SILVERSTEIN

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American Nightmare

Auf den ersten Blick klingt es kontrovers: Eine Screamo-Band versucht sich an einem Konzeptalbum mit Tiefgang. Bei genauerer Betrachtung aber ist das, was SILVERSTEIN mit „A Shipwreck In The Sand“ geschaffen haben, ein Höhepunkt nicht nur ihrer Karriere. Was steckt hinter dieser Band, über die man scheinbar nichts weiß, die schon seit längerem zu den Zugpferden ihres Genres gehört und die man so gerne in eine Schublade packen möchte? Die fünf Kanadier haben mehr zu sagen, als man es ob ihrer energiegeladenen Bühnenshow und oftmals auch klischeebehafteten Videos und Gesten vermuten mag. Man muss sie einfach nur mal fragen ...

Das Konzept für „A Shipwreck in The Sand“ stammt von Sänger Shane Told, der nicht nur durch seine Texte, sondern auch durch seine signifikante Art des Geschreis zum Aushängeschild der Band geworden ist. „Ich habe zwei Geschichten im Kopf gehabt, die als Grundlage für dieses Album gedient haben. In der einen geht es um die Besatzung und den Kapitän eines Schiffes, die sich zu einer Zeit, als das Ausmaß der menschlichen Verwüstung auf unserem Planeten noch nicht so extrem war, aufgemacht haben, neue Ressourcen und Kontinente zu entdecken. Es geht in dieser Geschichte um eine große und gute Vision und um Vertrauen. In unserer schnelllebigen Zeit verschwenden viele Menschen keine Gedanken an das Übermorgen und die Zukunft ihrer Kinder. Die Menschheit hat sich in eine Position manövriert, aus der sie nur mit gemeinsamer Kraftanstrengung aller wieder herauskommt. Es ist wirklich traurig zu sehen, wie viele Menschen sich der täglichen Massenverblödung hingeben und ihr Leben einfach nur dahinvegetieren“, erklärt Told das Konzept des mittlerweile vierten Albums seiner Band.

„Die andere Geschichte auf dem Album handelt von einer Familie, die eines Nachts aufwacht und sich gerade noch so aus ihrem brennenden Haus retten kann. Da das Haus noch nicht abbezahlt war und sie dafür einen dieser Kredite aufnehmen mussten, die jetzt auch das amerikanische Finanzsystem zum Erliegen gebracht haben, schliddern sie in den gesellschaftlichen Abgrund. Der amerikanische Traum mit seinen Versprechen von Luxus, Reichtum und Wohlstand hat sich für sie in einen Albtraum gewandelt. Die beiden Geschichten verbindet die verbitterte Schlussfolgerung der Protagonisten: ‚This union was not about love, this union was not about the cause, this union was for the wrong reasons.‘“

Ein Konzeptalbum ist ein offenbar gern gewähltes Mittel, um sich selbst herauszufordern, sowohl auf musikalischer Ebene als auch auf der textlichen. „Für uns war es von vornherein klar, dass dieses Album ein Konzept als Überbau haben sollten. So war es dann auch einfacher, daran zu arbeiten“, beschreibt Bassist Bill den Entstehungsprozess von „A Shipwreck In The Sand“. „Vor allem nach ‚Discovering The Waterfront‘ haben wir unsere Messlatte höher gehängt, und wo ‚Arrivals And Departures‘ – unser letztes Album – eine Rückbesinnung auf die alten Stärken war, wie zum Beispiel schnelle und treibende Parts, so sollte auf diesem Album alles ein wenig durchdachter klingen.“

Den großen Durchbruch schafften Bill Hamilton, Shane Told, Neil Boshart, Josh Bradfold und Paul Koehler schon mit ihrem ersten Album „When Broken Is Easily Fixed“, das – wie alle anderen Alben bisher – auf Victory Records erschienen ist, dem damals richtungsweisenden Label von Tony Brummel. Dank der anscheinend perfekten Mischung aus Post-Hardcore, Screamo und seit neuestem Metalcore hat es die Band in den letzten sieben Jahren geschafft, ihrem Stil treu zu bleiben und sich dennoch enorm weiterzuentwickeln. Hörte man in den Anfangstagen (die Zusammenfassung ihrer Demo-EPs wurde 2006 auf Victory Records veröffentlicht, als der Band gerade mit ihrem Album „Discovering The Waterfront“ zumindest in Amerika auch der kommerzielle Durchbruch gelang) noch Einflüsse von GRADE und BOYSETSFIRE, hat sich die Band mittlerweile so weiterentwickelt, dass andere sie stilprägend nennen.

