SIN CITY SIX

Es ist noch nicht allzu lang her, da bevölkerte eine Band die Bühnen und Plattenspieler der Welt, die den witzigen Namen THE PLEASURE FUCKERS trug. Anfang der 90er Jahre verschaffte sich diese Madrider Truppe Zutritt zu meinem Bewußtsein, indem sie mit allerherrlichst primitivem Garagenpunk von sich Reden machte. Es war damals eine Zeit des musikalischen Aufbruchs. LoFi-Punk war das große Ding, und allerorten schossen die Bands aus den Kellern, wildentschlossen dem kackig gewordenen Punkrock eine Rock´n´Roll-Amphetaminspritze in den Fettarsch zu rammen.

Die PLEASURE FUCKERS machten da feste mit und etablierten sich als sowas wie die Speerspitze des europäischen Garagenpunks. Erstaunlich an den FUCKERS war, dass sie zwar aus Madrid kamen, welches ja in Spanien liegt, dass angesichts dessen aber überraschend wenige Spanier in der Band spielten, zu Anfang nämlich gerade mal einer. Da es sich dabei um den Sänger Kike handelte, spielte andererseits aber auch wieder ziemlich viel Spanier in der Band, der Kike war nämlich unfassbar dick. Der war so dick wie ein ausgewachsener Elefant. Wer ihn damals mal auf der Bühne gesehen hat, wird mir das bestätigen können. Mit seiner spektakulären Erscheinung und seinem beachtlichen spanischen Akzent war er wirklich ein ganz und gar außergewöhnlicher Sänger, der das Publikum seinerzeit nicht wenig staunen ließ.

Dieser Artikel soll jedoch gar nicht von den PLEASURE FUCKERS berichten. Diese liefern lediglich die Vorgeschichte zu dem, worum es hier eigentlich geht. Denn das hängt auf´s Engste mit dem Hinscheiden der glorreichen FUCKERS zusammen, was wiederum etwas mit dem sagenhaften Kike zu tun hat. Der verließ nämlich die Band, und kurz darauf entstiegen SIN CITY SIX, die Hauptdarsteller dieses Aufsatzes, der FUCKERS-Asche. Das Line-Up hatte sich dabei allerdings ausschließlich in der Position des Sängers geändert. Klarer Fall, dachte ich mir, der Kike hat wohl aus gesundheitlichen Gründen in den Sack gehauen - so dick zu sein, geht schließlich mächtig auf die Pumpe und macht auch das Tourleben auf Dauer zur Qual. Aber denkste, der hat gar nicht von selbst seinen Hut genommen, die haben den rausgeschmissen! Nicht anders sind die Worte des Gitarristen Mike zu deuten, die er mir gegenüber diesbezüglich in einer allgemein Interview genannten Gesprächssituation äußerte.

An diesem Interviewtermin, der anläßlich des SIN CITY SIX´schen Gastspiels in meiner Heimatstadt stattfand, nahm neben dem relaxten und sympathischen Mike auch der neu zum Ex-FUCKERS-Haufen gestoßene Sänger Lee Robinson teil, ein weiterer Wahl-Madrileño, der die multinationale Tradition der Band fortführt. Neben dem einzigen Spanier in der Band, dem Drummer, spielen nun zwei Amis (Mike und die zweite Gitarristin Norah) und zwei Engländer (Lee und Bassist Barnaby) in der Band. Da ich selbst ein Typ mit langweiliger Biographie bin, interessieren mich ungewöhnliche Lebensläufe anderer natürlich umso mehr. Ich frage Mike also zunächst einmal, wie es ihn denn eigentlich nach Madrid verschlagen hat, und wo er eigentlich herkommt. Er antwortete: "Ich stamme aus Los Angeles, Kalifornen, Pasadena, um genau zu sein, und ich kam vor 13 Jahren nach Madrid. Ich war damals gerade mit meinem Studium fertig und wollte mit Norah, unser Gitarristin, ein bisschen herumreisen. Da sie Spanien schon kannte und wusste wie geil es da war, entschieden wir uns dafür, für ein Jahr nach Madrid zu gehen. Als wir ankamen, waren wir von der unglaublichen Szene dort total erschlagen. Es gab massenhaft geniale Rock´n´Roll-Clubs, großartige Musik und man war jede Nacht bis 6 Uhr morgens unterwegs. Da ich zu Hause schon in einer Band gespielt hatte, den NIMOYS, hatte ich meine Gitarre mitgenommen und wollte auch spielen. Ich hatte aber niemals erwartet, auf eine solche fantastische Szene zu treffen. Innerhalb von vier Monaten nach unserer Ankunft gründeten wir dann die PLEASURE FUCKERS."

