STILL SCREAMING

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Gut gebrüllt, Löwe

Die Zeiten, als „NYHC“ aus Deutschland (oder Belgien) das große Ding war, sind lange vorbei, doch mit ihrem zweiten Album „From The Ashes Of A Dead Time“ stellen STILL SCREAMING ein sehr angenehmes Gegengewicht dar zu all dem tumben Metal(core)-Geballer, das man dieser Tage so über sich ergehen lassen muss. Die Band, deren Mitglieder in Köln, Duisburg und München ansässig sind, veröffentlichte ihren neuen Longplayer Anfang 2010 auf dem niederländischen Label WTF Records, und da Frontmann Dennis schon in den Neunzigern mit den damals neben RYKER’S zu den bekannteren deutschen Hardcore-Bands zählenden BRIGHTSIDE aktiv war, gab es reichlich Gesprächsstoff.

Dennis, was sind die musikalischen Koordinaten, die seinerzeit bei der Bandgründung abgesteckt wurden?

Dennis: Es gab eigentlich nur eine Koordinate und die hieß „Hardcore“.

Einverstanden. Der Hardcore, den ihr spielt, ist aber jener, der Mitte der Neunziger mal „modern“ war – und heute oldschool. Steckt dahinter der fehlende Wille, sich „weiterzuentwickeln“, oder ist das eine bewusste Entscheidung?

Dennis: Gegenfrage: Warum schreibst du schon seit Jahren am liebsten über alternative Musik? Steckt da der fehlende Wille dahinter, sich weiterzuentwickeln? Muss man sich denn krampfhaft weiterentwickeln, wenn man schon da angelangt ist, wo man sich am besten selbst verwirklichen kann? Will man das? Unsere schnelllebige Gesellschaft propagiert schon mehr als genug, dass man sich gefälligst ständig weiterzuentwickeln hat. Ganz profan: schau dir doch mal die ganzen H&M-Patienten an. Heute punky, morgen funky. Und von den „Dress-for-the-Moment-Bands“ gibt es ja weiß der Geier ohnehin schon viel zu viele. Ich denke, dass wir uns im Vergleich zum ersten Album auf jeden Fall entwickelt haben. Ob es eine Weiterentwicklung war, sei jetzt mal dahingestellt. Entwicklung ist doch auf musikalischer Ebene ein eher unbewusster und natürlicher Prozess. Wenn man sich als Band bewusst und auf „Teufel komm raus“ weiterentwickeln will, ist das doch eher kontraproduktiv. Wir machen lieber die Musik, die uns kickt, als ständig irgendwelche Trends bedienen zu wollen. Und wenn uns irgendwann mal ein Stoner-Sludge-Part kicken sollte, dann wird der Song halt 15 Minuten lang. Und zum Thema Kreativität: Obwohl ich diesem stumpfen Bollo-Moshcore, oder auch dem „tumben Metal(core)-Geballer“, als das du in unserer Album-Review moderne Bands beschreibst, nichts abgewinnen kann, mich die Musik zu Tode langweilt und sich jeder Song für mich gleich anhört, fände ich es unfair, von diesen Bands zu behaupten, sie seien nicht kreativ. Jeder Musiker ist auf seine Weise kreativ, auch der Bollo. Die Songs müssen schließlich arrangiert werden, auch wenn die Parts geklaut sind. Das erfordert in meinen Augen schon eine gewisse Kreativität.

„From The Ashes Of A Dead Time“ – ist es eine Überinterpretation, den Albumtitel auf eure musikalischen Wurzeln zu beziehen?

Dennis: Unsere Wurzeln liegen im Hardcore der Achtziger, von „Dead Time“ kann hier ganz und gar nicht die Rede sein. Es gibt ja heute unzählige Bands, die genau den Sound wieder aufleben lassen – und das stellenweise so authentisch, dass man vor Entzückung weinen möchte. Der Albumtitel bezieht sich auf die heutige Szene, in der viele ihr eigenes Süppchen kochen und jeder besser, cooler und tätowierter als der andere sein will. Man muss sich doch nur mal die ganzen Karate-Kids ansehen, die auf Konzerten ihre Moves zelebrieren. Hier kommen Leute zu Shows, denen ihre alberne Choreografie wichtiger ist als die Musik. Von einem „Miteinander“ kann bei der Rücksichtslosigkeit nicht mal ansatzweise die Rede sein. Aber das „Miteinander“ ist doch genau das, was eine Hardcore-Show so besonders macht: Wenn Band und Publikum zu einer Einheit verschmelzen und alle den grauen Alltag einfach mal hinter sich lassen können – ohne dabei einen Nike Airmax von rücksichtslosen Egomanen in die Fresse zu kriegen.

Wer hat bei euch in der Band die Hosen an, also wer ist dabei, wer hat sie ins Leben gerufen, was sind eure Hintergründe? Und was macht ihr sonst so?

