenüber den Wachleuten am Eingang abgegeben, die auch die Möglichkeiten zur Auslösung einer Evakuierung hatten. Die leiteten diese aber nicht ein, sie hielten die Bombenwarnung für nicht echt, für einen weiteren Scherzanruf. Es stellte sich dann heraus - und Direct Action wusste das nicht -, dass es in der Vergangenheit eine Reihe von falschen Bombendrohungen gegenüber der Fabrik gegeben hatte. Sie glaubten also den Anrufern nicht, und dabei stand ein Lieferwagen mit 500 Pfund Dynamit darin nicht weit entfernt von dem Wachhaus, und vor dem Auto lag eine orange angemalte Stange Dynamit, daran ein Schild in der Art von "Das ist echt!". Ich versuche jetzt nicht eine Entschuldigung für die Verletzten zu finden, ich sage nur, dass man sich bemüht hatte, Verletzte zu vermeiden, denn es ging ja um Gewalt gegen Dinge. Die Idee war ja gewesen, einen Teil der Fabrik so schwer zu beschädigen, dass die ganze Fabrik geschlossen werden muss. Das war die Absicht, und genau das war ja zuvor nach dem Anschlag auf die Cheekyey-Dunsmuir-Trafostation auf Vancouver Island geschehen. Da wurden 300 Pfund Dynamit benutzt, und sie wurde geschlossen. Übrigens führten Leitungen dort seinerzeit - entgegen der öffentlichen Meinung - keinen Strom, es hätte also nicht zu einer Situation kommen können, wo jemand wegen des Stromausfalls, in einem Krankenhaus erwa, hätte zu Schaden kommen können. Die bauten das Netz damals gerade erst auf. Es war Gewalt gegen Sachen, und das auf einem ganz massiven Level: Der angerichtete Schaden bezifferte sich auf 300 Millionen kanadische Dollar. Direct Action ging es nie um Gewalt gegen Menschen, es wurde nie darüber geredet, jemanden zu ermorden, ein Flugzeug oder einen Supermarkt in die Luft zu sprengen, Menschen zu terrorisieren - daran hatte die Gruppe nie ein Interesse.



Aber ihr hattet Waffen.

Ja, wir hatten Handfeuerwaffen, um nicht gefangen genommen zu werden. Wir hätten nicht akzeptiert, gefangen zu werden. Wenn man also auf uns geschossen hätte bei einer unserer Aktionen, etwa dem geplanten Überfall auf den Brinks-Geldtransporter, hätten wir uns verteidigt, hätten zurückgeschossen. Zumindest war das die Idee. Aber wir hatten die Waffen nicht, um jemanden zu ermorden, irgendeinen Politiker oder hohen Richter oder so. Solche Gedanken spielten bei uns keine Rolle, es ging immer nur um Gewalt gegen Sachen, allerdings in ganz massivem Ausmaß. Und ich entschuldige sicher nicht alles! Unsere Aktionen waren rücksichtslos. Ich glaube, wir wurden damals von unserer eigenen Rhetorik mitgerissen, von dem damals verbreiteten Denken: Rote Armee Fraktion, Rote Brigaden, die Guerilla-Bewegungen in Lateinamerika, die gegen unglaublich korrupte, mörderische Regime kämpften, dieses Umfeld führte dazu, dass wir uns sagten, wir tun das Richtige. Rückblickend glaube ich allerdings nicht mehr, dass unser Tun richtig war, aber ich denke doch, dass unsere Ziele ehrenwert waren. Wir wollten das Wettrüsten stoppen, wir wollten einen Nuklearkrieg abwenden, der damals ein ernstes Thema war. Und wir kämpften gegen die Ölbohrungen im arktischen Ozean, gegen ein unserer Meinung nach geplantes Atomkraftwerk auf Vancouver Island. Die Stromleitung, an der wir die Trafostation sprengten, wurde damals nach Meinung vieler Umweltgruppen so geplant, dass man sie nicht nur zur Versorgung der Insel nutzen konnte, sondern auch zum Transport von dort erzeugtem Strom. Das waren also unsere Themen, dagegen kämpften wir, und ich denke, dagegen musste man auch kämpfen. Allerdings ist es inakzeptabel, dabei Menschenleben zu riskieren oder Menschen zu verletzen.



Hast du die Leute, die in Litton verletzt wurden, jemals kontaktiert? Und hast du dich für das Geschehen persönlich verantwortlich gefühlt?