Mike war damals gerade 22 geworden, was mich ziemlich überraschte, weil er doch sagte, bereits mit seinem Studium fertig gewesen zu sein. Ein ganz schöner Unterschied zu Deutschland, beendet man hier doch erst so mit 30 sein Studium. Das ist dann aber sicherlich auch viel fundierter.

Lee Robinson, der ziemliche Ränder unter den Augen hatte und zudem im ganzen nicht so einen relaxten Eindruck wie Mike machte, erzählte, er sei aus Birmingham und 1990 nach Madrid gezogen, um dort eine Niederlassung des Vertriebs Caroline aufzumachen. Er kannte die Stadt aber schon von früher, weil er als Drummer der FORTUNATE SONS öfter dort war. Lee war bei diesem Gespräch durchaus freundlich, wirkte jedoch etwas abwesend. Er sollte zu einem späteren Zeitpunkt der Tour allerdings noch ziemlich merkwürdig, wenn nicht gar unrühmlich von sich reden machen. Bis zu diesem Zeitpunkt verhielt er sich aber ziemlich ruhig, und beim Interview hat er ansonsten auch eigentlich nichts mehr gesagt; allerdings hatte ich ihn, glaube ich, auch gar nichts mehr gefragt.

Von Mike wollte ich noch wissen, ob es nicht ziemlich ungesund sei, in Madrid zu leben, das ganze Gefeiere und das viele Koks, von dem man in Zusammenhang mit dieser Stadt immer hört, hinterlässt doch sicher Abnutzungserscheinungen. "Ja", sagt er da, "Madrid ist in der Tat ein unglaublicher Party-Platz. Wenn man da z.B. Montagabend in eine Kneipe geht, ist die auch brechend voll, Sonntagabend auch. Eigentlich ist immer was los. Aber ich gehe ja jetzt nicht mehr jeden Abend weg, das habe ich vor 10 Jahren gemacht. Mittlerweile habe ich einen Job und muß jeden Tag arbeiten." Was machste denn? "Ich arbeite in einem Proberaum-Studio, das "Rockpalace" heisst, und wo wir selbst auch proben. Ich arbeite da an der Bar, mache Technikkram, helfe den Bands und all so´ne Sachen."

Beim Abhören des Interview-Tapes muß ich gerade feststellen, dass die Stelle mit dem Rausschmiß Kikes gar nicht mit drauf ist. Das Aufnahmegerät ist nämlich zwischendurch mal umgefallen und dabei ausgegangen, war halt so´n wackeliger Tisch. Ich kann mich aber noch an das erinnern, was Mike dazu sagte. Alle hätten nach der langen Zeit nicht mehr so richtig Lust auf die PLEASURE FUCKERS gehabt und wollten mal was anderes machen, wegen der Stagnation und so. Nur dem Kike hat es wohl noch Spaß gemacht, der wollte nichts anderes. Dann hat es auch noch Zoff gegeben, und ehe er sich versah war der Kike aus der Band, und die hatte einen neuen Namen und einen neuen Sänger. Dass SIN CITY SIX aber nun was vollkommen anderes machen, kann ich indes wirklich nicht sagen, eigentlich ist nur der Sänger anders.

