LIFE IS PUNK: KALLE STILLE

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Ox-Schreiber im Porträt. Teil 2: Kalle Stille

Warum immer nur fremde Leute interviewen, wenn man auch selbst genug interessante Typen im Kreise der Schreiber hat? Also stellen wir regelmäßig altgediente Mitarbeiter vor, und diesmal ist Karl-Heinz "Kalle" Stille dran. Einst hatte er mit dem "Think?!?" Ende der Achtziger sein eigenes Fanzine, war dann maßgeblich am Plot-Zine beteiligt - und tobt sich seit dessen Ende im Ox aus.


Bitte stell dich vor.

Jahrgang 1966, geboren in Gelsenkirchen, getauft im königsblau-weißen Stadtteil direkt auf Schalke, im zarten Alter von zwei Jahren in den nördlichen Biblebelt um Stuttgart verschleppt, so dass mir eine Ruhrpottsozialisation glücklicherweise erspart geblieben ist, zumindest für die Zeit, in der ich keine Verwandtschaftsbesuche tätigen musste. Seither lebe und wohne ich gerne 17 Kilometer vor den Toren der Schwabenmetropole, kurz vor dem Arsch der Welt links ab. Wie es sich auf dem Land gehört, teile ich meine Unterkunft mit zwei Tieren, die für eine mäusefreie Behausung sorgen, und einem denkenden menschlichen Wesen. Kinderlos, unverheiratet, männertitten- und wurmfrei.

Wie bist du einst zu Punk/Hardcore gekommen? Was hat damals den Reiz ausgemacht, wer hat dich "rekrutiert", undwas waren die Reaktionen deiner Umgebung?

Langeweile, Radio und das ortseigene Postamt. Wer auf dem Land aufgewachsen ist, weiß genau, wie viele Freizeitmöglichkeiten es gibt, wenn man keinen fahrbaren Untersatz besitzt. Auf dem Land war es noch viel schlimmer als in der Stadt, denn es war absolut nichts geboten, wenn man es nicht selber gemacht hat. Da war noch nix mit mehr als zweieinhalb Fernsehkanälen (die Dritten haben nur halbtags gesendet), Videospielen oder Internet. Für manche unvorstellbar, aber im Sommer konntest du ins Freibad gehen, Fußball spielen oder dir gegenseitig aufs Maul hauen. Alternativ gab es noch Vereinssport wie Handball, Tischtennis oder den Schützenverein - ein bisschen wenig Anreiz, um irgendwann einmal das Erwachsenenalter erreichen zu wollen. Zum Glück gab es damals noch kein gleichgeschaltetes Radio und ein paar Verrückte, die in ihrer Sendung andere Musik spielten, für die man sie heute wahrscheinlich aus jedem größeren Sender hinauswerfen würde. Musik war der Schlüssel, alles andere kam von alleine. 1976 war ich zehn Jahre alt, Deutschland war amtierender Fußballweltmeister, es regierten schlechte Frisuren mit langen Koteletten, Schlaghosen, Partykeller und kleine Käsehäppchen. Bei jeder Gelegenheit wühlte ich mich durch die damals noch vorhandenen obligatorischen Plattensammlungen der Freunde meiner Eltern und durch die hauseigene, die ich damals grauenhaft fand. Dabei hatte ich Glück, bei uns zu Hause gab es im Gegensatz zu vielen Freunden keine Volksmusik oder deutsche Schlager, sondern Soul, Johnny Cash, KINKS, STATUS QUO, PINK FLOYD und ein paar unsägliche Hippieplatten. Babysitter standen noch nicht in den Gelben Seiten, daher schleppten mich meine Eltern des Öfteren auf kleinere Konzerte mit, wie Hannes Wader, Häns'che Weiss, Schnuckenack und andere, die hier auf den Dörfern durch kleinere Clubs tingelten. Selbstverständlich verstand ich diese Musik nicht, aber ich hatte sehr früh Zugang dazu und begann recht bald nach "eigener" Musik zu suchen.

Als Zehnjähriger stellt man sehr schnell fest, dass Erwachsene einen nicht besonders ernst nehmen, wenn es um den eigenen Soundtrack geht, aber hier bot das Radio Trost. Richtig umgehauen haben mich AC/DC, von denen ich mit 13 Jahren alle bis dahin verfügbaren Platten besaß, inklusive der Australien-Importe, die ein Taschengeldvermögen kosteten. Bis zur "Back In Black" war es ein Kinderspiel, nach nur fünf Sekunden den Songtitel zu wissen. Als "Denis" von BLONDIE im Radio lief, war ich ihnen verfallen, und noch mehr, als sie Ende 1978 im der TV-Sendung "Musikladen" auftraten. Auch in den Radiosendungen "Schlafrock" und "Point" gab es immer etwas Neues zu entdecken, Freunde schleppten neue Platten an, es wurde getauscht, und wir hörten uns gemeinsam über Nachmittage unsägliche Dinge an, weil die Scheiben einfach neu waren. Was "Punk" anging, war der Großraum Stuttgart ein Spätentwickler, die ersten richtigen Punkbands spielten hier erst 1981, aber unerreichbar weit entfernt für einen Vierzehnjährigen mit einem rostigen Rennrad. Von daher gab es keine Vorbilder, keine Blaupausen außer den Typen auf den Plattencovern, denn das größte deutsche Jugendmagazin interessierte mich nicht die Bohne, da gab ich mein Geld lieber für das neueste Mad-Heft aus.

Anfang der 80er tauchte der erste Punk an der Schule auf, der eigentlich ein Kumpel von mir war, aber von einem auf den anderen Tag völlig anders aussah. Nach einem Rugbyspiel in Heidelberg Ende 1981, bei dem mir mein unmittelbarer Gegenspieler ziemlich zusetzte, begann auch meine äußerliche Veränderung. Der Typ hatte auf seine knallgelbe Lederjacke mit schwarzem Lack riesengroß "Chaos Z" geschmiert, von denen ein paar Wochen zuvor "Abmarsch" im Radio gelaufen war. Trotz Sonnenbrille - im November-, Springerstiefeln und verregneter Stachelfrisur war der Typ in seiner Mannschaft voll und ganz akzeptiert, und er bereitete mir an diesem Tag die Hölle auf dem Spielfeld, weil er einfach besser war. Aber was der kann, konnte ich schon lange, vor allem über gute Bands nach dem Spiel fachsimpeln. Es blieb viel autodidaktische Selbsterfahrung, denn auf dem Land gehen die Uhren ganz anders. Schockierte Reaktionen hervorzurufen war dafür sehr einfach, dafür reichten schon kleine Dinge wie eine unmögliche neue Frisur, um bei der ländlichen Bevölkerung die Forderung nach der Wiedereinführung des Lagerkonzeptes zu provozieren. Dummerweise reagierten auf der anderen Seite die Leute, die einen schon vorher kannten, weil bereits man als kleiner Bub auf ihrem Hof gespielt hatte, mit einer Eselsgeduld, die durch nichts zu erschüttern war. Neben dem Ausloten von Grenzen ermöglichte Punk als Spielwiese ungeahnte neue Möglichkeiten, um etwas auszuprobieren. "Klar kann ich einen Artikel für die Schülerzeitung schreiben, was die Langhaarigen können, kann ich schon lange!" Große Klappe, nix zu verlieren - von einem Punk erwartet ja niemand etwas - und ein unerschütterlicher Wille, etwas zu Ende zu bringen, das einmal angefangen wurde. Mein erster Schritt in das Publikationswesen war dann der lauthals angekündigte Artikel in der Schulzeitung, der prompt zum Verkaufsverbot der Ausgabe auf dem Schulgelände führte. Ich konnte etwas zeichnen, schreiben, andere zu Unsinn anstiften, alles Fähigkeiten, die bis dahin brach gelegen hatten, aber sehr nützlich sein sollten, wenn man unbedingt ein Fanzine herausgeben wollte.

Was sind deine früheren, was deine heutigen "Szene"-Aktivitäten?