Dennis: Die Hosen haben alle an, jeder ist also gleichberechtigtes Mitglied. Ins Leben gerufen haben die Band Matzo und ich. Wir haben uns abends auf einer Party kennen gelernt und spontan entschieden, eine Band zu gründen. Der Name war auch sofort am Start. Es liegt also durchaus nahe, hier von einer Schnapsidee sprechen. Die meisten musikalischen Impulse kommen von Matzo, unserer unermüdlichen Quelle großartiger Parts. Was immer letztendlich daraus wird, ist aber dann von allen Bandmitgliedern geprägt. Wir haben vorher schon in einigen Bands gespielt: Matzo in POINTBREAK, Adam und Miguel in SHAFT, SKYZ THE LIMIT, DECAY und aushilfsweise auch mal bei JANE oder NYARI. Alle kann ich hier gar nicht aufzählen. Ansonsten machen wir dass, was man von einer Tough-Guy-Kapelle erwarten würde: Matzo studiert Europäische Ethnologie, Religionswissenschaft und Germanistik, Adam studiert Englisch und Geschichte auf Lehramt, Basti studiert Musikwissenschaften, Immanuel, unser neuer zweiter Gitarrist, studiert Germanistik, Miguel schlägt sich recht erfolgreich als Designer und Produzent, Simon arbeitet in einem Call-Center und macht nebenbei Shirt-Designs für andere Bands und Grafiken für WTF Records aus Holland, die das Album auf CD veröffentlicht haben. Ich hab mein Germanistikstudium schon hinter mir und arbeite als Redakteur.

Du warst einst bei BRIGHTSIDE, einer Band, die in den Neunzigern wie die RYKER’S auch auf Lost & Found veröffentlichte und recht erfolgreich war. Wie war das damals?

Dennis: Das war so mit das Coolste, was man mit Anfang 20 erleben kann. Du hast ein Label, das deine Musik vertreibt und die Studiokosten trägt, und eine Booking-Agentur, die Konzerte für dich bucht. Davon abgesehen war Lost & Found damals die Adresse, bei der fast jeder seine Musik gekauft hat. Nüchtern betrachtet haben wir natürlich von dem ganzen L&F-Hype profitiert. Später wurde die Meinung zu L&F ja immer gespaltener. Ihren Teil dazu beigetragen haben lustigerweise auch ein paar von den Leuten, die heute genau da stehen, wo L&F damals stand. Und genau die haben damals Aufkleber verteilt, auf denen stand „Lost and Found and M.A.D. kill Hardcore“. Ich persönlich kann und will nichts Schlechtes über Bernd Granz und Lost & Found sagen. Uns gegenüber war er immer fair. Im Nachhinein betrachtet, hat mir dann aber mit BRIGHTSIDE genau das gefehlt, was ich mit STILL SCREAMING noch mal erleben durfte: ganz unten anzufangen und sich den Respekt der Szene als kleine und unbekannte Band zu verdienen. Wir haben die erste CD und die LP-Version des neuen Albums ja komplett in Eigenregie auf unserem eigenen Label Ready To Fight Records rausgebracht. Ich kann dir gar nicht beschreiben, was für ein Fest es war, als die Spedition 500 LPs angeliefert hat und wir an einem sonnigen Sonntagnachmittag jede Einzelne der 100 farbigen ausgepackt, mit leuchtenden Augen betrachtet, gestempelt und mit seligem Lächeln nummeriert haben.

Hast du noch Kontakt zu Lost & Found, sind die BRIGHTSIDE-Sachen noch irgendwo erhältlich oder ist da eine Art Diskografie geplant?

Dennis: Nein, Kontakt habe ich keinen mehr zu L&F und die BRIGHTSIDE-Alben gibt es auch nicht mehr im Handel. Ich selbst hab neulich noch bei eBay eine „No Policy“-7“ für zwölf Euro ersteigern müssen, weil ich selbst keine mehr hatte. Ich könnte mir vorstellen, dass es eventuell mal eine Diskografie auf Ready To Fight Records geben könnte. Dann aber auch nur als LP und höchstens in 500er Auflage – natürlich wieder gestempelt und handnummeriert.

Wo seht ihr euch mit STILL SCREAMING in der Hardcore-Szene? Oder anders gefragt: Gibt es so was wie die eine Szene deiner Ansicht nach überhaupt noch, angesichts einer Zerfransung in zig Subszenen? Und welche anderen aktiven deutschen und europäischen Bands würdet ihr als Geistesverwandte bezeichnen?

Dennis: Wir haben zu vielen Bands, mit denen wir gespielt haben, ein freundschaftliches Verhältnis. Aber gleich von Geistesverwandtschaft zu sprechen, fände ich übertrieben. Eine bestimmte Position in der Szene können und wollen wir gar nicht beziehen. Es wäre auch recht schwierig, weil die Szene sich ja tatsächlich immer weiter aufspaltet. Ich denke nicht, dass wir jemals mit Bands wie BURIAL oder BOMBENALARM spielen werden, obwohl ich die sehr schätze. Jede dieser Subszenen hat ja auch ein eigenes Image, und das Image ist heutzutage ja fast schon wichtiger als die Musik. Wenn ich mir die ganzen Kids ansehe, die sich ihre Credibility für Hunderte von Dollar in Form von alten Shirts erkaufen, muss ich echt lachen. STILL SCREAMING wird ja allzu gern in den „Tough-Guy-Bollo-Topf“ geschmissen. Das ist wirklich sehr amüsant, weil es einmal mehr bestätigt, wie sehr die Szene ihre Schubladen braucht und wie unreflektiert und voreilig kategorisiert wird.

