KETTCAR

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Willkommen auf der Insel der Reichen

Was haben DJ Ötzi und KETTCAR gemeinsam? Die Antwort ist einfach: Beide verkaufen in Zeiten des radikalen Umbruchs in der Musikindustrie mehr als 100.000 CDs und werden auf Konzerten frenetisch bejubelt.
KETTCARs drittes Album "Sylt" erscheint im April auf Grand Hotel van Cleef, und man dürfte, sogar ohne es gehört zu haben, behaupten, dass die Hamburger Band damit weniger als andere Top-Ten-Kandidaten auf die schnapsgetränkten Partyzelte des Après-Ski-Wahnsinns zielt. Klar, auch KETTCAR spielen Popmusik, die aber appelliert an Herz und Verstand und nicht an den Promillespiegel.


Die Band macht sich selbst, sie ist unverkäuflich und spielt schon gar nicht Musik, nur um anderen zu gefallen. Warum kommt sie trotzdem so gut an?

"Natürlich bin ich stolz, wenn ich sehe, dass unser letztes Album direkt in die Top 5 eingestiegen ist, aber letztendlich sind das alles nur Zahlen, und Zahlen sind relativ", fasst Sänger Markus Wiebusch den kommerziellen Erfolg von KETTCAR zusammen. Trotzdem, in einer gerechteren Welt müsste seine Band eigentlich auf Platz eins stehen, denn "wir hätten das absolut verdient. Ich weiß, dass wir viel besser sind als der ganze Dreck, der sonst in den Charts ist". Betrachtet man die industrielle Musiklandschaft in Deutschland, so fällt es leicht, ihm zuzustimmen, selbst wenn man kein Fan der deutschsprachigen Popmusik ist. Markus erzählt von den Konsequenzen des Erfolgs: "Der Vorteil ist natürlich, dass wir nun von der Musik leben können. Wir können uns voll auf KETTCAR konzentrieren und müssen nicht mehr nebenbei im Hafen Kisten schleppen. Durch die Krise der Musikindustrie muss man auch ganz klar sagen, dass ‚Erfolg‘ relativ ist - wir baden sicherlich nicht den ganzen Tag in Champagner, sondern haben für unser eigenes Label Grand Hotel viel Geld verballert, das wir mit KETTCAR eingespielt haben. Der größte Unterschied zu unseren Anfangstagen ist, dass wir uns endlich als Musiker sehen können und nicht mehr als Taxifahrer oder sonst was. Auf unsere Herangehensweise an Songs oder unsere Themenauswahl hat der kommerzielle Erfolg aber keinen Einfluss."

Nach ... BUT ALIVE und RANTANPLAN ist KETTCAR die dritte Band in Markus' Leben, mit der er in vollen Hallen spielt. Zweifellos sind für KETTCAR die Hallen noch ein ganzes Stück größer geworden, nicht nur deshalb dürfte es seine wichtigste Band sein. Schon in einem früheren Interview erzählte er mir, dass er mit Punk und Ska längst abgeschlossen habe und sich fortan in Drei-Minuten-dreißig-Popsongs mitzuteilen gedenke. Dabei spielen die Texte, mehr noch als die Musik, eine entscheidende Rolle: KETTCAR nutzen die Musik als einen Raum, in dem sich die Texte entfalten können - hier steht kein Wort zufällig, jeder Satz ist von Bedeutung. Die Musik wird dabei zwar nicht zur bloßen Nebensache degradiert, schließlich handelt es sich bei dem Quintett aus Hamburg immer noch um leidenschaftliche Musiker und nicht um Dichter, und doch hat sich die Musik den Texten unterzuordnen. Sie ist eben nur ein Teil des Konzepts: Ein geistreiches Gemälde in einem schäbigen Rahmen würde ja auch nicht zwangsläufig Begeisterungsstürme auslösen. Bei KETTCAR jedoch scheinen alle Komponenten stimmig zu sein, wie sonst ließe sich erklären, dass sie von ihrem Publikum so geliebt werden und ihre in der Regel ausverkauften Konzerte von der ersten bis zur letzten Zeile aus tausenden Kehlen mitgesungen werden?