Angefangen hat alles mit einem Fanzine, von dem gerade mal 20 Stück kopiert wurden. Damals noch ein Gemeinschaftsprojekt von vier Punks aus dem Kaff, in dem ich noch heute wohne. Eigentlich waren wir fünf, aber einer hatte ausschließlich nur eine große Fresse und am Ende keine einzige Zeile geschrieben. Das Heft war scheiße, es roch scheiße, es sah scheiße aus, und es war klar, dass es keine zweite Ausgabe geben würde, also bastelte ich mein eigenes Fanzine. Es sollte auf keinen Fall politisch klingen, der Name sollte einprägsam sein und wenn möglich auch noch ironisch. Frage mich bitte niemand, wie ich auf den Namen "Vollsuff" gekommen bin, obwohl er alle Kriterien erfüllte. Parallel dazu sollte zu jeder Ausgabe ein Tapesampler erscheinen, was auch problemlos klappte, denn bis auf eine hatten alle angeschriebenen Bands umgehend ein Demo zurückgeschickt. Das war Ende 1983, Anfang 1984. Im Mai 1984 bekam ich von meinen Großeltern einen Walkman mit Aufnahmefunktion geschenkt - Mono! -, der ab da mein ständiger Begleiter auf Konzerten wurde und zu einem kleinen Tapelabel mit fast ausschließlich Livetapes führte, das um ein paar Fanzines und später auch um Platten erweitert wurde. Zum Leidwesen meiner damaligen Freundin liefen von da an fast jeden Tag permanent zwei Kassettendecks, so dass es immer wieder zu Unterbrechungen beim Fummeln kam, weil die Kassetten umgedreht werden mussten. Ein paar der Tapes, die ich damals aufgenommen habe, kursieren bis heute, wie VKJ in Freiburg, das irgendein Depp später als "Mannheim" vertickt hat, oder YOUTH BRIGADE in Böblingen.

Die Tapesampler verkauften sich seinerzeit sehr gut, mehr als heute manche Platte, so dass es nur eine Frage der Zeit war, die nächste Stufe zu erklimmen, nämlich eine Platte zu machen. Eine Band hatten wir schon, die gleich in zwei benachbarten Dörfern als jeweils erste Punkband überhaupt auftrat. Musikalisch hätte das etwas besser aussehen können, aber bei einer dünnen Personaldecke, wie sie abseits der Städte nun einmal vorherrscht, rauft man sich zusammen. So kam es zur Split-EP zwischen WKZ und FOH, der Band, in der ich zu dieser Zeit am Mikro stand. Richtig gut waren wir zwar nicht, aber durch die Fanzine- und Vertriebskontakte hatten wir immerhin einige Auftritte. Mein Fanzine hieß zu dieser Zeit bereits "Think!?!", was immerhin nicht mehr zu Missverständnissen und falschen Erwartungshaltungen bei einigen Leuten führte, die manchmal richtig enttäuscht waren, wenn sie keinen Vollblutalkoholiker antrafen.

Angestachelt durch viele brachliegende, unveröffentlichte Tapeaufnahmen gründete ich Ende der 80er zusammen mit einem Freund das Crime-Label, dessen Aufgabe es sein sollte, alte Tapeschätze auf Vinyl zu bannen, die sonst in irgendwelchen Tapetraderkreisen vergammelt wären. Es sollte weder Promotion noch Werbeanzeigen für die jeweiligen Scheiben geben, zwei Vorsätze, die heute unweigerlich zum Ruin jedes Labels führen würden, sofern es sich nicht ausschließlich um Miniauflagen handelt, die sich immer verkaufen lassen. So erschien die NEUROTIC ARSEHOLES-7" und die "Horst"-EP der SCHLIMMEN FINGER. Nachdem sich die weiteren Verhandlungen mit MIDDLE CLASS FANTASIES - Liveaufnahmen aus dem Berliner Tempodrom - und ÄNI(X)VÄX - Abschiedskonzert - extremst zäh gestalteten, schlossen wir nach zwei weiteren Platten das Label einfach wieder. Wer nicht will, der hat schon! Der Tapevertrieb wurde aus Zeitgründen ebenfalls geschlossen, und irgendwann hatte ich auch keine Lust mehr auf den Verkauf weiterer Think-Fanzines, weil sich viele Vertriebe äußerst schwer mit Fanzines taten, die nicht 100 Bandnamen auf dem Cover hatten.

Seither schreibe ich für andere Hefte oder mache Dinge, die mich einfach reizen oder die eben "nur" Spaß machen. Da ist die Palette sehr breit und reicht vom Plattencover der ersten ATOM & HIS PACKAGE-LP ohne jegliche Vorkenntnisse über komplette Fanzine-Layouts, Bandinfos für WIZO, MONOCHROME, das Booklet zum ersten "Punk Rock BRD"-Sampler nebst zugehörigen Bandkurzbios Part 1-3, Punkkalenderbeiträge, bis hin zu Plattenillustrationen und Zeichnungen, wie ein Schwein, das zu Massenprotesten in der arabisch-christlichen Welt um Regensburg führten.

Was vergessen? Konzertplakate, Flyer, Fanzinecover, Comics, Beratertätigkeiten, Logos, Soundrestauration für ein befreundetes kleines Label, Grafiken, T-Shirt-Motive, darunter eines der seinerzeit meistverkauften Shirts, das "Stukas over Disneyland" der DICKIES, eine Band, für die ich heute keinen Bleistift mehr spitzen würde und für das es genau zwei Freiexemplare gab. Mit einer Gesamtauflage von 1.500 Heften, geht mit dem Misfits-Zine auch das auflagenstärkste nicht abonnierbare DIN-A5-Fanzine ohne Tonträgerbeilage auf mein Konto, heute macht man so was im Internet. Seit die Aufnahmegeräte gegen eine Kamera getauscht wurden, fotografiere ich auf fast jedem Konzert. Die Bilder landen auf meiner Internetseite, die ursprünglich mal als Fortsetzung meines Fanzines gedacht war. Seit aber viele Artikel ohne Rückfrage auf anderen Seiten gelandet sind, aktualisiere ich dort nur noch Reviews und das Bildmaterial, das auf nahezu 3.000 Bilder von über 350 Bands angewachsen ist. Dort klauen ab und an Bootlegger, von denen ich wenigstens ein Freiexemplar erwarten würde, wenn sie schon nicht nachfragen könne, muss ja kein Absender auf dem Päckchen stehen. Alles andere ist mittlerweile extrem zurückgefahren oder wird abgelehnt, weil ich die Leute einfach nicht kenne. Dafür bekommen mittlerweile auch andere Leute Arbeiten, wie zum Beispiel "KIA", Kids In Action, eine Einrichtung für Kinder, die von der Mutter eines Kollegen geleitet wird. In absehbarer Zeit wird es ein Buch mit den gesammelten Werken aus 100 Jahren Fanzinetätigkeit geben, der Termin und wer es veröffentlicht, ist aber komplett offen. Grundvoraussetzung für alles war und ist, dass es reizvoll ist, Spaß macht und ich die Leute mag! Wer nur mit Geld ankommt, hat von vorneherein verloren, denn ohne Sympathie gibt's grundsätzlich gar nix!

Was machst du, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen, wie war der Weg dorthin?

Der Weg zu meinem derzeitigen Beruf war ein komplett geradliniger, vollkommen durchgeplanter, bei dem nichts dem Zufall überlassen wurde: Ausbildung mit 14, Einstieg in das Familienunternehmen, Wanderschaftsjahre ... Habe ich die Frage nicht schon mal im Zuge des Interviews zum Plattensammeln beantwortet? Siehe Ox 63! Selbstverständlich war nichts geplant. Schule, Abitur mit einer durchschnittlichen Note, schließlich gab es wichtigere Dinge als Lernen, wie zum Beispiel Konzerte bis in die Morgenstunden, um dann direkt von der Übernachtung auf einem Parkplatz in die Schule zu fahren. Danach Zivildienst, Bewerbung an der Fachhochschule für Grafik und Design. Leider nicht unter den ersten 25, aber wenigstens unter den ersten zehn Prozent aller Bewerber. Eilentscheidung auf ein Alternativstudium ohne nennenswerten Numerus Clausus, das selbstverständlich brotlose Aussichten garantierte. Nebenher als Aushilfe bei einer Eventfirma gejobbt und dort mit der Bedingung, mein Studium beenden zu können, als Veranstaltungstechniker fest angefangen. Festgestellt, dass mir der Umgang mit Technik, insbesondere Computern, extrem leicht fiel, dazu machte der Umgang mit ebenfalls Verrückten extremen Spaß. Jeder Job war eine neue Aufgabenstellung, für jedes Problem gab es auch eine Lösung. Im Verlauf der Zeit habe ich mich dann auf Bildbearbeitung und Präsentationstechnik spezialisiert.

