ROSE OF AVALANCHE

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Rise to the groove

Leeds, gelegen in der verschlafenen Grafschaft Yorkshire, pflegte in den frühen achtziger Jahren die Tradition, Bands hervorzubringen, die einen Drumcomputer einem leibhaftigen Bandmitglied vorzogen. Die bekanntesten Protagonisten waren hier sicherlich die SISTERS OF MERCY, denen zudem der "Thin white duke" des Gothic-Rock in Gestalt von Andrew Eldritch zu verdanken ist und die ihrer Drum-Machine den Namen Dr. Avalanche gaben, die im Übrigen auf deren Tourneen zeitweise von Simon D. betreut wurde, dem mit seiner Band THE MARCH VIOLETS (ebenfalls aus Leeds und beim Sisters-eigenen Label Merciful Release unter Vertrag) ein sehr ähnlicher Sound gelang. Eben dieser Drumcomputer der Sisters war Namenspate der auch aus Leeds stammenden THE ROSE OF AVALANCHE, die allerdings später einen echten Drummer für die Band rekrutierten. Als Fußnote bei der Namensfindung beider Bands mag man sich vergegenwärtigen, dass sowohl "Sisters of Mercy" (1968) als auch "Avalanche" (1971) zwei Songs aus dem Frühwerk von Leonhard Cohen sind, der sicher erheblichen Einfluss auf diese Bands hatte.



Die Gruppe, gegründet im Frühjahr 1985 von den Schulfreunden Phil Morris und Paul James Berry, hatte im Herbst 1985 mit "L.A. Rain" - einem ihrer besten Songs, den Lou Reed nie geschrieben hatte (Sänger Phil Morris lag, ähnlich wie Jonas Almqvist von der schwedischen Formation THE LEATHER NUN, unglaublich nahe an der Stimme von Lou Reed) - und "Goddess" zwei Singles veröffentlicht. Beide schafften es auf Anhieb auf Platz 1 in den britischen Independent-Charts. Das ist umso beachtlicher, als THE ROSE OF AVALANCHE bis zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen Live-Auftritt gehabt hatten. Während "L.A. Rain" klar an die Tradition amerikanischer Rockmusik im Geiste der STOOGES, Iggy Pop und THE DOORS angelehnt war, und Morris versuchte stets, einen amerikanischen Akzent zu kultivieren. Und "Goddess" war eindeutig eine klare Reminiszenz an die SISTERS OF MERCY (unter Umständen wäre es eine würdige B-Seite für deren Song "Alice" gewesen). Beide Singles und zwei weitere Songs ("American girls" und "Stick in the works") wurden zunächst auf dem lokalen Leeds Independent Label (LIL) als "First Avalanche" veröffentlicht, bevor die Band dann bei Fire Records unterschrieb.

John Peel wurde früh auf die Gruppe aufmerksam und verschaffte ihr massives Airplay. Bereits im Mai 1985 lud er THE ROSE OF AVALANCHE zu einer Session ein und sie spielten vier Songs ein, unter anderem eine Coverversion von "Gimme some lovin'", geschrieben von Steve Winwood für die SPENCER DAVIS GROUP, was ein starkes Indiz für ihre tiefe Verwurzelung im klassischen Rock'n'Roll war, was auch ihre Coverversion von "Dizzy Miss Lizzy" von den BEATLES nahe legt. Live arbeitete die Gruppe in das Intro ihres Songs "Rise to the groove" Fragmente aus dem DOORS-Klassiker "L.A. woman" ein. THE ROSE OF AVALANCHE schafften es 1985 in John Peels alljährliche Best-Of-List "Festive Fifty" auf Platz 26. Anschließend veröffentlichten sie auf Fire Records einige Singles, unter anderem das etwas popinspirierte "Velveteen", eine Hommage an Nico, in deren Vorprogramm die Gruppe auch spielte: so offenbart sich erneut der Einfluss von VELVET UNDERGROUND. Im Oktober 1986 ging die Band mit THE MISSION auf Tour, was naturgemäß, aber zu Unrecht ihr "Gothic-Image" förderte. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Band bereits massive Probleme mit ihrem Label. Sänger Phil Morris konstatierte einmal, dass bei einer entsprechenden Unterstützung durch Fire Records THE ROSE OF AVALANCHE größer hätten werden können als es THE MISSION je waren.

