KASHIWA DAISUKE

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Über die Vollkommenheit einer Kirschblüte

Wenn ich früher gefragt wurde, welche aktuelle Platte ich empfehlen könnte, schaute ich meinen Gegenüber immer recht lange und stumm an, denn in meinem Kopf arbeitete es heftig und vor meinem geistigen Auge durchwühlte ich den ganzen Stapel der zuletzt gehörten Platten und CDs gleich mehrmals. Keine einfache Frage, denn bei aktuellen Platten fiel es mir immer besonders schwer, mich endgültig festzulegen. Der Fachmann brauchte Zeit, musste abwägen, denn schließlich sollte das Ergebnis auch vor der Ewigkeit Bestand haben. Was könnte meinem Gegenüber wohl am ehesten gefallen? Was ist noch ein Geheimtip?

So viel stand fest, eine "normale" Empfehlung wollte von mir niemand hören! Das musste schon irgendwas aus der Zauberkiste sein. Eine Platte, mit der man sich länger auseinandersetzen kann. Eine, die man sich erarbeiten muss. Musik, bei der man die komplette Welt da draußen vergisst, von der man gefangen genommen wird, der man dann uneingeschränkt und intensiv zuhört. Musik, die auch nach dem x-ten Durchlauf immer noch neue, verborgene Töne preisgibt. Nein, nicht einfach ein Album, das nur "gut" ist, weil es gerade im CD-Player stecken geblieben ist und beim Einschalten automatisch anläuft, bis man nicht mehr weiß, warum es dort überhaupt so lange überleben konnte. Ich weiß nicht, wie vielen Menschen ich jetzt schon "Program Music 1" (Noble/a-Musik, noble-label.net) von Kashiwa Daisuke empfohlen habe. Für mich steht sie jedenfalls ganz oben in meiner ewigen Bestenliste und, um das alte Klischee zu bemühen: Ich würde sie garantiert mit auf die einsame Insel nehmen! Das alleine dürfte wohl schon genug über die Qualität und Bedeutung dieser Platte aussagen.

Hinter einem so profanen Albumtitel verbirgt sich ein unheimlicher Klangkosmos, eine so unglaubliche Platte, die eine absolute Verschmelzung von klassischen Themen/Komposition und der Kraft/Ausdruckstärke so genannter Unterhaltungsmusik mit ihrer gesamten Bandbreite darstellt. Für dieses Meisterwerk gab und gibt es einfach immer noch keine Kategorie. Hier gehen europäische Musik und asiatische Traditionen eine leidenschaftliche Klangehe ein, die etwas vollkommen Neues und Eigenständiges entstehen lässt. Ich feiere die Wiederauferstehung der progressiven "Rockoper", in der ab jetzt kein gesungenes oder gesprochenes Wort mehr notwendig ist. Modernste Produktionstechniken werden hier so selbstverständlich genutzt und spielerisch integriert, dass sie nur ein weiteres Stilmittel sind und nie durch Überladung das Gesamtkonzept gefährden. Diese Musik lässt neue Welten aus nur einem Ton entstehen und ist gleichzeitig der Soundtrack dazu. Hier wird wirklich ganz großes Kopfkino zelebriert. Kashiwa Daisuke aus Tokio hat mit seiner kindlichen, unschuldigen Musik eine universell verständliche Sprache gefunden, die mich direkt und tief im Herzen berührt. Auf dieser Platte herrscht vollendeter Einklang. Sie ist bunt, modern, leidenschaftlich ... Leicht, tragisch, melancholisch gebrochen ... Überschwänglich, gewaltig und epochal ... Wunderschön, kraftvoll und zerbrechlich ... Intimer geht es fast nicht mehr ... Ich wollte alles über diesen Klangmagier wissen und machte mich per Internet auf ins ferne Japan, um ihm einige Fragen zu stellen. Was sich als ein gar nicht so einfach herausstellte, denn Kashiwa Daisuke spricht kein Wort Englisch, aber dank fleißiger Übersetzungshelfer gelang es mir dann doch, einige Antworten zu bekommen!


Wie war dein musikalischer Werdegang? Angefangen hat alles ja als Gitarrist in einer progressiven Rockband namens YODAKA.

Es war die normale Rockmusik, die mich dazu brachte, damit anzufangen Gitarre zu lernen. Als ich dann in einer Rockband spielte, wurde ich schrittweise an den Progressive-Rock herangeführt. Ich bin stark durch Progressive-Rock beeinflusst, zwar nicht musikalisch, sondern eher in punkto Songaufbau.