Als unsere Firma mit Mann und Maus an ein anderes Unternehmen verkauft wurde, war auf einen Schlag alles anders. Der neue Chef war ein Vollblutarschloch, wahrscheinlich ist er das sogar heute noch. Meine ehemaligen Kollegen wurden einer nach dem anderen gegangen, ohne dass sich das Auftragsvolumen änderte. Irgendjemand musste die Arbeit machen, so habe ich in nur drei Jahren auf die harte Tour gelernt, wie man Ausschreibungen erstellt, Angebote kalkuliert und die Technik von Großveranstaltungen plant. Am Ende hatte ich die komplette Präsentationstechnikplanung der Halle 16 auf der CeBIT an der Backe und vor allem in meinem Kopf. Die Halle 16 ist nicht gerade klein und gehört seit vielen Jahren ausschließlich der Telekom, nur mal so als Hausnummer. Zu der Zeit hatte ich schon kein Privatleben mehr, verdiente nicht mehr als ein einfacher Präsentationstechniker, als der ich angestellt war, hatte aber einen Berg an Verantwortung und immer noch einen Chef mit einer absoluten sozialen Inkompetenz. Der Typ brachte es fertig, einem Freelancer, der für ein halbes Jahr einen Job in Rio für ihn gemacht hatte, die Rechnungen einfach nicht zu bezahlen. Als der Typ nach sechs Monaten zurück kam, hatte er keine Wohnung mehr, sein Auto war gepfändet worden und seine Bank wollte unbedingt mit ihm sprechen.

Als ich eines Tages zur Arbeit kam und auf meinem Tisch ein Flugticket mit der Order lag, dass ich sofort zum Flughafen fahren müsste, weil in ein paar Stunden in Genf eine Ortsbesichtigung wäre, war das auch gleichzeitig mein letzter Job. Bis dahin hatte ich fast ganz Deutschland bereist, ein Viertel von Europa gesehen und für ein paar der bekanntesten Unternehmen bei Produkteinführungen, Großveranstaltungen, Messen oder Kongressen gearbeitet. Im Grunde ein toller Job, wenn man keinerlei soziales Umfeld, keine Familie, keine Zimmerpflanzen und keinerlei Ansprüche an eine adäquate Bezahlung hat, denn die bekommen die "Kreativen" beziehungsweise die "Entscheider", mit denen man dort stets zu tun hat. Diese Leute haben übrigens wirklich IMMER kurz vor Beginn noch Änderungswünsche, weil sie sich ihrer Sache einfach immer hundert Prozent sicher sind. Durch diese Arbeit habe ich viele Dinge gesehen und erlebt, die viele niemals zu Gesicht bekommen werden. Da gab es Neureiche, die sich mit einem Koffer voller Geld körperlich mit Sicherheitsleuten angelegt haben, weil die ihnen auch für viel Schmiergeld keinen Zutritt gewähren wollten, nur damit sie für ihre Rotztochter zum Geburtstag und zum doppelten Marktpreis den neuen Porsche Boxster kaufen konnten, vier Wochen vor der Markteinführung. Mir sind die menschlichen Defizite vieler Manager nur zu gut bekannt, Menschen, die über Leichen gehen, nur um Macht ausüben zu können. Als Techniker steht man oft daneben, wenn sie ihre Mitarbeiter "falten", nur weil etwas nicht so läuft, wie sie es sich "vorstellen" können. Selber wird man komischerweise immer mit Samthandschuhen angefasst, weil sie ganz genau wissen, dass ohne den Techniker das Licht nicht optimal, das Bild zu unscharf oder der Ton zu leise sein wird.

Platz Eins auf der persönlichen NBA-Liste - Natural Born Assholes - belegt Ron Sommer, der ehemalige Telekom-Chef, ein jähzorniger kleiner Mensch mit Führungsqualitäten, die in jedem afrikanischen Staat zum Despoten gereicht hätten. Auch wenn ich jetzt etwas abschweife, aber von wegen "Visionen": Die wenigsten Manager und Entscheider verfügen über so etwas wie "Vorstellungskraft". Ein Kunde, für den mein Arbeitgeber regelmäßig Events ausrichtete, war Daimler, die ein grobes Konzept besaßen, aber keinerlei Fantasie, wie das Ganze dann aussehen würde. Also musste alles vorher mindestens einmal aufgebaut werden, damit sich die Entscheider - sie kamen immer in Gruppen zwischen zehn und zwanzig, von denen ein Leithammel das Sagen hatte - ein Bild machen konnten. Aber auch das war keine Garantie dafür, dass es am Ende wirklich so umgesetzt wurde, weil es immer noch einen Chef aller Chefs gab. Auf der IAA mietete Daimler eine komplette Halle an, einen großen runden Turmbau mit einer großen Kuppel. Das Konzept sah so aus, dass in der Kuppel Hochseilartisten in einem riesigen Perpetuum-Mobile-Konstrukt die Leute empfangen sollten, die über eine lange Rolltreppe bis ins Obergeschoss fuhren, um dann den ganzen langen Rundgang nach unten von weiteren Artisten wie Feuerschluckern, Jongleuren zum näheren Hinsehen animiert zu werden. Die Proben verliefen angeblich gut, bis "Alfred" E. Reuter zum ersten Mal sah, was seine Marketingabteilung da ausgeheckt hatte. Nicht, dass ihm das Ganze nicht bekannt gewesen wäre, dass er dafür nicht irgendetwas unterschrieben hätte, aber "so" hatte er sich das Ganze nicht vorgestellt. Die Artisten wurden eine Stunde vor der Eröffnung heimgeschickt und das tote Perpetuum Mobile hing wie ein großes gefährliches Pendel über den Köpfen der Besucher. Hat einen Haufen Geld gekostet, gefiel aber einer einzigen Person nicht - fertig, aus.

Darüber hinaus lernt man auch die Geheimnisse von Kollegen kennen, die beispielsweise bei einer Dessous-Schau lieber "Auto-Motor-Sport" lesen, anstatt den Models behilflich zu sein, wenn sie schon danach fragen, oder die Schwäche eines Tontechnikers aus der besetzten Karlsruher Steffi für amerikanisches Fastfood. Nein, Namen gibt es nicht! Aber vielleicht sollte ich mal eine Kurzgeschichtensammlung darüber schreiben, bis auf Mord ist da alles geboten. Am Ende wollte ich nichts mehr als wieder ein "normales" Leben führen, eines, bei dem es möglich war, drei Tage im Voraus für einen Geburtstag zusagen zu können, Sport zu treiben oder auf Konzerte zu gehen, außerdem wollte ich nicht für jemanden arbeiten, den ich nicht respektiere. Also suchte ich mir etwas anderes und arbeite seit zehn Jahren bei ein und derselben Firma in einer Branche, die sich fast ausschließlich mit Datenplankton, sprich den Ziffern "1" und "0" beschäftigt.

Wie "punkrock" ist dein Job, wo gibt es Berührungspunkte zu deinen privaten Interessen beziehungsweise zu Punk-Idealen, worin liegen die "Inkompatibilitäten"?

Mein Job ist so "punkrock" wie mein oder dein Vermieter, so Punk wie deine Krankenkasse oder der Supermarkt, in dem du einkaufst. Mal ehrlich, es gibt keinen einzigen Job, der hundertprozentig Punk ist! Vielleicht sollte man das ruhig einmal sagen. Auch Joachim und das Ox müssen ihre Steuererklärung abgeben oder mit den Postbeamten klarkommen, weil es sonst für sie keine Post mehr gibt. Es gibt keine Berührungspunkte, außer dass die Aufgabenstellungen stets variieren und die einzige Konstante der stete Wandel ist. Auf der anderen Seite gibt es auch keine Konflikte, schließlich arbeite ich nicht für eine Firma, die etwas produziert, das meinen Überzeugungen widerspricht.

"Eine andere Welt ist möglich", sagt attac. Was sagst du, was tust du dafür?

Wenn attac das sagt, schön! Nur teile ich diese Ansicht nicht. Sollte irgendetwas, das ich in den letzten Jahren veröffentlicht oder geschrieben habe, darauf hindeuten, dass ich über ein annähernd idealistisches Menschenbild verfüge, dann muss da jemand etwas falsch interpretiert haben. Wir könnten das kurz halten, wenn ich sage: Lass uns in zehn, fünfzehn Jahren noch mal darüber reden, wenn sich die Menschheit aus Ressourcenmangel gegenseitig an den Hals gegangen ist, oder wenn die Meere leergefischt sind, nur befürchte ich, dass es nicht mehr ganz so lange dauern könnte. Vielleicht sehe ich das auch etwas zu dunkelschwarz, aber ich halte es hier mit Hobbes: "homo homini lupus"- fünf Jahre Latein müssen ja für etwas gut sein-, der sich bei Plautus bedient hat. Der Planet krankt ja in erster Linie nicht an Dingen, die sich mit fairem Handel oder Ressourcenverteilung regeln ließen, auch wenn viele das glauben mögen. Die Fragestellung ist hier einfach ganz falsch. Sie müsste eigentlich lauten: Wie viel Mensch verträgt der Planet? Auf jeden Fall nicht diese Menge, denn die Natur ist schon weit über den Punkt hinaus, an dem sie sich von alleine regenerieren könnte. Um es bildlich auszudrücken: Es macht einen Unterschied für einen Wald, ob zehn oder hundert Menschen jeden Tag dort hineinscheißen. Was die bisherigen "Lösungsansätze" betrifft, regelt der Markt vieles, das dann so aussieht, dass die Regenwälder eben nicht für Viehweiden abgeholzt werden, weil immer mehr Menschen Soja essen, weil die Rindviecher mit ihren Blähungen nicht gut für die globale Erwärmung sind. Dann holzen dieselben Großgrundbesitzer den Wald eben für Sojapflanzen ab, oder für den Maisanbau, weil Biosprit sich gut verkaufen lässt. So lange alles auf diesem Planeten wie ein Pyramidensystem und auf permanentes Wachstum ausgerichtet ist, geht es auf lange Sicht nur ins Tal hinab.