Dass KETTCAR so erfolgreich sind, weil sie den vielen jungen Fans etwas geben, das in dieser Form vorher nicht existiert hat und deshalb bisher in der deutschsprachigen Musik vermisst wurde, glaubt der Sänger indes nicht: "Das ist Quatsch. Dieses Phänomen hat eher was mit der Identifikation mit Musik zu tun. Das war früher bei mir und MINOR THREAT oder SPERMBIRDS nichts anderes. Ich habe die Musik geliebt und bin den Bands hinterhergereist, weil diese Bands meine Sprache gesprochen haben. Ich habe mich in den Songs wiedergefunden, das war mein Ding. Die coolen Zyniker, die heute sagen, Musik und Identifikation seien zwei Paar Schuhe, sind früher mit 16 auch Fans von irgendwelchen Bands gewesen, durch die sie sich verstanden fühlten."

KETTCAR bieten also reichlich Identifikationspotenzial. Sich zufrieden zurücklehnen und auf dem Erreichten ausruhen, ist Markus' Sache aber nicht: "Da könnte ich auch eine Million Platten verkaufen, und ich hätte nicht das Gefühl, an einem Ziel angekommen zu sein." Darum gehe es aber auch gar nicht, eher schon um sein Bestreben, das ihm "wie ein Stachel im Fleisch" sitze, nämlich "das beste, das wirklich allerbeste" Album zu machen. Genau das ist ihm und seiner Band offenbar auch mit "Sylt" nicht geglückt: "Ich könnte jetzt schon wieder hingehen und sagen, hier und da hätten wir was anders, besser machen können." Das sei bei ihm immer schon so gewesen, sagt der Perfektionist, aber glücklicherweise sei dieses Gefühl diesmal weniger stark als noch bei den beiden Alben zuvor. Letztendlich bleibe abzuwarten, wie die Songs live funktionieren, weil man auf der ersten Tournee die Songs noch einmal neu begreife.

Neu ist ein gutes Stichwort, denn nach eigener Aussage haben KETTCAR auf "Sylt" einiges anders gemacht: "Wir wollten eine neue Herangehensweise ausprobieren, sowohl was Texte als auch Musik angeht." Allerdings lassen sich nur geringfügige musikalische Veränderungen feststellen, der Sound wurde um kleine Experimente und Feedbacks ergänzt, im Ganzen fährt man jedoch weiter auf dem bewährten Kurs, mit den weichen, melodischen Strukturen. Von einer Neuorientierung der Musik kann deshalb eigentlich keine Rede sein. Im Vorfeld wurde dennoch einiges über den "neuen Ansatz" berichtet, es wurde verbreitet, bei KETTCAR werde "nicht mehr gekuschelt". Da ist die Frage erlaubt, ob KETTCAR denn jemals für Kuschelrock und artverwandte Lyrik verantwortlich gewesen sind. Wem Texte nichts bedeuten, dem könnte der softe Touch des KETTCAR-Sounds - der in einem Lied wie "Im Taxi weinen" gern die großen Gefühle anspricht - dafür sicherlich Anhaltspunkte liefern, alle anderen nennen den bisherigen Weg der Gruppe einfach "befindlichkeitsfixiert". Ein Wortkonstrukt (erfunden übrigens von Markus selbst), das es in vielen großen, sonst rhetorisch gewandten Magazinen zum Nonplusultra gebracht hat, wenn es darum geht, KETTCAR zu beschreiben. Vielleicht liegt genau hier die Ablehnung derjenigen begründet, die KETTCAR für eine stinknormale Deutschpop-Gruppe mit Gefühlen und überinterpretierten Songs halten. Doch offenbar aber hat selten jemand der Generation mit iPod und IQ so sehr aus dem Herzen gesprochen wie KETTCAR.

