MUFF POTTER

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Die Party ist vorbei

Ja, sie wurden von Universal gedroppt. Ja, sie haben zu wenig Platten verkauft. Wenn eine Band zum Majorlabel geht und sich dann darüber beschwert, dass dort die Anzahl verkaufter Platten Vorrang genießt vor dem Ausleben der künstlerischen Freiheit, hat sie nicht viel begriffen. Da muss man doch fragen dürfen, warum die das überhaupt gemacht hat.

So sieht es jedenfalls Nagel, Sänger bei den „Potters“, die sich nie beschwert haben und in künstlerischer Hinsicht immer frei waren. Die ehemalige Punkband hat nicht in der Jägermeister-Rockliga gespielt, sondern zwei Alben lang die vielen positiven Möglichkeiten genutzt, die sich aus dem finanziellem Vorschuss von Universal ergaben. Nagel pragmatisch: „Es war super, endlich mal die Menschen angemessen bezahlen zu können, die so viel Arbeit im Hintergrund für MUFF POTTER leisten.“

Jetzt ist die große Firma im Rücken weg und das eigene Label Huck’s Plattenkiste steht wieder im Mittelpunkt. Während die Weltwirtschaft aus den Fugen gerät, nimmt die Band wieder auf Pump auf und ist abhängig von Finanzinstituten. Sie sitzen damit praktisch im Auge des Hurrikans bei der Vorstellung ihres neuen Albums. „Gute Aussicht“ heißt es und es ist ein Album passend zur, na klar, Krise.

In unruhigen Zeiten müssen auch in der Präsentation frische Ideen her, die manchmal alte sind. Anstelle eines Info-Wischs für die Journaille („MUFF POTTER sind wieder da und können es immer noch!!!“) gibt es erstmals seit zehn Jahren eine neue Ausgabe des Wasted Paper. Gemeint ist das Cut’n’Copy-Fanzine von Nagel und seinem Kumpel Wiesmann, das es als Fanzine-Parodie zwar auf nur wenige Ausgaben brachte, aber in den richtigen Kreisen zur Legende wurde.

„Hier“, sagt Nagel zum Beweis und schlägt die aktuelle Ausgabe der Spex auf. „Hier ist ein Interview mit Jens Rachut von DACKELBLUT drin und er sagt, er könne mit Musikmagazinen nicht viel anfangen, außer das Wasted Paper von Nagel, das fand er geil. Unfassbar, so ein Kompliment von diesem Typen! In einem Exklusivinterview! Das ist ...“, er denkt kurz nach und grinst, „der Ritterschlag.“

Und jetzt eine neue Ausgabe als „Gute Aussicht“-Fanzine. Wo alles schon drinsteht über MUFF POTTER und das Making-Of der neuen Platte. Kritiken und prominente Stimmen, einem im Stil mit der guten alten Zeit des Ox verwandten Konzertbericht, sowie dem Auftritt eines anonymen „Freundes der Band“, der in einem Interview auspackt. Unter der Überschrift „Wir machen erst mal Musik, gesabbelt wird später“ werden alle Informationen treffend auf den Punkt gebracht, so dass sich die eigene Leistung eines Musikreporters diesmal auf das Abtippen beschränken könnte und trotzdem wäre alles gesagt.

Hat Nagel keinen Bock mehr auf die standardisierten Fragen, die es im Vorfeld der Albumveröffentlichung zu beantworten gilt? „Ich finde die meisten Journalisten tatsächlich extrem faul und einfallslos“, sagt er. „Als ich vor zwei, drei Platten angefangen habe, mehr Interviews zu geben, ist mir aufgefallen, dass freundlich geschätzte fünfzig Prozent der Leute nur das abfragen, was ohnehin im Info steht. Das hat mit Journalismus natürlich nicht viel zu tun.“ Auch über eine verkehrte Darstellung der Band kann sich Nagel ärgern. „Aber wir sind ja keine Band für den Boulevard“, lacht er. Dennoch: „Wenn ich Schauspieler wäre, würde ich mich dauernd über die Berichterstattung über mich aufregen.“

Wem jetzt beim nächsten Pressetermin die vorgefertigten Fragen im Halse stecken bleiben könnten, der liest einfach den unterhaltsamen Wasted-Paper-Nachfolger und bleibt zu Hause.

Dort ist es in ohnehin am schönsten: Alle wollen sparen, haben Angst um ihren Job und die Möbelhäuser erleben einen Boom. Die aktuelle Gesellschaftshaltung als die Rückbesinnung auf eine innere, nicht näher definierte Heimat spiegelt sich auch bei MUFF POTTER wider.

„Das ist kein Wunder, unsere Musik entsteht ja nicht im luftleeren Raum“, erklärt Nagel. „Aber die Songs waren schon fertig, bevor der Banken-Crash so richtig losging.“ Einen Schritt voraus oder perfekt getimete Punktlandung – das ist egal, wenn man die kraftvolle erste Single „Blitzkredit Bop“ hört: „Der schönste Platz ist immer an der Hypotheke.“ Wer MUFF POTTER kennt, der weiß, dass hinter so einem Zitat selten nur ein Kalauer steckt. Nagel beobachtet sich und seine Umwelt genau und schreibt seine Texte mit engem Bezug zur Stimmung der Nation, ohne sich in tagesaktuellen Details zu verlieren.