Anfang der 80er gab es etwas, das sich "Endzeitstimmung" nannte, ein diffuses Gefühl, dass es irgendwann einen großen Schlag gibt, nach dem nichts mehr ist, wie es war, nur weil irgendein Irrer auf den Knopf drückt. Das Sympathische daran war, dass das ein kurzes und relativ schmerzfreies Ende gewesen wäre. Heute fühlt sich das ganz anders an, dekadenter, langwierig und vor allen Dingen anhaltend schmerzhaft. Es gibt Gründe, warum viele junge Menschen innerlich kapituliert haben, sich über einen gewissen Punkt nicht hinaus entwickeln wollen und lieber "Party, Party, Party" feiern, anstatt sich mit dem auseinander zu setzen, was um sie herum passiert. Ob es Hoffnung gibt?! Wenn es 90 Prozent weniger Menschen auf diesem Planeten gibt, dann ja, aber selbst Seuchen sind ja nicht mehr wirklich zuverlässig. Und sollte ich mich hier irren, okay, dann hab ich gerne Unrecht. Trotz allem unterstütze ich einige Dinge und Initiativen, weil Schizophrenie etwas ist, das uns von Einzellern unterscheidet. Das geht aber niemanden etwas an, denn wer viel über Sex redet, der hat keinen - oder außerordentlich schlechten. Ich genieße jeden Tag, jeden Moment, den ich mit intelligenten Menschen verbringen kann. Darüber hinaus wird jeder mit dem Respekt behandelt, den er sich verdient hat.

Wie reagiert dein Umfeld - privat wie beruflich - auf deine Punkrock-Vorliebe? Verständnis, Erstaunen, Unkenntnis?

Nun, ich gehe damit nicht hausieren. Wer mich privat kennt, der weiß Bescheid, und beruflich ist es nicht meine Aufgabe, jedem auf die Nase zu binden, was für Vorlieben ich habe. Ich erzähle ja auch nicht jedem, wie meine Intimpiercings aussehen und dass mein neues drittes Stahlei-Implantat im Schwimmbad ganz schön nach unten zieht. Die Gelegenheiten sind aber auch allzu selten: "Ach übrigens, was ich zum Ende dieser Sitzung über die anstehenden Softwarereleases noch anmerken wollte ... Punkrock, hab mir eine dritte Klöte aus Stahl einsetzen lassen, letzte Woche im SM-Club ...". Da war es in meinem alten Job schon wesentlich einfacher. Die Lautsprecheranlage im Haus der Geschichte in Bonn wurde beispielsweise amtlich mit SLIME und "Gerechtigkeit" getestet. In der alten Bundesratsgarnitur erschien mir das damals durchaus angebracht. Wenn ich nach einem guten Konzert mal völlig übermüdet zur Arbeit komme und nicht ganz so frisch aussehe, dann wird natürlich schon mal gefragt, was ich mir denn angesehen habe, aber bis auf zwei Kollegen, die wirklich wissen, wovon die Rede ist, spare ich mir die Mühe, auch nur die Band zu erwähnen. "Krach" ist die beste Antwort, die sofortiges Desinteresse auslöst, meistens stimmt es ja auch. Den Großteil meiner Kollegen geht es nichts an, was ich höre, es würde sie auch nicht interessieren, genauso wenig, wie mich der Erlös ihres letzten Kindergartenflohmarktes interessiert oder was sie auf ihrer Hochzeit drunter tragen wollen. Witzigerweise scheinen sich Gleichgesinnte aber immer zu riechen. So habe ich einen Kollegen, der musikalisch ein ähnlich breites Spektrum hat und weiß, wovon die Rede ist. Wir unterhalten uns offen über unsere Vorlieben, interessante neue Musik, während der Rest nur Bahnhof versteht. Andere Kollegen und Kolleginnen tauchen ab und an auf denselben Konzerten auf, manchmal auch mit anderen Partnern als sonst, aber auch das geht niemanden sonst etwas an, es würde auch unsere Arbeit selber nicht verändern. Viel eher war ich schon erstaunt, dass ein Azubi mich irgendwann mal wegen des "Punk Rock BRD"-Booklets angesprochen hat, einer, von dem ich nie gedacht hätte, dass er so tickt. Dabei sind einige der Jungs äußerst fitte Cracker, die Subkultur ganz anders definieren.

Durch Zufall habe mal ich vor ein paar Jahren herausbekommen, dass einer meiner Kollegen für die größte Zombie-Romero-Fanseite verantwortlich war. Er war so sehr Nerd, dass er seinen Urlaub in Pennsylvania verbrachte, um die Originalschauplätze der Filme in Pittsburgh oder die Monroeville Mall zu besuchen. Er hat auch nahezu alle Schauspieler der ersten drei Filme abgeklappert und mit mehreren so guten Kontakt, dass es für ihn kein Problem war, mal kurz ein Bild mit Widmung von Kyra Schon zu besorgen, die das kleine untote Mädchen in "Night Of The Living Dead" gespielt hatte. Inzwischen hat er seine Passion für seine Familie aufgegeben, aber er ist immer noch einer, der bei einem neuen Romero oder einem bisher unbekannten Artefakt leuchtende Augen bekommt. Bei ihm liegt es ähnlich wie bei anderen obskuren Dingen, für die sich nur ein kleiner Kreis Subkultureller interessiert. Die meisten Leute können mit Nicht-Mainstream-Dingen einfach nichts anfangen und reagieren hundertfach erprobt mit Unverständnis. Es sagt nichts über einen Menschen und die Qualität seiner Tätigkeit aus, nur weil jemand in Zombie-Filmen eine gesellschaftspolitische Kritik erkennen kann, auf Lack und Leder steht oder eben Punrock richtig buchstabieren kann. Ein schwäbisches Sprichwort sagt, dass auch schwarze Kühe weiße Milch geben. Selbst dann, wenn sie Punk hören, heimlich an Rollenspielen teilnehmen oder sich die Nippel piercen.

Punk war mal eine Jugendbewegung. Wie lässt sich das mit deinem Alter vereinbaren? Für immer jung, für immer Punk? Oder manchmal doch das schleichende Gefühl, für irgendwas zu alt zu sein?

Bis auf die Grauen Panther sind mir nur wenige "Bewegungen" bekannt, die nicht mit Jugendlichen begonnen haben, zumindest keine musikalischen oder kreativen. In der Hauptsache liegt es daran, dass Jugendliche über ausreichend Zeit und Taschengeld verfügen und eine zumeist unvoreingenommene Herangehensweise an neue Dinge haben. Wer will da schon seine Eltern dabei haben? Hat schon mal jemand was von einer "Bewegung für die ganze Familie" gehört? Außer der "Trimm dich fit"-Bewegung fällt mir jedenfalls keine ein. Dass Punk eine reine Jugendbewegung war, ist ebenso eine Lüge, wie alle anderen so genannten "Jugendbewegungen". Es gab schon immer Musiker, Konzertveranstalter, Schreiber, Fotografen, Labelbetreiber, Plattenladenbesitzer, die schon weit über das Alter hinaus waren, in der man sie auch noch im Entferntesten als Jugendliche hätte bezeichnen können, insofern ... wie alt war Joey Ramone am Ende, wie alt sind die ÄRZTE zusammen, und welches Publikum ziehen sie? Das Geheimnis liegt in der geistigen Jugend, daran, dass andere einfach aufhören, sich für neue Dinge begeistern zu können, während andere niemals richtig erwachsen werden. Den Zustand der geistigen Lethargie könnte man mit etwas bösem Wille auch als "scheintot" bezeichnen. Begeisterungsfähigkeit und Neugier halten jung, nicht Knoblauchpressen oder Askese. Trotzdem gibt es ganz klar Dinge, die mich nicht mehr gar so sehr reizen wie früher. Dazu gehören unter anderem das Springen von irgendwelchen Monitorboxen und Bauernpogo, auch die infantile Begeisterung für bereits zehnmal aufgewärmte Bandkonzepte fällt mit zunehmendem Alter einfach schwerer, wenn man die Originalversionen im Erinnerungsspeicher nicht mehrfach gelöscht hat.

