WALLS OF JERICHO

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Dream on, dreamer

Zu später Stunde schellt das Telefon und es knistert in der Leitung. Wer mag das wohl sein, überlegt man, bis eine krächzig-höfliche Stimme aus dem Hörer ertönt: „Hi, this is Josh from Trustkill Records, I’m sorry, we’re a little late.“

Stimmt, ganze anderthalb Stunden verspätet hat sich der Anruf des Herren Grabelle an diesem Abend, der sich kurz darauf gleich noch einmal entschuldigt und hofft, man habe nach wie vor Zeit, um mit der Sängerin seiner Vorzeigeband WALLS OF JERICHO, Candace Kucsulain, zu sprechen. Hat man natürlich und so wünscht Josh Grabelle, übrigens nicht „irgendwer“ im Hause Trustkill, sondern Gründer und Geschäftsführer des florierenden Labels, noch hastig ein angenehmes Wochenende und im Handumdrehen ist man mit Detroit verbunden, wo Kucsulain geduldig am anderen Ende der Leitung auf den Interviewer aus Germany wartet.

Zu diesem Zeitpunkt, im späten September, hat die Gute einen ganz beachtlichen Promotionmarathon hinter sich. Mit dem neuesten WALLS OF JERICHO-Album „The American Dream“ unter dem Arm hetzte sie samt ihrer vier männlichen Bandkollegen auf der „Rockstar Mayhem“-Tour kreuz und quer durch die USA und war kurz davor, die Tristesse Detroits erneut hinter sich zu lassen und nach Europa zu fliegen, um mit WALLS OF JERICHO die „Hell On Earth“-Tour zu headlinen. Obendrein gab es jede Menge Interviewtermine, damit „The American Dream“ auch den erhofften kommerziellen Erfolg hat. Hektik oder gar Druckgefühle im Hause Kucsulain, also? Niemals, die am Telefon sehr freundliche Frontfrau gibt sich entspannt und hat es augenscheinlich alles andere als satt, über „The American Dream“ zu reden, wobei dieses vielleicht gar kein so spektakuläres Album wäre, wenn man den Kontext, in dem es erscheint, ausblenden würde.

Dann wäre der Langspieler ein ordentlicher, jedoch nicht rekordverdächtiger Brocken Metalcore, durch dessen rauhe Produktion Parallelen zu WALLS OF JERICHOs Frühzeit deutlich werden. Moment, Frühzeit? Richtig, da war doch was, womit wir beim Kontext des Albums wären. Auf musikalischer Ebene prägte ihn die von vielen geäußerte Erwartung, „The American Dream“ würde gar nicht so hart. Denn im Frühjahr 2008 erschien mit „Redemption“ eine Akustik-EP der Band, die – vorsichtig gesagt – viele Fans irritierte. Damals hüllte sich die Band in majestätisches Schweigen und ließ die Nachricht überbringen, man solle nach der EP gespannt sein, ob der nun vorliegende Longplayer auch Akustiksongs beinhalte. Da dies nicht ganz unwahrscheinlich schien, war zu befürchten, „The American Dream“ könnte ein tanzbodentaugliches Discometal-Werk werden.

Kusuclain gluckst wie ein kleines Mädchen, das seinem großen Bruder einen Streich gespielt hat: „Witzig, es haben wirklich viele gedacht, wir würden nun zu einer Popband werden. Zugegeben, wir haben die Leute vielleicht auch ein bisschen mit unserem Statement verunsichert. Aber uns war immer klar, dass ‚Redemption‘ eine einmalige Sache bleiben würde. Weißt du, wir wollten halt einfach mal ein paar ruhige Songs aufnehmen, kämen aber nie auf die Idee, ernsthaft ruhigen Sound zu spielen und das irgendwie auszuweiten. Es ist nicht einmal geplant, diese Stücke jemals live zu spielen.“

Glück gehabt, wird der geneigte Fan der Frühphase der lauten Detroiter denken, wobei der Band die Schmuseakkorde gar nicht so schlecht zu Gesicht standen. Auf „The American Dream“ wurden sie aber tatsächlich auf ein Minimum beschränkt und mit „Night of a thousand torches“ fand gerade mal ein getrageneres Stück Musik seinen Weg auf den Longplayer.