Vor zwei Jahren ist der Sänger und Autor („Wo die wilden Maden graben“) nach Berlin gezogen. Für einen Musiker mit den bisherigen langfristigen Stationen Rheine und Münster ist der Umzug in die Viermillionenstadt vielleicht nur ein logischer Schritt. Doch warum ausgerechnet Berlin? Ging es dem krediblen Künstler nicht auch ein wenig um den Hauptstadt-Hype? Natürlich verbietet es sich, eine solche Frage direkt zu stellen (siehe oben), vielleicht tut es diese hier: Was hat dir Berlin beruflich gebracht? Irritiert von dieser Fragestellung blickt er den Interviewer an – immerhin befinde er sich endlich in der für ihn glücklichen Lage, von seinem kreativen Schaffen leben zu können, er habe ja keinen Beruf, er verstehe die Frage nicht. War ja auch reichlich bourgeois gestellt.

Berlin hat für ihn andere Gründe. Nagel hat die Großstadt einfach gebraucht. Die Anonymität, die Abwesenheit von Erwartungshaltungen. Hier kann er das erleben, was in seine Arbeit fließt. „Es gibt Leute, die brauchen nur einen Schreibtisch, um etwas Gutes zu Papier zu bringen, doch zu denen gehöre ich nicht. Ich muss raus, die Dinge sehen und nachempfinden, über die ich schreibe.“ Ob Hamburg, Köln oder Berlin sei im Endeffekt egal gewesen – die günstigen Mietpreise Neuköllns hätten die Wahl vereinfacht, dass Umzüge nach Berlin in Mode sind, habe mit ihm, so stellt Nagel klar, absolut nichts zu tun.

Hilfreich war der Umzug wohl aber bei der künstlerischen Entwicklung. Das Musizieren empfindet er durch die räumliche Trennung der Bandmitglieder jetzt intensiver, dazu später mehr. Und seine Themen und Texte treffen den, Verzeihung, Nagel auf den Kopf. Dabei nehme er eigentlich nur Eindrücke auf, verquirle sie in seinem Hirn und gebe sie möglichst gut formuliert wieder. Dabei gehe es vor allem um den Stil, um das Spiel mit der Sprache, erläutert der Sänger. „Ich versuche, Dinge so zu sagen, wie es noch keiner vor mir getan hat. Hat jemand schon mal das Wort ‚Rübenernten‘ gesungen?“

Steht also der Ausdruck über dem Inhalt bei einer Band, die als gesellschaftskritische Vertreterin des „intelligenten deutschsprachigen Punk“ (Ox) gilt? Nagel winkt ab. Dass die Aussage nicht auf der Strecke bleibt, sei eine Selbstverständlichkeit bei jedem, der „nicht ganz blöd“ sei. Tatsächlich, wenn man MUFF POTTER hört, findet die Wertung der Texte oft erst im Kopf des Hörers statt. Frühe Werke („Nach der Hubertusmesse“ – Jäger sind Mörder!) einmal ausgenommen. Dabei könne er nach wie vor auch zu diesen Texten stehen, kein Problem, findet Nagel. Heute hätte er es vermutlich nur subtiler formuliert.

Trotzdem – die Wut ist wieder da, besonders in musikalischer Hinsicht. Viele haben ja die Härte vermisst bei MUFF POTTER, die seit der „Bordsteinkantengeschichten“ wahlweise nur noch Pop oder auf OMA HANS gemacht haben sollen. Jetzt ist erstmals wieder die volle Schippe Dreck im Sound. Und ein ungeahnter Schwung, der den vorangegangenen Alben im Rückblick etwas Konstruiertes, zu sehr Durchdachtes anhaften lässt. Deshalb habe er auch diesmal mit dem Schreiben gewartet, sagt Nagel, bis es sich angesammelt hatte und alles auf einmal raus musste. Zurückgezogen in einem Ferienhaus in der Wildnis eines neuen Bundeslandes, komponierte das Quartett die Songs in nur wenigen Wochen. Direkt im Anschluss dann die Live-Aufnahme, ohne Kopfhörer, richtig wie im Proberaum. „Wir wollten den Moment festhalten, wo die Band exakt nach dem klingt, was wir uns unter MUFF POTTER vorstellen. Und das ist uns auch gelungen.“ Kein Wunder, dass Nagel, der Perfektionist, stolz ist auf das Ergebnis von kurzer, konzentrierter Arbeit: „Ich bin inzwischen so weit, dass ich nicht mehr so lange über einen Text nachdenken muss, bevor ich darauf vertrauen kann, dass er gut ist.“

Mag man dieses Phänomen nun Erfahrung oder „aus dem Bauch heraus“ nennen: MUFF POTTER sind wieder da und können es immer noch! „Gute Aussicht“ hat echte Kracher, ist an einigen Stellen schnell wie selten, und schenkt uns Melodien, die wir tagelang auf dem Weg zur Arbeit im Ohr haben, selbst wenn der iPod gerade zu Hause liegt. Womit wir schon wieder beim Thema wären: Job, Geld, Krise, Untergang. Wenn schon alles den Bach runtergeht, in einer wohl formulierten Melange aus Galgenhumor, Wut und Sinnkrise, dann darf, nein, muss man sich zwischendurch daran erinnern, wie ordentlich man in der guten alten Zeit auf die Kacke gehauen hat. Der Soundtrack dazu heißt „Alles war schön und nichts tat weh“, der Fetenknaller in eineinhalb Minuten, eingerahmt von Momenten zum Nachdenken vorher und zum Ausnüchtern hinterher. Alles zum Mitsingen und Mitfühlen.

Singt Nagel da über sich oder über mich oder über die anderen? Er hat auf jeden Fall recht. MUFF POTTERs Musik hat etwas mit uns zu tun, mit unserer Welt 1.0, die da draußen gerade vor die Hunde geht, keineswegs nur die deutsche Wirtschaft. Und diesmal kann sich nicht einmal mehr der kleine Boxer, das treue Bandmaskottchen und Los-Stop-Schade-Motiv, sicher sein, dass er nach diesem Knock-out wieder aufstehen wird: „Die Party ist vorbei. Endlich geht es wieder bergab.“ Alles richtig gemacht.