Bei welcher Gelegenheit hast du angefangen, über Musik zu schreiben?

Musik war immer der Rahmen, der Soundtrack zu meinem gesamten Leben, wobei sich die Stilarten stets weiterentwickelt haben. Anfänglich lag bei meinem Fanzine der Schwerpunkt eindeutig auf Musik, Bands, wurde aber mit der Zeit immer mehr zum Rahmen selbst. Eigentlich ist es ziemlich langweilig, über Bands beziehungsweise Musik zu schreiben. Die meisten Vokabeln sind derart abgegriffen und abgenutzt, weil schon zu viele dieselben Adjektive verwendet haben, um über belanglose oder minderwertige Musik zu schreiben. Das macht es verdammt schwer, weiterhin griffige Formulierungen zu finden, um Leute für etwas zu begeistern, das man selber gut findet. Letztendlich geht es um Begeisterungsfähigkeit, aufregende Bands oder Platten, die man am liebsten jedem gerne schenken möchte, weil sie einen selbst vom Hocker reißen. Es bereitet mir eine unbändige Freude, wenn eine bis dahin völlig unbekannte Band hier Platten verkaufen kann, weil man die Platte gut fand und in einem Review das Interesse anderer wecken konnte. Oder wenn eine Band ein zweites Mal touren kann und mehr Leute kommen, weil die, die beim ersten Mal nicht dabei waren, gelesen haben, wie genial es war. Den größeren Kitzel bereitet es, das Ganze in einer unterhaltsamen Form zu verfassen, denn nichts ist langweiliger als ein Prediger, der belehren anstatt begeistern will. Auf der anderen Seite macht es den Reiz perfekt, wenn man auch über schlechte Bands schreiben kann, dass sie einfach schlecht sind und sich besser auflösen sollten, weil es schon genug miese Bands und überflüssige Platten gibt. Leider ist Letzteres aber auch ein aussichtsloser Kampf gegen Windmühlen, denn was sollen sie sonst machen, die begabungsfreien Musiker, als ständig neue Bands zu gründen und zu reproduzieren, was andere sich selbst ausgedacht haben?

Wie und wo hast du das Ox erstmals wahrgenommen?

Na ja, irgendjemand muss die Meinung von jemandem wichtig gewesen sein, der sich gerne über die "anderen" Fanzines lustig gemacht hat, weil sie einfach langweilig waren, und schickte mir sein erstes Heft 1988. Vielleicht kam das aber auch nur, weil ich Uschi kannte, so genau weiß ich das nicht mehr. Danach kam das Jugendhaus St. Anna in Stuttgart, als ein frisch verliebter Joachim Hiller mich auf Verbesserungstips für sein neues Heft ansprach, das gerade in der zweiten Nummer erschienen war. Zu der Zeit war das Ox noch ein wenig "steif", aber es gab weit schlimmere Erstausgaben. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, irgendwann einmal in meinem Fanzine einen Witz über das Ox abgelassen zu haben. Als Alternative zu den anderen beiden damals "großen Fanzines" wie das Trust und das Zap war das Ox in seinen Kinderschuhen jedenfalls nicht erkennbar. Hätte man mich gefragt, dann hätte ich dem Heft acht bis zehn Ausgaben eingeräumt, nicht mehr. Aber es hat niemand gefragt. Immerhin, das Zap ist Geschichte und beim Trust hat sich seit fast zwanzig Jahren nicht großartig viel verändert, während das Ox sich gemausert hat. Blättere einfach durch die Ausgaben von damals - wenn du sie hast, hehe - und bilde dir selbst ein Urteil.

Und was hat dich dann bewegt, beim Ox mitzumachen?

Bessere Konditionen, höheres Potenzial, eine offenere Leserschaft, Ruhm, Tonnen an umsonstenem Reviewmaterial, Macht, Groupies, Geld ... und der ganze Schwachsinn, den man den Leuten erzählen kann, die einem alles glauben. Ich gehe mal nicht davon aus, dass mehr als ein vorsichtig geschätztes Fünftel der Leser das Plot kennen dürfte, also hole ich ein wenig aus. Nachdem ich keine große Lust mehr hatte, mein eigenes Fanzine Think!?! zu machen, weil eigentlich nur das Machen an sich, aber nicht das Verkaufen Spaß machte, weil man ab '85/86 - also im letzten Jahrtausend - Vertriebe nur dann dazu bewegen konnte, das Fanzine ins Programm zu nehmen, wenn möglichst viele bekannte Namen auf dem Heftcover standen, war es aufgrund meiner Abneigung gegen ebensolchen Bandkram manchmal schwierig, ein Heft an den Leser zu bringen, das Musik zwar als Rahmen, jedoch nicht ausschließlich zum Thema hatte. Der selbstgebastelte Kultstatus und treue Leser halfen zwar, aber bei 500 Heften war einfach Schluss. Zu der Zeit habe ich mich bei anderen Fanzines betätigt und landete nach Anfrage von Moses letztendlich beim Zap. Ausschlaggebend für das Angebot einer Mitarbeit war wohl die Intervention von Emil Elektrohler und nicht Moses selbst. Das Zap bediente sich zu dieser Zeit ganz gezielt aus dem Fanzinerfeld, um neue Mitarbeiter für das Heft zu gewinnen. Letztendlich nichts anderes als große Firmen, die Hochschulabsolventen einen Job anbieten, weil die neue Impulse für ihr Unternehmen setzen können - ja, können! Mit dem Herunterschrauben auf eine 14-tägige Erscheinungsweise, gegen die ich mich ausgesprochen hatte, und einigen anderen Anwandlungen sank mein Interesse, weiterhin für das Zap zu schreiben, nahe an den Gefrierpunkt. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass so viel Berichtenswertes in diesem Rhythmus passieren konnte oder überhaupt jemanden interessieren würde, gingen auch meine Beiträge zurück. Analog zur Steigerung der Veröffentlichungsschlagzahl sank das inhaltliche Niveau, etwas, das auch bei allen Plattenlabeln zu beobachten ist. So wollte ich nicht, wenn doch, dann nur noch sporadisch, wenn ich wirklich etwas zu sagen hatte.

Genau in diese Lücke traf eine Einladung für ein Gründungstreffen in den Garten von Kleister, Skuld Records, das mit Grillen und Getränken lockte. An diesem Nachmittag wurde das Plot-Fanzine gegründet, das für die nächsten Jahre mein ausschließliches Veröffentlichungsfeld wurde. Während zu Beginn Lee für das Layout, Kleister für die Anzeigen und Repros, Armin, Ute, Ralf, Flo, Franck, Michael, Henrik, Akö, Müsgüb, viele mehr und meine Wenigkeit für den Inhalt verantwortlich waren, verlagerte sich die Aufgabenstellung mit der Zeit. Ich lernte, das Layout zu machen und wo man günstig Repros anfertigen lassen konnte, weil der Finanzplan keine allzu großen Posten dafür hergab. Insgesamt war das Heft bis zur Nummer 15 ein großer Spaß, weil ich mich voll auf das konzentrieren konnte, was mir Spaß machte. Schreiben, Fanzine basteln bis es zur Druckerei geht, druckfrisch anschauen, dann nicht weiter drum kümmern müssen, außer wenn ein Leserbrief von einem einsamen, missverstandenen Hochschüler ohne Freunde eintrudelte. Mit der Zeit mehrten sich aber auch hier die Verfallserscheinungen. Der Anspruch, mit dem das Heft gestartet war, war weit von dem entfernt, was die Realität hergab. Die einzige Regel, dass es keine Regeln und vor allem keinen "Chef" gibt, war nicht sonderlich hilfreich für einen geradlinigen Kurs. Die Leser ließen sich nicht mehr so leicht irritieren, und wenn etwas im Plot stand, dann war die Schublade, in die es gesteckt wurde für viele schon geöffnet, bevor das Fanzine aus der Druckerei kam. Ein Umstand, der uns gerade zu Beginn viel zu schaffen machte, denn bevor auch nur eine Ausgabe erschienen war, hatte das Heft so viele eingefleischte Feinde, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es zu ersten Handgreiflichkeiten kam, die dann auch eintraten und prompt immer die Falschen trafen.