Ryuichi Sakamoto, früher bei YELLOW MAGIC ORCHESTRA, ist einer deiner größten Bewunderer. Was ist das für ein Gefühl, so von einem der einflussreichsten und bekanntesten japanischen Musiker überhaupt gefördert zu werden? Gibt es in der Zukunft vielleicht eine direkte Zusammenarbeit?

Ich bin wirklich stolz darauf, dass er mich so lobt! An einer Kollaboration wäre ich schon sehr interessiert, aber ich denke, dass es sehr schwer werden wird, denn dazu bin ich einfach noch nicht berühmt genug.

Du hast bei dem Hör-Musik-Buch-Projekt "Des Névroses Pour La Saint Valentin" von Françoise Cactus, STEREO TOTAL, mitgearbeitet und Teile für den Soundtrack komponiert. Kannst du bitte etwas über diese Zusammenarbeit erzählen?

Das Label ONPA))))) unterbreitete mir damals den Vorschlag daran teilzunehmen. Der Gedanke war, Europa und Japan zu verbinden und ich wurde als japanischer Musiker ausgewählt.

Dein erstes Album "April.02" wurde vom deutschen Label ONPA))))) - onpa.de -veröffentlicht. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Nachdem ich für "Des Névroses Pour La Saint Valentin" meine Stücke abgeliefert hatte und der Labelbesitzer meine Musik mochte, bekam ich das Angebot, ein komplettes Album für ONPA))))) aufzunehmen.

Im Rahmen der Präsentation von "April.02" warst du auch in Deutschland auf Tour. Wie gefällt dir Deutschland und welche Eindrücke hast du von hier mitgenommen?

Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich mir sogar vorstellen könnte, dorthin auszuwandern! Was mich am meisten beeindruckt hat, war der Vergleich eurer Bauwerke aus Stein mit der traditionellen japanischen Holzarchitektur. Die Festigkeit, Kälte und einzigartige Präzision, die von dieser Kultur ausgeht, ist schon faszinierend und steht vollkommen im Gegensatz zu den gebildeten und freundlichen Menschen, die ich traf.

Von "April.02" gibt es auch eine Remix-Version, die als "April.07" veröffentlicht wurde. Remixe und Kollaborationen mit anderen Musikern scheinen überhaupt eine sehr wichtige Rolle in deiner Musik zu spielen. Was ist das Interessante an solchen Projekten und Arbeiten?

Wie du schon richtig festgestellt hast, ich liebe es einfach, Lieder anderer Künstler zu remixen! Es ist eher eine Neukonstruktion, eine andere Herangehensweise oder Blickwinkel, ohne dabei die ursprüngliche Stimmung eines Songs zu verändern. Das fasziniert mich immer wieder und ist jedes Mal eine große Herausforderung.

Deine Musik ist äußerst abwechslungsreich und vielfältig. Was sind deine größten musikalischen Einflüsse und welche Musiker sind deine Vorbilder? Was sind für dich die Quellen deiner Inspiration und was sind deine Lieblingsplatten/Favoriten?

Den größten musikalischen Einfluss auf mich hat immer noch QUEEN. Besonders ihr Album "Queen 2" gehört bis heute zu meinen Favoriten. Ein weiterer wichtiger Einfluss ist der italienische Noise-Künstler M.B. aka Maurizio Bianchi. Ich habe immer Angst davor, mich da endgültig festzulegen, denn es gibt einfach zu viele Platten, die ich liebe ... Da kann ich mich überhaupt nicht entscheiden. Ansonsten lasse ich mich sehr von Romanen inspirieren.

"Program Music 1" ist für mich eines der schönsten und in sich geschlossensten Meisterwerke der elektronischen Musik. Kein Ton zu wenig. Kein Klang zu viel. Das perfekte Album. Kannst du etwas über die Entstehungsgeschichte und die Aufnahmen erzählen?

Danke für das Lob. Ich freue mich sehr, dass dir das Album so gefällt. "Program Music 1" ist mit der Absicht entstanden, dass ich Geschichten nur mit Musik, ohne ein einziges Wort, erzählen wollte. Dann habe ich nach einer Geschichte gesucht, die sich dafür eignen würde und so basieren die Songs auf Romanen meiner Lieblingsautoren. Ziel war es, diese Geschichten konkret musikalisch umzusetzen und nicht einfach nur einen Soundtrack zu den Geschichten einzuspielen. Ich bin sehr glücklich, wenn die Menschen diese verschiedenen Sichtweisen und Gedanken beim Hören nachvollziehen können.