Dem kommt zugute, dass es in der Band anscheinend nur von ambitionierten Songwritern wimmelt. Sowohl Sänger Shane als auch die beiden Gitarristen Neil und Josh sowie Schlagzeuger Paul bringen neue Ideen in den Prozess ein. „Dass wir wieder mit Cameron Webb zusammengearbeitet haben, der auch schon ‚Discovering The Waterfront‘ mit uns zusammen aufgenommen hat, und nicht mit Mark Trombino, dem Produzenten von JIMMY EAT WOLRD und BLINK-182, liegt daran, dass wir unsere Ideen am besten mit Cameron besprechen können. Wir brauchen niemanden, der die Songs für uns schreibt. Das können wir schon alleine. Unser Produzent nimmt immer die Position des externen Kritikers ein, der dann und wann etwas anmerkt“, erklärt Shane.

Für „A Shipwreck In The Sand“ hat man sich zum ersten Mal auch prominente Unterstützung am Mikrofon ins Studio geholt. Zum einen Liam Cormier von den CANCER BATS, zum anderen Scott Wade, der Ex-Sänger von COMEBACK KID und Mitbewohner von Bassist Bill: „Es war für uns sehr erfrischend, mit diesen Leuten zusammen zu arbeiten. Die Songs ‚Vices‘ und ‚Born dead‘ sind die Höhepunkte des Albums und machen die Sache noch ein bisschen interessanter.“

Auf die Frage, ob sie sich als Band oft missverstanden fühlen und in eine Schublade gedrängt sehen, in die sie nicht gehören, holt Sänger Shane aus: „Es ist vollkommen egal, wer unsere Musik hört. Nun gut, auf unseren Konzerten siehst du wahrscheinlich mehr von diesen Emo-Kids als Metalheads. Aber das liegt ja nicht an uns. Wir schreiben schließlich keine persönlichen Einladungen, sondern veröffentlichen Musik, die wir selber gut finden und hinter der wir als Band auch zu hundert Prozent stehen. Ich bin der Meinung, dass die Bühne auch nicht immer der richtige Ort ist, um politische Inhalte zu predigen. Die Songs, die ich schreibe, sind meiner Meinung nach zwar unmissverständlich und direkt, lassen aber auch genügend Raum, um selbst zu denken. Wir kommen alle aus dem Hardcore, drei von uns sind Vegetarier, einer sogar Veganer. Wir lassen die Leute das wissen – wenn sie uns danach fragen. In meinen Songs äußere ich meine Meinung zu Dingen, die mich beschäftigen, und das sind – im Gegensatz zu früher – heute weniger Beziehungsgeschichten. Natürlich ist es wichtig, die Leute darauf aufmerksam zu machen, dass sich bei uns etwas getan hat, doch ist das nicht unbedingt unsere Aufgabe. Vielleicht habe ich ja in ein paar Jahren Lust, über ganz andere Dinge zu schreiben, wer weiß. Wir haben nun mal als Screamo-Band angefangen, machen jetzt unsere Musik, die sich meiner Meinung nach nicht mehr in diese Schublade reinpressen lässt.“

Ist es nicht schwierig, ein Konzeptalbum nicht auch auf der Bühne am Stück zu performen? Würde das Einstreuen von alten Songs nicht den inhaltlichen Fluss zerstören? Gitarrist Josh erklärt: „Jeder der vierzehn Songs auf ‚A Shipwreck In The Sand‘ kann für sich alleine stehen. Natürlich gibt es diesen thematischen Überbau, aber schlussendlich ist jeder Song ein Kapitel dieses Albums – eine kleine Kurzgeschichte. Wir haben mittlerweile vier Alben veröffentlicht und schließlich wollen wir den Leuten, die zu unseren Konzerten kommen, nicht unsere neue tolle Idee aufdrängen, sondern ihnen das geben, weshalb sie gekommen sind.“

Am Ende des Abends steht eine Band auf der Bühne, der es gelingt, das popkulturelle Gewand, das sie als Protagonisten einer der neuesten Musikgenres zwangsläufig übergestreift bekommen hat, abzulegen. Mit dem Konzept hinter „A Shipwreck In The Sand“ haben die fünf aus Burlington es geschafft, dass man sie auch als erwachsene Musiker betrachten muss und nicht mehr als etwas, das sie nie waren: Emo-Posterboys.