Ich hatte keine schrecklichen Schuldgefühle, aber ich fühlte mich schlecht, weil es passiert war und Leute verletzt worden waren. Und mir gefiel nicht, dass es unsere Gruppe diskreditierte. Die nahmen uns jetzt als gefährlich war, wir waren nicht länger die Guten, und das war schrecklich für unser Anliegen, ein herber Rückschlag. Wir hatten uns Direct Action genannt, um die Idee zu verbreiten, dass man nicht mehr länger frustriert oder nur wütend sein müsse angesichts von Politikern, die sich gegenüber den Bedürfnissen der Leute taub stellen und stattdessen ihren reichen Freunden helfen. Unsere Botschaft sollte sein, dass man die Dinge auch selbst in die Hand nehmen kann. Und ich habe heute ein Problem mit diesem ganzen Konzept der "direkten Aktion". Frag mich doch zum Beispiel, was der Unterschied ist zwischen Direct Action und Selbstjustiz? Meine Antwort: Ich weiß es nicht. Was für den einen "direkte Aktion" ist, ist für den anderen Selbstjustiz, und Selbstjustiz kann ich nicht gutheißen.



Heute haben wir in Nordamerika rechte Regierungen, auf deren Programm Privatisierung und eine feindliche Haltung gegenüber den Bürgerrechten stehen, was sich etwa durch den "Patriot Act" in den USA äußert. Jeder, der etwas politischen Aktivismus in sich verspürt, ist heute sicher noch frustrierter und deprimierter, als ihr es damals wart, und in mancherlei Hinsicht ist die Situation heute noch schlechter als damals. Was sollen die Leute also deiner Meinung nach tun, um einen politischen Wandel zu erreichen?

Für wichtig halte ich, sich zu informieren. Man muss herausfinden, was wirklich passiert, was in der Vergangenheit geschehen ist. Man muss sich jenseits der Mainstream-Medien informieren! Wieder Bücher lesen! Es gibt großartige Bücher von Leuten wie William Blum und Noam Chomsky, die zeigen, dass das, was heute geschieht, keineswegs so neu und seltsam ist und auch nicht aus heiterem Himmel kommt, sondern Teil eines lang andauernden Prozesses ist. Die Leute müssen hinter den Vorhang blicken, nach Informationen suchen! Man kann nicht einfach auf seinem Arsch sitzen, CNN schauen und glauben, man würde dort die Informationen geboten bekommen, die man sucht. Du wirst auf CNN niemals hören, dass die Taliban eine Erfindung der Reagan-Regierung sind und die kanadischen Soldaten, die heute in Afghanistan kämpfen und sterben, jetzt 60 Jahre verfehlter US-Politik ausbaden müssen. Also, sich zu informieren ist der erste Schritt.



Und der zweite?

Rede mit anderen Leuten darüber, was du herausgefunden hast. Das klingt wie ein kleiner Schritt, und manche werden sagen "Klar, so ein ehemaliger Aktivist hat gut reden". Dabei ist das "drüber reden" derzeit ziemlich hart. Viele Leute wollen lieber über gar nichts reden, und ich meine nicht, sich bei einem Bier oder Kaffee zu unterhalten, sondern sich öffentlich zu äußern: "Hey, was soll der Scheiß, warum sind kanadische Soldaten in Afghanistan, um zu reparieren, was die Reagan-Regierung zerstört hat?" Der zweite Schritt ist also, öffentlich über sein Wissen zu reden. Das ist wichtiger als die aktuellen Eishockey-Ergebnisse, der Wet-T-Shirt-Contest letzte Woche in der Disko oder wann das Geld für einen neuen Geländewagen reicht. Die Leute sollten sich weniger Gedanken machen über solchen langfristig gesehen bedeutungslosen Scheiß, und stattdessen mehr über das nachdenken, was wirklich um sie herum geschieht. Denn das wird sie früher oder später in viel größerem Maße wirklich betreffen.



Ist Punkrock in diesem Kontext noch wichtig, kann Punk noch irgendwas bewirken?

Ich denke, die Antwort liegt auf der Hand. Punkrock war ein wichtiges Mittel zur Informationsverbreitung und ist es immer noch. THE CLASH haben das seinerzeit ausgiebig bewiesen und das Leben von vielen Leuten beeinflusst. Viele wussten nicht, was Joe Strummer da eigentlich erzählt, sie beschäftigten sich mit dem Thema und fanden so heraus, was es mit den "Spanish Bombs" auf sich hat. So tat sich dann für viele Leute eine ganz andere, neue Welt auf, und ja, es sind auch Leute durch Punkrock zu Aktivisten geworden, wurden durch bestimmte Spielarten des Punk radikalisiert. Aber klar ist auch, dass es die verschiedensten Spielarten von Punk gibt, die rein gar nichts mit der Weitergabe von Wissen zu tun haben.



Vielfach ist es auch eine handzahme Rebellion geworden, wo Leute mit einem Majorlabel im Rücken in Rock-Videos verkünden "I'm not going to do what you tell me!"