Inhaltlich gab es im Plot keinerlei Grenzen, was die Kritiker trotzdem nicht daran hinderte, alle über einen Kamm zu scheren, obwohl die Ansichten wie Präferenzen der einzelnen Leute teilweise erheblich auseinander gingen. Ein paar Witzbolde erfanden das Etikett "Anti-Zap", was wir nie sein wollten und auch in der Gründungssitzung so festlegten, "kein Streit mit Moses". Nach geschätzten fünf bis sechs Ausgaben hatten wir trotzdem so ziemlich jedem ans Bein gepisst, der sich betroffen fühlen wollte. Das Heft entwickelte sich recht zügig zu einem Ego-Fanzine, wobei hier verdammt viele Egos sich auf unterschiedliche Weise inhaltlich wie optisch komplett austobten, sehr zum Leidwesen von einzelnen Hardcore-Puristen. Denen und ein paar Mitstreitern gefiel es auch nicht unbedingt, dass im Heft über Bands wie FLIEHENDE STÜRME, EXPLOITED - ja, die waren im Plot - oder SOCIAL DISTORTION geschrieben wurde, auf der anderen Seite wurden aber auch damals neue Bands wie ROCKET FROM THE CRYPT oder ATOM & HIS PACKAGE gnadenlos abgefeiert. Aus meiner Sicht war es ein reines Ego-Fanzine; streicht man alles zwischen dem Plot und meinem letzten eigenen Fanzine, waren die Beiträge zusammen genommen das "Think?!? 2.0", nur eben in lesbarerer Schriftgröße.

Mit Erscheinen der Nummer 18 wurde beschlossen, das nächste Heft auf das Cut & Paste-Prinzip zurückzufahren. Zu der Zeit war jede neue Ausgabe schon ein Kampf um Beiträge, verstrichene Deadlines und Layoutmaterial geworden. Versprochene Artikel kamen entweder gar nicht, waren orthografisch unter aller Sau oder so verspätet, dass das Zeitfenster, das ich mir für das Layout freigeschaufelt hatte, immer enger wurde. Mit dem Wegfall der optischen Arbeiten würde auch ein großer Spaßteil am Entstehungsprozess wegfallen, der am Ende den Löwenanteil ausmachte. Also gab es noch einmal eine schicke finale Auslegearbeit zum Thema Raumfahrt, davor gab es Themenausgaben unter anderem mit Autogrammen, Swimsuits, Schafen, Phonomöbeln und eine, in der alles voll mit versteckten Morrissey/SMITHS-Zitaten gespickt ist. Dass auf der Raumfahrt-Ausgabe vorne eine amerikanische Gaskammer abgebildet war, fiel offenbar niemandem störend auf. Da mein Abschlussartikel nicht mehr ganz in die 18. Ausgabe passte, kam der Abschied etwas verspätet mit der 19. Nummer, die, schon im neuen Gewand, nicht mehr dem entsprach, was ich mir unter einem zeitgemäßen Fanzine vorstellte. Mir widerstrebte das neue Plot, das billiger produziert und damit auch billiger verkauft werden sollte, um das finanzielle Risiko zu minimieren. Verständlich aus Sicht von Armin, der das Heft am Ende finanzierte, aber nicht aus der des angelernten Schwaben, denn was "nix kost, taugt au nix". Wenn die Leute nicht bereit sind, einen angemessenen Preis für ein Heft zu zahlen, dann ist entweder das Heft schlecht oder die Leute sind es nicht wert, dass man sich für sie den Arsch aufreißt. Gute Dinge sollen auch etwas kosten dürfen, das ihrem Wert oder der Arbeit, die darin steckt, entspricht. Nein, sie müssen es sogar, denn umsonst ist nur der Tod, und ob der was taugt, das sehen wir am Ende - oder auch nicht.

Mit dem Ausstieg beim Plot war ich erst einmal arbeitslos und hatte mich innerlich schon damit abgefunden, mich ausschließlich auf meiner Webseite auszutoben, schließlich ging ich weiterhin auf Konzerte, hatte blöde Ideen beim Zähneputzen, schoss Fotos und brauchte ein Ventil, mich auszudrücken. Genau zu dieser Zeit kamen fast zeitgleich zwei Anfragen, ob ich keine Lust hätte, bei ihrem Fanzine mitzumachen. Eines lehnte ich ab, weil ich mit dem Ausstieg beim Plot auch aus dem HC-/Emo-Ghetto entkommen und nicht sofort in ein anderes, mit seit zwanzig Jahren gleichen Ausdrucksformen wechseln wollte, das andere, vom Ox, nahm ich an. Nach der langen Zeit beim Plot gab es nur wenige Randbedingungen von meiner Seite, die da lauteten: Kein Reviewzwang, keine Promoexemplare, inhaltlich keine Vorgaben. In meinem Keller stehen zwei riesige Kisten mit CDs, die fast ausschließlich mit schlechtem Promomaterial aus Plot-Zeiten gefüllt sind, dabei habe ich schon einiges weggeworfen, wenn es zu beschissen war. Aber die Gefühle sind nach dem vierten Mal nicht mehr ganz dieselben, wenn man vor den verblüfften Augen einiger Besucher eine Reviewplatte, die einfach scheiße ist, aus dem Fenster wirft oder sie übers Knie bricht. An den Randbedingungen hat sich bis auf wenige erträgliche Ausnahmen nichts geändert. Die Behandlung ist fair - wenig Schläge -, die Bezahlung so, wie es sich bei einem Fanzine gehört: null.

Was macht für dich heute den Reiz aus, für das Ox zu schreiben?

Ich kann weiterhin machen, was ich möchte, und über das schreiben, was mir Spaß macht, muss mich aber nicht um leidige Themen wie Vertrieb kümmern, die mir keinen Spaß machen. Mit der Vorgabe, dass es keine Vorgaben gibt, ist auch das eine Fortsetzung des "Ego-Fanzines" in einem größeren Rahmen, in dem die Mischung es ausmacht. Ich bin von Haus aus neugierig und begeisterungsfähig und es wird immer neue Bands, aufregende neue Dinge und neue Musik geben, die man Gleichgesinnten, die vielleicht weniger Zugang oder Zeit haben, aufs Auge drücken kann. Mir macht es Spaß, über die Dinge zu schreiben, die in meinem Kopf vorgehen oder die mich so begeistern, dass ich denke, es könnten sich noch ein oder zwei andere Leute für dieselbe Band erwärmen. Auf der anderen Seite schreibe ich auch über die Dinge, die mich verärgern, Bands, deren Platten so scheiße sind, dass es reicht, wenn ich dafür mein Geld zum Fenster hinausgeworfen habe. Da ich meine Platten fast ausnahmslos selber kaufe und - schön blöd, aber ich lasse mich nicht kaufen - für Konzerteintritte gerne bezahle, ist der Kommentar oder das Review von jemandem, der wie 99,9 Prozent der Leser seine mühsam verdiente Kohle für etwas ausgibt, das entweder begeistern kann oder aber nicht dem Gegenwert dessen entspricht, was er bezahlt hat. Letztendlich ist es die Gesamtmischung des Heftes, die Summe der Schreiber, die für jeden etwas dabei haben sollte. Ich bezweifle aufrichtig, dass irgendjemand wirklich alles im Heft liest und dann auch noch alles gut findet. Wenn doch, dann sollte die rückgratlose Made ein lebenslanges Freiabo erhalten und eine auf die Nuss, weil sie sich auch noch mit einer fehlenden eigenen Meinung einschleimt, um etwas umsonst zu bekommen. Und da wäre da noch der Luxus der "Ruhe", mit der ich auf Konzerte gehen kann. Niemand labert mich voll, um sich wegen irgendwas - meistens wohl Reviews - zu beschweren, weil der Verantwortliche in Sachen des Beschwerderechts ganz woanders wohnt. Nein, ich muss und will auch gar nicht jeden kennen lernen, schon gar keine Adepten, die mit einem über zehn Jahre alte Artikel reden wollen, weil er ihnen angeblich das Leben verändert hat. Gern geschehen, kauf mir einfach was zu trinken.

Gab/gibt es ein Interview, einen Artikel, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist, positiv wie negativ?

Hmja, das Interview mit Mike Just und das in der letzten Ausgabe mit John Stabb. Mike klingt nach Eigenlob, riecht aber nicht so. Mike ist einer der wenigen Leute, die weder ein Blatt vor den Mund genommen haben noch etwas zu verlieren hatten, außerdem hatte er etwas zu sagen. Dasselbe gilt für John Stabb und andere wenige Ausnahmen. Einer der größten Irrtümer ist übrigens, dass Leute, insbesondere Musiker, die über wenig mehr als eine Inselbegabung verfügen - mehrheitlich das Halten und Spielen eines Instruments, ohne weitere sonstige Sozialkompetenzen - automatisch auch abseits der Bühne etwas mitzuteilen hätten, das auch nur im Geringsten eine Bedeutung für mein eigenes Leben haben könnte. Daneben sind die meisten auch noch lausige Interviewpartner, die selten fähig sind, über mehr als die letzten zwei Wochen Tour oder Studio zu lamentieren, da sie sonst über keinerlei Leben verfügen. Den übrigen Rest erledigen viele Interviewer, die sich nicht eine Sekunde lang die Frage stellen, ob sie selber ein Interview lesen wollen würden, das so lausig geführt ist, wie das, was sie gerade in ihr Diktiergerät brummeln. Dabei würde es ja eigentlich reichen, wenn Musiker das tun, was sie wirklich können, nämlich gute Musik machen.