Nun soll genau damit Schluss sein. Für "Sylt" sei die Perspektive gewechselt worden, so Markus. Wo früher der Blick nach innen gerichtet war, wird nun über das Außen berichtet. Wichtig ist nicht mehr, was mit mir, sondern was mit den vielen Menschen und Verlierern passiert, während die Kälte des Kapitalismus uns immer tiefer in die gesellschaftlichen Glieder fährt. Andere Bands mit ähnlicher textlicher Schwerpunktsetzung werden gern als "sozialkritisch" bezeichnet, nicht so häufig jedoch KETTCAR. Ein großes Missverständnis liege vor, wenn KETTCAR für eine unpolitische Band gehalten wird. "Wir sind politisch." Markus lässt keine Unklarheit gelten, er sieht seine Aufgabe als Künstler darin, die bestehenden Verhältnisse kritisch zu beschreiben und zu hinterfragen; sicher, es sei schwer zu sagen, wie viel eine Band oder ein Song verändern könnte, aber den Verlierer, dem Würde und Besitz verweigert werden, "ins Licht zu rücken, zu zeigen, dass er da ist, und außerdem zu fragen, warum es immer mehr Menschen wie ihn gibt", das erscheint im Bereich des Möglichen. Wichtig sei, so Markus, dass KETTCAR eben nicht in die "neoliberalen Jubelstürme" der besser verkaufenden deutschen Bands einstimmen. "Wenn man sich den Ausdruck bei denen mal anguckt: am Ende wird dann eben doch alles gut, du musst es nur wollen, dann kannst du es auch schaffen. Ich dagegen sage: Ich bin nicht einverstanden. Gibt es nicht noch eine Alternative?"

KETTCAR machen sich im Rahmen ihrer musikalischen Möglichkeiten für eine Alternative zur herrschenden Gesellschaftsordnung stark: Sie unterstützen als Band verschiedene Menschenrechtsinitiativen, sie gaben während des G8-Treffens in Heiligendamm im vergangenen Sommer ein Konzert im Camp der Gipfelgegner. Zumindest auf der textlichen Ebene ist mit den Hamburgern fortan ausdrücklich nicht mehr zu spaßen. Dazu passend, weil nicht passend, sei der Titel gewählt, "Sylt", nach Auffassung von Markus ein kurzer, "sehr verstörender" Titel. "Dieses Mal ist es uns nicht gelungen, das Album mit einem Titel so zusammenzufassen, wie es bei den ersten beiden Alben war. Der Titel ‚Sylt‘ ist deshalb in diesem Sinne ein doppelter Bruch: Erstens brechen wir mit dem Titel, denn das Wort ‚Sylt‘ verkörpert genau das Gegenteil von dem, wofür das Album steht, und zweitens verbindet jeder irgendwas mit ‚Sylt‘ - ich zum Beispiel prolligen Reichtum und auch eine schöne Insel. Das alles aber hat nichts mit dem Album zu tun", sagt der Sänger. Das sind düstere Aussichten, die optisch gut in Szene gesetzt werden vom Coverartwork mit dem Gemälde einer Hochbahn, ein technisches Motiv in kalten Farben.

Angst davor, dass die etwas anderen, weniger kuscheligen Songs von "Sylt" vom Publikum nicht gut aufgenommen werden, hat Markus nicht. "Ich habe keine Erwartungen. Wir lösen uns bestimmt nicht auf, nur weil ein Album nicht gut ankommt. Wir machen einfach weiter." Richtig eng wird es wahrscheinlich ohnehin nicht werden, der Vorverkauf für die Tour im April und Mai laufe gut, so Markus. "Die Leute haben uns nicht vergessen. Und sollten sie die neuen Songs nicht so mögen wie die alten, spielen wir sie trotzdem und werden uns nicht auf ein Best-Of der letzten beiden Alben beschränken."

Auch wenn die so beliebten KETTCAR in musikalischer Hinsicht nicht jedermanns Fall sind, so lässt sich aus ihrem Beispiel zumindest eine gute Nachricht für alle ableiten: Aufrichtigkeit und Konsequenz führen in unserer Gesellschaft manchmal trotzdem zum Erfolg.