Sei es drum, die Band zeichnet sich auch ganz wesentlich durch ihre Texte aus. Deren spezieller Charakter ergibt sich vor allem daraus, dass es gerade unter nordamerikanischen Genrekollegen en vogue zu sein scheint, den amerikanischen Traum zu lieben, ihn als zu verehrendes Ideal hochzuhalten, und sich somit selbstverständlich auch als Patrioten zu verstehen. Und spätestens hier brechen WALLS OF JERICHO, jedenfalls ein Stück weit, mit den Konventionen der Szene. „The American Dream“ ist textlich nämlich das Zeugnis der intensiven Beobachtung des Alltagslebens vieler Amerikaner und das hat nichts, aber auch gar nichts mit irgendeinem Traum zu tun.

Vielmehr mit einem Alptraum, wie Kucsulain ausführt, in dem sich die Menschen tagein, tagaus mit drei bis vier mies bezahlten Jobs über Wasser halten müssen, um irgendwie überleben zu können. „Der amerikanische Traum ist doch ein totaler Mythos. Irgendjemand hat den Bürgern eingetrichtert, dass sie alles erreichen können, wenn sie sich nur genügend anstrengen. Gleichzeitig siehst du um dich herum etliche Menschen, die sich den Rücken krumm machen, nur um ihre Familien ernähren zu können. Sie schaffen es eben mal, zu überleben, sie haben aber dieses Ziel vor Augen, eines Tages mal zu etwas zu werden. Das macht die Menschen auf Dauer müde und frustriert, sie merken, dass sie einem Traum hinterher hecheln, den es nicht gibt.“

Gleichzeitig – und das ist der Grund, warum sich die Band nur ein Stück weit von den Szenekonventionen entfernt – sind das Album und vor allem sein Titelsong keine grundlegende Ablehnung des amerikanischen Traumes. Vielmehr gibt sich Kucsulain dann doch wieder typisch amerikanisch, als sie referiert, dass dieses Konzept und die Perspektive, es von Null nach ganz oben zu schaffen, doch ziemlich gute Ideen seien. Sie würden im Alltag der Menschen nur nicht so richtig umgesetzt.

Kucsulain sieht dann auch die Menschen in der Pflicht zu handeln, um den Traum wieder in der gewünschten beziehungsweise von ihr als „gute Idee“ erachteten Form umzusetzen: „In seiner ursprünglichen Version ist der amerikanische Traum ja etwas sehr Hoffnungsvolles. Deswegen denke ich, dass es für jeden Menschen wichtig ist, einem Phänomen wie dem amerikanischen Traum zu folgen. Daher liegt es an uns, den Traum gewissermaßen zurückzuholen und aktiv so umsetzen, wie er einst gedacht war.“

Lehrbuchreif ist der Satz definitiv, nur stellt sich die Frage, wie die graue Theorie angesichts der alltäglichen Zwänge jedes Einzelnen, beispielsweise die eigene Familie zu ernähren, in die Praxis umgesetzt werden kann. Eine allgemein gültige Antwort, die Patentlösung folgt – wenig überraschend – im Interview nicht. Dafür aber eine nette Perspektive für die Hardcore-Szene: „Weißt du, neulich fragte mich jemand, ob WALLS OF JERICHO nicht längst selbst ein Teil des amerikanischen Traumes geworden sind, weil wir mit der Band gewisse Dinge geschafft haben. Da kam ich ins Grübeln und mir wurde klar, dass die Hardcore-Szene eigentlich die neue Version dieses Traumes ist. Es klingt paradox, weil die Metal-, Punk- und Hardcore-Kids immer ausgegrenzt wurden und damit zu einer Einheit wuchsen, die gerade nicht das repräsentiert, was jeder Durchschnittstyp mit dem amerikanischen Traum assoziiert. Aber es ist doch so, hier machen die Leute noch ihr eigenes Ding, versuchen etwas zu erreichen und können es auch.“

Na also, da haben wir es doch, das empirische Gegenstück zum vorher aufgeworfenen Handlungsideal. Bleibt zu prüfen, ob man in der Szene tatsächlich so hemdsärmelig hochkommen kann, oder ob nicht auch hier die Marketingmechanismen längst zum Tagesgeschäft gehören. Wen das alles aber nicht interessiert, der drückt bei „The American Dream“ am besten auf Repeat. Denn jenseits aller Theorien, vor allem aber aufgrund dieses Kontextes, ist es das in meinen Augen wichtigste Hardcore-Album des Jahres.