Zum Glück gibt es Ausnahmen, nur sind die Musiker, die wirklich etwas Interessantes oder Unterhaltendes von sich geben, extremst selten. Gerade deswegen suchen aber wohl auch so viele - meist vergeblich - nach ihnen. Als Nicht-Freund von Interviews freue ich mich dann, wenn wirklich mal eines gelungen ist oder aber so jämmerlich in die Hose gegangen, wie das in der SZ Diskothek mit Mick Jagger, der überhaupt gar keine Lust hatte, die 100 dämlichen Assoziationsfragen des Musikredakteurs zu beantworten. Größtes Ärgernis im Ox? Weiten wir auf zwei Ärgernisse aus: Kopisten! Wenn man schon keinen eigenen Schreibstil besitzt, dann verwässert man den guten eines anderen nicht, indem man ihn mittelmäßig bis schlecht imitiert. Platzverschwendung! Ja doch, ich liebe Comics, sie gehören einfach in ein Fanzine, aber für ein einziges Panel eine ganze Seite verbraten, wenn dafür andere Artikel ins nächste Heft geschoben werden müssen, ist ein wenig ungeschickt. Wenn die Idee nicht für eine ganze Seite reicht, dann gibt es eben nur eine halbe, soviel Selbsteinschätzung würde ich mir manchmal wünschen. "Scheiß-LP, hättet ihr mal lieber 'ne Single rausgebracht!"

Welche Bands/Platten und Genres haben dich früher beeindruckt und beeinflusst, welche sind es heute?

Gute, originelle Bands! Genres spielen dabei seit vielen Jahren keine Rolle mehr, weil gute Musik keine Etiketten kennt. Für den Adoleszenten war es ungemein wichtig, dass es nur pur, true oder was auch immer war, Hauptsache Punkrock. Dummerweise klammert man damit auch immer Musik aus, die hinter dem eigenen Grenzzaun liegt. Dann hörte man sie eben heimlich und erzählte sonst niemandem etwas davon. Es gibt Bands, die ich nicht missen möchte, wie GRAUZONE, BLACK FLAG, WORLD/INFERNO FRIENDSHIP SOCIETY, JANE'S ADDICTION, die EDITORS, RAMONES, Kate Bush, Stephan Eicher, LEATHERFACE, BIG BLACK, ARCADE FIRE, die MUMMIES, ATOM & HIS PACKAGE, ROCKET FROM THE CRYPT, AC/DC, BLONDIE, SEPTIC DEATH, NEUROTIC ARSEHOLES, SAMHAIN, MISFITS, WIPERS, HEX DISPENSER (warum ich denen nur 9 statt 10 Punkte gegeben habe, bereitet mir immer noch Kopfzerbrechen), BLACK LUNG, OMD, alles mit Gary Floyd, DIGITAL LEATHER, Alice Cooper, Morrissey, SLAYER, MCF, alle Bands mit Tom Bagley am Mikro, BRIGHTER DEATH NOW, frühe IRON MAIDEN, BLACK SABBATH, FEAR, VOID, frühe JESUS & MARY CHAIN, Cash, Grieg, JOY DIVISION, immer wieder EA80, REFUSED, Sinead O'Connor, DERNIERE, GISM, BOHREN & DER CLUB OF GORE, JAM, Del Shannon, CLASH, DETROIT COBRAS, SHANGRI-LAS, DUKE SPIRIT, brandaktuell GASLIGHT ANTHEM, Herman Munster, Tommi Stumpff, UNSANE und die MELVINS live, VOLT, SOCIAL DISTORTION, DROPDEAD, HENRY FIATS OPEN SORE, FATALS, ein junger Gary Numan, späte BEATLES und und und. Zu viele, um sie alle aufzuzählen. Es wechselt, je nach Lust und Verfassung. Die zeitliche Einteilung kann jeder selber vornehmen.

Was hat sich deiner Meinung nach in der Szene in der Zeit, die du dabei bist, am maßgeblichsten verändert, positiv wie negativ?

Es widerstrebt mir, den Satz mit "früher" oder "damals" zu beginnen, also beginnen wir mit dem Präsens. Heute kennt nicht mehr jeder jeden, ein Umstand, der vieles einfacher machte, weil man über bestimmte Dinge zumeist nicht sprechen musste, sie waren einfach Konsens. Durch die Vielfältigkeit der Spielarten gibt es vordergründig eine Unmenge an kreativem Potenzial, viele Nischen, aber auch Kleinstbiotope, die Abweichungen von der Kleinstnorm nicht im Geringsten dulden. So gesehen herrscht innerhalb dieser Kleinstszenen eine unendlich große Armut, die sich so penetrant gegen eine Weiterentwicklung wehrt, dass es manchmal fast weh tut. Es gibt eine unübersichtliche Anzahl an Bands, Tonträgern, das wenigste davon ist wirklich gut oder wichtig, würde ich heute in der Pubertät stehen, wüsste ich nicht, ob ich nicht einfach innerlich kapitulieren würde, weil erst einmal alles "neu" erscheint, vieles aber nur ein kalter Aufguss oder plumpes Revival ist. Die Wahrscheinlichkeit, blindlings eine aufregende neue Band zu sehen, ist ungemein geringer als zu der Zeit, als ich die damalige "Szene" erfahren habe, die heute diese Universalbezeichnung nicht mehr verdient. Heute kannst du leider die "Originale" von damals immer noch sehen, alt, irrelevant und nostalgisch, das raubt einem manchmal schöne Erinnerungen. Das Schlimmste, was du dir antun kannst, ist, eine Band nach zehn oder fünfzehn Jahren nochmals anzusehen. Der Fakt, dass viele Bands sich wieder reformieren, um alte Zeiten zu zelebrieren, manche finden sogar nur einmal im Jahr zu einem großen Festival wieder zusammen, widerstrebt mir ebenso wie die "Bremsspur", die penetrant an alten Gepflogenheiten festhält. Was haben wir über die Hippies gelacht, die seit den 60ern in ihrer Schockstarre verharrt sind, die großen Unterschiede zwischen Bondagehosen und Jesuslatschen oder zwischen Iro und Zauselbart erkenne ich nicht. Es schockiert niemanden mehr, dafür riecht es umso mehr nach einer konservativen Vergangenheitsbewahrung, in der die SEX PISTOLS demnächst auf ihre allererste Deutschlandtour kommen, mit Sid.

Dann wären da noch die Sachzwänge, die bestehen, weil viele ihr Hobby zum Beruf gemacht haben und heute vom Fortbetrieb der Szene, ihrem Label, ihrem Vertrieb oder ihrer Booking-Agentur leben. Nicht, dass wir uns falsch verstehen, es ist völlig okay, wenn jemand das zu seinem Lebensunterhalt macht, woran sein Herz hängt. Nur schafft diese Entscheidung klare Zwänge, nämlich Platten verkaufen müssen, Umsatz machen, Kredite tilgen, "erfolgreich" sein. Das schließt auch das Anpreisen minderwertigerer Produkte ein, die Veröffentlichung von Platten, die kein Mensch braucht, oder die zwanzigste Tour einer Band, die sich schon vor zehn Jahren hätte auflösen können. Um auf eine Frage weiter vorne zurückzukommen, von der Szene zu leben heißt nicht, dass das, was man macht, auch zu einhundert Prozent Szenearbeit ist, denn vieles davon hat absolut gar nichts damit zu tun. Die Bank will ihr Geld zurück, der Steuerberater geht nicht auf Konzerte, die Brauerei ist nicht Punk und dein Auto hat vielleicht Sitzbezüge mit Leopardenmuster, aber keine einzige Autofirma ist auch nur annähernd independent, schon gar nicht die Mineralölkonzerne, mit deren Sprit du in das nächste Juze tuckerst, weil deine Karre sonst nicht fährt. Eine Grundeinstellung durchdringt niemals alle Lebensbereiche, wer Zweifel hat und "Coolness" zu seinen hervorstechendsten Eigenschaften zählt, der sollte sich ruhig einmal beim Zähneputzen oder auf der Toilette filmen. Vielleicht sollten sich ein paar Leute einfach ein wenig lockerer machen und sich damit abfinden, dass es "Punk" als Rundumkomplettleben einfach nicht gibt, dann wäre vielleicht vieles ein wenig einfacher und vor allem relaxter. Übrigens ein Grund, warum ich mich explizit dagegen entschieden habe, mit dem meinen Lebensunterhalt zu verdienen, an dem wirklich mein Herz hängt. Aus Spaß wird sehr schnell Ernst, dann Zwang, und irgendwann wird's einfach nur schlecht. Zumindest ist es bei mir so.