Ja, aber das ist ja nichts Neues, das gab es auch schon 1977. Es gab auch damals schon Bands, etwa die HOT NASTIES, die rein gar nichts zu sagen hatten. Die hatten kein Interesse daran, dieses neue Do-It-Yourself-Vehikel dazu zu benutzen, dass die Gesellschaft vielleicht etwas besser funktioniert, weil man die Leute dazu gebracht hat, sich zu informieren und zu diskutieren. Auch damals schon haben das viele Bands nicht verstanden, und heute ist das genauso, und die verdienen auch noch gutes Geld damit. Punk ist zu einer Millionen Dollar schweren Industrie geworden, und diese Kommerzialisierung des Punk, die gab es damals noch nicht. Aber es wird immer Leute geben, die sagen, dieser ganze Politikscheiß sei ihnen egal, das sei nicht cool. Aber was soll's, das war damals so, in den Achtzigern auch, und ist auch heute noch so.

Das bringt mich zu der Frage, ob "Punkrock" als Begriff heute nicht so nutzlos geworden ist wie der Begriff "Terrorist". Das Wort "Terrorist" ist für mich ein ziemlich nutzloser Begriff, den ich allerdings auch selbst gelegentlich verwende. Er rutscht mir einfach so raus, weil er so allgegenwärtig ist, und dann bezeichne ich Osama Bin-Laden als Terrorist, oder wer auch immer gerade dafür verantwortlich ist, dass irgendwo Zivilisten in die Luft gesprengt werden. Dabei bin ich der Meinung, dass es völlig inakzeptabel ist, Zivilisten in die Luft zu sprengen, ob nun mit einem Auto auf einem belebten Markt oder mittels eines Kampfjets, der ein Stadtzentrum bombardiert. Es ist Terrorismus, ja, aber man kann jetzt eben argumentieren, dass der Terrorist des einen der Held des anderen ist und der Begriff somit keine Bedeutung mehr hat. Manche bezeichnen Israel als terroristischen Staat und sie belegen das überzeugend. Andere nennen Osama Bin-Laden einen Terroristen und auch sie überzeugen. Aber beide so genannten "Terroristen" sagen nun, sie seien keiner, benennen aber ihr Gegenüber als einen solchen. Und so wird der Begriff nutzlos.

Und das Gleiche kann man mit Punkrock durchexerzieren. Wir haben unsere Band in den letzten anderthalb Jahren bewusst nicht als "Punkrock" bezeichnet, denn was zur Hölle ist Punkrock? GREEN DAY? Oder ist Punkrock am Ende noch viel kommerzieller als die? Ja, es gibt da draußen noch kommerziellere Bands, die mit Nietengürteln und schwarzer Stachelfrisur und schwarz geschminkten Augen auf die Bühne gehen, und die sind angeblich auch Punkrock. Ganz früher war die Definition von Punkrock mal viel enger, einfach weil Punkrock als Phänomen viel kleiner war. Punkrock, das war die begriffliche Klammer für all jene, die irgendwie nicht dazugehörten, die sich als Außenseiter fühlten. Die schauten sich das System um sie herum an und sagten entweder "Das System ist am Arsch, ich will da nicht dazu gehören", oder "Das System ist schon okay, aber ich bin kein Teil davon, ich bin viel zu seltsam, zu hässlich, zu anders". Und so wurden sie Teil von Punkrock. Punkrock war ein Ausdrucksmittel für diese entrechteten Jugendlichen, und in diesem Sinne machte der Begriff Sinn, er hatte eine Bedeutung. Aber heute ist die Bedeutung eine andere, denn so genannte Punkrock-Bands sind Millionäre und drehen Videos für 60.000 Dollar. Die sind nicht entrechtet, die sind Mainstream!

Ich erinnere mich, wie neulich, als ich bei meiner Mutter zu Besuch war und der Fernseher lief, der Nachrichtensprecher verkündete, Avril Lavigne werde 2010 bei der Eröffnung der Olympischen Spiele auftreten - und ergänzte "Punk Rock at the Olympics!" Was für ein beschissener Witz, Mann ... Der hatte ja keine Ahnung, was er da sagte. Wenn für den Avril Lavigne Punkrock ist, was hat der Begriff dann noch für eine Bedeutung? Er steht sicher nicht für entrechtete Jugendliche. Und was ist an Avril Lavigne rebellisch? Und ich sehe auch nicht, dass diese Rockstars sich darum bemühen, eine irgendwie alternative Gemeinschaft zu schaffen, was 1977 und vielleicht auch noch 1983, 1984 für viele Leute für die Idee von Punk stand. Stattdessen geht es um Marketing und Geldverdienen.

Übersetzung: Joachim Hiller