Mit dem scheinen sie sich aber offenbar ein kapitales Herzchen angelacht zu haben. Nach ihrem Auftritt in Oberhausen spielte die Band nämlich auch in Münster, und der dortige Veranstalter Markus Schmauck berichtete mir später, von dramatischen Vorgängen, die sich nach dem Gig in seiner Wohnung abspielten, in der die Band übernachtete. Schon vor dem Auftritt sei Lee durch wirren Blick und Gebrabbel aufgefallen. Das setzte sich nach dem Ende der Veranstaltung fort, wobei Lee wohl ausschließlich hanebüchenes bis größenwahnsinniges Zeugs faselte. Das reichte davon, dass er keinen Schlaf brauche, ja schlechthin nie schlafen würde, (Oh, oh, bei solcherlei grobem Realitätsverlust, sollte man sich umgehendst gewarnt fühlen!) bis zur Feststellung, dass ausschließlich er und seine sängerischen Qualitäten es seien, die SIN CITY SIX erst zu einer großen Rockband werden ließen, woraufhin er sich schließlich in eine Reihe mit Leuten wie Johnny Thunders, Iggy Pop und Stiv Bators stellte. Größenwahnsinn ist generell keine schlechte Sache, zumal er sich bei Musikern oft als ausgezeichnete Motivation bewährt hat. Ein Zuviel zeitigt jedoch, wie bei allen Dingen im Leben, gern mal unangenehme Auswirkungen. Vielleicht bezog er sich bei seinem Vergleich aber auch nur auf die Drogenprobleme der genannten, dann lag er wahrscheinlich gar nicht so falsch mit seiner Einschätzung.

Damit hing wohl auch sein anschließender Auftritt zusammen, der sich wie folgt abspielte: Nachdem Markus Lee schließlich doch davon überzeugte, dass auch ihm eine Mütze Schlaf vielleicht ganz gut tun könnte, legte er sich endlich doch auf den Boden in Markus´ Flur (!), dabei weit bequemere Alternativbettstätten ignorierend. Er schlief anschließend sogar ein, machte sich im Schlaf sogleich aber mit laut vernehmlichem Gebrabbel wieder bemerkbar. Da sich dieses Schlafgelaber als intolerable Störung der Nachtruhe erwies, stand Markus nochmal auf und weckte Lee, in der Hoffnung er würde nachher ruhiger schlafen. In einem isolierten Augenblick seltener Klarheit entschuldigte der sich für sein somnambules Gesabbel und gelobte fortan, leiser zu schlafen. Das Gegenteil war leider der Fall, und Markus, der kein Auge zukriegte, musste Lee noch einmal wecken. Daraufhin geschah etwas, an das sich Markus mittlerweile nur sehr ungern erinnert. Lee Robinson flippte vollkommen aus, war wohl nicht mehr recht bei Sinnen, sprang seinem Gastgeber buchstäblich an die Gurgel und fing an ihn brutalst zu strangulieren. Der wollte dem Markus regelrecht das Gas abdrehen, das Licht ausknipsen, ihn abmurksen! Markus hatte in diesem Moment verständlicherweise echte Todesangst. Zu seinem Glück kamen schnell genug die anderen Jungs der Band beigesprungen, die sich daraufhin ein wildes Gerangel mit dem Ausgerasteten lieferten, in dessem Verlauf es ihnen schließlich gelang Lee zu überwältigen und notdürftig zu fixieren. Er hatte sich nachher wieder einigermaßen beruhigt, aber ich brauche nicht extra zu erwähnen, dass fortan Haus- und Bandsegen vergleichsweise schief hing, und Markus hatte von Lee wohl auch ziemlich die Schnauze voll.

Was war mal wieder der Grund für diesen unappetitlichen Vorfall? Unsachgemäßer Umgang mit Drogen. Genau genommen war es vermutlich Lees Problem, sich ansonsten viel zu viel von etwas reinzuschmeißen, und an diesem Abend aus Ermangelung etwas zu wenig. Da kommt dann sowas bei heraus! Was lernen wir also daraus?

Wahrscheinlich mal wieder nichts.