Und was ist für dich heute das größte Ärgernis in Zusammenhang mit Musik?

Die Frage nach "früher" wäre einfacher gewesen, da hätte die Antwort gelautet: Das erste Mal POISON IDEA in Villingen und der kleine Zettel, auf dem stand "POISON IDEA können heute leider nicht spielen!" Das war lange vor dem Internet. Heute wie damals allgemein: zu viele schlechte, dafür zu wenige originäre und wirklich interessante Bands. Addiert man dazu noch die bereits genannten "Sachzwänge", die dazu führen, dass man einen Output produzieren muss, um als Label wie als Vollzeitband zu existieren, ergibt sich eine Unmenge an musikalisch irrelevantem Material. Als nicht minder ärgerlich empfinde ich es, dass viele interessante Bands seit hundert Jahren immer noch zu blöd für eine gescheite Tourorganisation sind und mit Köln/Düsseldorf, Hamburg und Berlin eine "Deutschlandtour" vollzogen haben. Live verpasst man in Stuttgart eine Menge, wenn man kein Auto besitzt. Ach ja, das "Gejammer auf hohem Niveau" nervt mich extrem. Die Leute, die am lautesten jammern, machen immer noch die miesesten Platten.

Wie wichtig waren dir früher Äußerlichkeiten, Schuhe, Frisur, Kleidung, wie sieht das heute aus?

In manchen Kreisen bedeuten fehlende Äußerlichkeiten ja das unmittelbare Aussterben einer gesamten Jugendkultur. Ohne Flattop kein Psychobilly, was bedeutet, dass mit Einsetzen des Haarausfalls eine stilistisch ohnehin schon arme Musikrichtung um ein paar begabte Musiker ärmer wird. Mancher wurde zum Skinhead, weil es für den Iro einfach nicht mehr gereicht hat. In der Pubertät, die bei vielen ja bis in die früher Zwanziger geht, spielen Äußerlichkeiten eine ungemein wichtige Rolle. Anfang der 80er waren sie immens wichtig, schon um zeigen zu können, dass hier noch ein Gleichgesinnter ist, der "anders" ist als die anderen oder es zumindest sein will. Kleidung war selbstverständlich wichtig, schon alleine, weil es sie nicht an jeder Ecke gab. Wer bis Mitte der 80er mal nach bezahlbaren schwarzen Jeans gesucht hat, der weiß ganz genau, was ich meine. Es gab ausschließlich das, was gerade Mode war, auf dem Dorf immer mit etwa zwei Jahren Verspätung, und das waren Klamotten in Pastellfarben, Karottenjeans, Bundfaltenhosen, aber keine Punk-tauglichen Sachen in der angesagten Modefarbe "Schwarz". Hatte man endlich eine, wurde die auch bis zum völligen Zerfall getragen. Haare sind wichtig, so lange man noch genügend hat, danach sucht man Ausreden. So, und jetzt im Errnst: Äußerlichkeiten spielen seit Abschluss der Pubertät keine wesentliche Rolle mehr. Schuhe müssen in erster Linie bequem sein und einem gewissen ästhetischen Empfinden genügen, eben nicht scheiße aussehen. Dasselbe gilt für Kleidung, was dazu führt, dass in meinem Kleiderschrank fast ausschließlich dunkle, vorwiegend schwarze Kleidung zu finden ist. Für die ein bis zwei Crust-Konzerte im Jahr habe ich aber immer noch ein quietschgelbes T-Shirt mit einem Aufdruck der Sesamstraße, es will ja kein Mensch uniformiert herumlaufen, schließlich sind wir ja alle Individuen.

Wie groß/klein ist deine Plattensammlung, wie wichtig ist sie dir, welche Formate bevorzugst du?

Seit dem letzten Mal, also Ox #63, ist sie ein wenig gewachsen. Knapp 16.000 Tonträger verstopfen meine Behausung, ein Ende ist bisher nicht abzusehen, denn noch gibt es Optimierungsmöglichkeiten bei der Lagerung, wie höhere und neue Regalwände. Sie ist ein Teil von mir, aber keiner, den ich mir nicht amputieren würde, wenn ein Notfall eintreten würde. Da man sich hierzulande nicht mit seiner Plattensammlung beerdigen lassen darf - deutsche Friedhofsordnung, die auch die Vereinheitlichung der Fernsehgrabsteine regelt - werde ich sie früher oder später wohl verbrennen müssen. Vielleicht verkaufe ich sie in zwanzig Jahren auch an eine Ölraffinerie und gönne mir dann für den Erlös eine warme Mahlzeit. Das bevorzugte Format wird immer die 7" sein. Zwei bis drei Songs, kein Füllmaterial, perfekt.

Wie steht es um dein Konsumverhalten? Wie viel Geld hast du früher für Platten ausgegeben, wie viel heute? Hat dein Job/Verdienst sich da irgendwie ausgewirkt?

Siehe #63, da hat sich nichts verändert, 150 bis 250 Euro im Monat, in schlechten Sommermonaten auch mal keinen einzigen Cent. Jeder würde lügen, wenn sein Job keine Auswirkungen auf das Konsumverhalten hätte. Wer kein Geld verdient, kann auch kaum welches ausgeben, ganz einfach.

Gibt es heute Wichtigeres in deinem Leben als Punkrock, etwa Hobbys, Beruf, Familie, und wie gehst du mit eventuellen Interessenkonflikten um?

Meine Katze ist wichtiger als Punkrock! Eigentlich ist fast alles wichtiger als das, denn es ist eine reine Einstellung, kein Lebensinhalt. Wer will, der kann das ja gerne für sich ausdefinieren, viel Glück dabei. Die Antwort lautet am Ende sowieso "42"! Was ist wichtiger? Gesundheit! Mit vernunftbegabten Menschen seine Zeit verbringen! Zufriedenheit, ohne selbstzufrieden zu sein. Und dann wäre da für mich noch Rugby, das mich seit über 27 Jahren begleitet und maßgeblich geprägt hat. Wer selber Rugby spielt, dem werden gewisse Züge bekannt vorkommen. Begriffe wie Toleranz, Fairness sind hier keine Fremdwörter, ebenso wenig wie die Tatsache, dass man mit einem Rugbyshirt überall auf der Welt, wo ebenfalls Rugby gespielt wird, immer Freunde findet und D.I.Y. zu einer Grundvoraussetzung gehört, um als Provinzverein überhaupt bestehen zu können. Seit ein paar Jahren spiele ich nur noch mit so genannten "Old Boys", komme dafür aber weiter in der Weltgeschichte herum, wie in die Ukraine, Tschechien, Schweiz oder Spanien. Außerdem habe ich das seltene Glück, seit nunmehr fast drei Jahren zusammen mit einem Neuseeländer die Frauenmannschaft des Stuttgarter RC zu trainieren. Zum einem können wir das weitergeben, was uns über viele Jahre Freude bereitet hat, zum anderen haben wir es fast ausschließlich mit extrem angenehmen, intelligenten und erfrischend unkomplizierten Frauen zu tun, die jede Minute wert sind, die man mit ihnen verbringt. Wie groß das Glück bei über dreißig Frauen aller Altersstufen wirklich ist, wird jeder nachfühlen können, der schon bei einem Drittel der Menge auch nur zwei dabei hatte, die sich nicht leiden konnten. Spaß macht es auch, weil es erfolgreich ist, zweimal deutscher Meister der zweiten Bundesliga und einmal deutscher Regionalligameister machen einfach Freude, vor allem, weil die Mädels erfolgreicher sind als die hochgelobte und von sich überzeugte Herrenmannschaft. Manchmal gibt es Gewissenskonflikte, wenn an einem der beiden Trainingstage ein Konzert ist, aber das Training geht immer vor. Da verpasst man eben eine Vorband oder kommt einfach zu spät. Es gibt einfach wichtigere Dinge im Leben, da muss man eben Prioritäten setzen.

Sonst noch was?

Verschwendet eure Zeit nie an einen langweiligen Partner und gönnt euch statt einer weiteren überflüssigen Band lieber ab und zu ein großes Eis!