Mittlerweile hatten auch einige Majorlabels Interesse an der Band bekundet. Doch Fire Records konterkarierte dieses Vorhaben und gab gegenüber deren Vertretern völlig überzogene (und falsche) Verpflichtungen an, die THE ROSE OF AVALANCHE angeblich noch für das Label hätten, es war von mehreren Alben die Rede. Es folgte ein über 18 Monate andauernder Rechtsstreit, bis Fire Records die Gruppe aus ihrem Vertrag entließ, wobei sie allerdings sie circa 30.000 Pfund aus den Verkaufseinnahmen zurückhielten. Danach ging die Gruppe erneut ins Studio. Doch Fire Records zwang das Studio zur Herausgabe der Mastertapes für vier Songs - von der Band selbst als unfertig eingestuft - und veröffentlichte diese auf der EP "In Rock". Da in der Zwischenzeit auch die Majorlabel ihr Interesse verloren hatten, gründete die Gruppe im Winter 1988 mit Avalantic Records ihr eigenes Label. Die erste Single, mit einer eher konventionellen Rockattitüde versehen, nannten sie - ganz programmatisch - "The World Is Ours". Zu diesem Zeitpunkt hatte die Gruppe ihren eigenständigen und markanten Sound bereits etwas verwässert. Es folgten zwar noch einige Alben wie "Never Another Sunset" (1989), das etwas hippielastige Album "String ‚A' Beads" (1990) (mit einem unentschuldbaren Cover,einem Bandfoto, das an eine etwas desolate Kommune erinnert), sowie ihr letztes Album "I.C.E." (1991). Keiner der Songs hat je mehr die Qualität und Originalität ihrer ersten Singles erreicht.

Als Gitarrist Paul James Berry, gemeinsam mit Sänger Phil Morris das kreative Rückgrat der Band, die Gruppe verließ, lösten sich THE ROSE OF AVALANCHE Anfang der neunziger Jahre auf. Drummer Andy Porter tauchte später bei der deutschen Darkwave-Formation LOVE IS COLDER THAN DEATH auf. Paul James Berry veröffentlichte weiter Platten, die eher dem Singer-/Songwriter-Genre zuzuordenen waren. Das 1996 veröffentlichte Album "Paul James Berry", das weder ein Plattenlabel noch einen Vertrieb fand, war ein sehr unaufgeregtes und beschauliches Album, welches sich aber auf Konzerten recht gut verkaufte. Im Jahr 2000 erschien das Album "Ginnel" und verschaffte ihm wesentlich größeres Echo (er hielt sich bis dahin mit Auftritten in Pubs und "every shithole I could find" über Wasser), vermutlich auch wegen der in der Musikpresse immer wieder verlautbarten Reminiszenzen, die ihn nun in einem Atemzug mit Leonhard Cohen, Nick Cave und Stuart Staples (TINDERSTICKS) nannten. Neben der Gitarre und seiner einprägsamen Stimme wurde das klassische Singer-/Songwriter-Material durch den Einsatz diverser elektronischer Versatzstücke erweitert. Schön und unspektakulär.

Sein drittes Album "Nations" erschien im Jahr 2004, zu einer Zeit, als Paul James Berry seinen Lebensunterhalt unter anderem als Müllmann in Paris verdiente - auf dem deutschen Label Supermusic, koproduziert von Jansen (ex-M WALKING ON THE WATER). Der musikalische Radius ist gekonnt durch den Einsatz von Piano, Akkordeon und Bläser erweitert. Die Songs verströmen eine melancholische Wärme und sind wesentlich vielseitiger als seine früheren Veröffentlichungen. Einige Songs wecken Erinnerungen an Chris Eckman von den WALKABOUTS. Und immer dann, wenn ein Stück sich zu einem von Trompete begleitenden Showdown aufschwingt, denkt man unweigerlich an CALEXICO, für die er bereits im Vorprogramm spielte. Auch hier geht Berry mit seiner Stimme in Richtung Nick Drake und Stuart Staples - allerdings tritt sie hin und wieder zu sehr in den Vordergrund. Er raunt, flüstert, schwelgt und leidet, was das Zeug hält (You name it!). Dennoch: was bleibt, ist die Erinnerung an einen Musiker, dem es im Laufe seines musikalischen Werdegangs immer wieder gelang, große Momente erlebbar zu machen und den Hörer zu begeistern, so wie beispielsweise die Schauspielerin Milla Jovovitch, die ihm während eines Konzerts in London bescheinigte: "You've got a beautiful and incredibly powerful voice."