Die beiden Tracks beruhen ja auf zwei Geschichten: einmal "Night On The Milky Way Railroad" von Ginga Tetsudou No Yoru, in der ein von der Welt verlassener Junge in eine Traumwelt flüchtet, und dann "Run Melos!", eine auf der "Bürgschaft" von Schiller fußenden japanischen Erzählung, in der Melos laufen muss, um seinen Freund vor der Hinrichtung zu bewahren. Was hat dich dazu veranlasst, diese Geschichten musikalisch umzusetzen?

Beide sind meine Lieblingsautoren und so dachte ich, dass diese Geschichten am besten dazu geeignet sind, um meine persönlichen Werte und Sichtweisen auf diese Welt zu vermitteln.

Wie erarbeitest du dir deine Musik und mit woher bekommst du diese ganzen fantastischen Sounds?

Nun, es sieht so aus, dass ich nicht vorwärts gehe, sondern eher sehr weit in meine Vergangenheit zurück. Vielleicht um wieder etwas zu fühlen, das ich in meiner Kindheit oder noch früher erlebt habe. In kleinen Schritten rufe ich mir diese Erinnerungen zurück in mein Gedächtnis.

Du bist in Hiroshima geboren. Spielt die besondere Geschichte dieser Stadt für dich eine Rolle in deinem Leben und hat sie Auswirkungen auf deine Musik?

Ja, das beeinflusst meine Musik schon stark! Ich bin in Hiroshima aufgewachsen und verbrachte meine Jugend dort. Die ganze Zeit wurde ich mit den bekannten Fotos und Filmen konfrontiert, von denen einige wirklich schwer zu ertragen waren. Ich betrachtete sie mit sehr gemischten Gefühlen und Gedanken. Ich konnte das Leben und den Tod dieser Menschen sehr stark spüren. Mein ganzes weiteres Leben, meine Kunst und Musik wurden dadurch geprägt.

Es wird schwer sein, diese Kompaktheit und Schönheit mit der nächsten Veröffentlichung und den damit verbundenen Erwartungen noch zu übertreffen. Was planst du, außer weiteren Remixen, für dein nächstes Album?

Ich arbeite gerade parallel an drei verschiedenen Veröffentlichungen. "Program Music 2" ist in Arbeit und die beiden anderen haben wieder komplett neue Konzeptionen. Ich denke, es wird nicht schwer, meinen Ansprüchen weiter gerecht zu werden, denn für mich zählen eigentlich immer nur die aktuellen Arbeiten, die sind neu, aufregend und großartig.

Du spielst ja auch häufig "live". Wie sieht deine Bühnenpräsenz/-show aus und wie sind die direkten Reaktionen des Publikums auf deine Musik, die ja eher konzentriertes Zuhören erfordert und alles andere als eine pure "Tanzveranstaltung" ist.

Studioarbeit und Live-Performance unterscheiden sich komplett voneinander. Mit den Studioveröffentlichungen möchte ich erreichen, dass die Menschen aufmerksam zuhören, am besten sollten sie dazu alleine sein und Kopfhörer benutzen. Die Livemusik dagegen betrachte ich als reine Unterhaltungsshow, um mit vielen anderen Menschen zu tanzen und bis jetzt habe ich nur positive Rückmeldungen bekommen.

Mit welchen Mitteln bestreitest du die Live-Shows?

Ich nutzte zwei Apple Powerbooks mit integriertem Sequenzer und Sampler und ein Mischpult.

Gibt es Überlegungen für eine visuelle Umsetzung deiner Musik?

Sicher gibt es auch Überlegungen in diese Richtung. Allerdings wird das sehr schwierig, denn es würde viel Geld kosten und noch mehr Zeit beanspruchen.

Wenn du die einmalige Möglichkeit hättest, ein exklusives Konzert auf dem Mond zu spielen, was würdest du dort veranstalten und wie würde sich dieses Konzert anhören?

Meine Phantasien werden bei so einen verrückten Gedanken immer unbeschreiblicher. Das Publikum hätte aber bestimmt jede Menge Spaß dabei, denn auf Grund der geringeren Gravitation könnte es herumspringen und tanzen wie noch nie.