Bei STILL SCREAMING könnte man behaupten, da habe ein Albumtitel und Song von SCREAM Pate gestanden, bei BRIGHTSIDE ließ sich selbiges für KILLING TIME behaupten. Absicht oder reiner Zufall ...?

Dennis: Bei BRIGHTSIDE war es wirklich die KILLING TIME-LP, die wir damals rauf und runter gehört haben. Bei STILL SCREAMING war es eher Zufall. Die Idee für den Namen stammt von Matzo. Als er ihn ausgesprochen hat, hatte ich sofort „Screaming for change“ von UNIFORM CHOICE im Ohr. Damit war die Namensgebung sofort in trockenen Tüchern. Obwohl SCREAM natürlich auch ein würdiger Pate gewesen wäre.

Von wem stammt euer Coverartwork, das eher nach Achtziger-Hardrock als -Hardcore aussieht?

Dennis: Das stammt von Godmachine, godmachine.co.uk, dem Mann ohne Namen – selbst als ich ihm die LP schicken wollte, ist er nicht mit seinem richtigen Namen rausgerückt. Er kommt jedenfalls aus England und hat unter anderem auch das Cover für das neue A DAY TO REMEMBER-Release gemalt, macht Designs für Birdhouse Skateboards und ziemlich viele andere abgefahrene Sachen für andere Bands. Uns hat sein Style überzeugt. Gerade weil er nicht so stereotyp ist und wir es vermeiden wollten, gleich über das Cover in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden. Unsere ursprüngliche Idee hat er zwar nicht ganz umgesetzt, aber im Endeffekt war es besser, ihm die künstlerische Freiheit einzuräumen. Ansonsten hätte das ganze Ding noch viel mehr nach MANOWAR ausgesehen.

Ihr pflegt die Tradition des aussagekräftigen Filmtonschnipsels zwischen den Songs. Hilf uns weiter: Woher stammen die, warum gerade dieser Satz?

Dennis: Grundsätzlich verleihen solche Filmtonschnipsel einem Song noch mal eine ordentliche Portion Pathos und eine ganz eigene Atmosphäre. Das Zitat aus „Crouch end“ stammt aus einem Kurzfilm von Stephen King, dessen Story und das, was man daraus interpretieren kann, Matzo dazu verleitet hat, gleich den ganzen Text danach auszurichten.

Matzo: Die Menschen leben in einer konstruierten Welt und sind nicht fähig beziehungsweise willig die Mechanismen, die sie steuern, zu erkennen oder zu hinterfragen. Wenn man jedoch seinen Verstand benutzt und vorgegebene Schemata hinterfragt, ergibt sich die Möglichkeit, Neues entstehen zu lassen, Verbesserungen zu erzielen und im Optimalfall die Erlangung der geistigen und materiellen Freiheit zu erlangen.

Dennis: „About face“ – Luke versus Yoda/„Star Wars“: Das Zitat passt so gut in den Song, weil es inhaltlich das widerspiegelt, was der Text aussagt. Es gibt Momente im Leben, die ausweglos erscheinen. In solchen Momenten muss man seine Ängste überwinden, die Vergangenheit hinter sich lassen und alle Kräfte auf den Kampf für eine bessere Zukunft fokussieren.

Basti: „Interlude“ – Mr. Smith/„Matrix“: Eigentlich sagt das Zitat genau dasselbe aus, wie das in „Crouch end“, nur dass sich Mr. Smith der konstruierten, letztlich falschen Welt voll bewusst ist, diese genau deswegen hasst und das auch zum Ausdruck bringt. Der Bezug zu beziehungsweise die Kritik an unserer realen Welt ist natürlich unschwer zu erkennen: Unsere Welt ist häufig nur noch Fassade, Oberfläche, es geht mehr um Schein statt Sein. Das, was wirklich wichtig ist, wird kaum noch thematisiert, viele Leute wissen auch gar nicht mehr, was überhaupt wichtig ist. Mensch und Gesellschaft werden „boulevardisiert“, entfernen sich immer weiter von dem, was relevant und im eigentlichen Sinne menschlich ist. Und den meisten Leuten fällt es noch nicht einmal auf oder sie machen bereitwillig mit und finden es auch noch cool, aber das ist es nicht. Also wenn man es kurz machen will: Konsumgesellschaft = schlecht.

Dennis: „Arise“ – John Connor/„Terminator“: Jeder hat seine eigene Zukunft selbst in der Hand. Egal, wie schwierig manche Situation in der Gegenwart auch sein mag, es lohnt sich immer, für eine bessere Zukunft zu kämpfen.

Simon: „Back off“ – Brian, der Hund/„Family Guy“: Brian trifft es evolutionsgeschichtlich auf den Punkt: Leute, die einen auf dicke Hose und andere wegen ihrer Minderwertigkeitskomplexe fertig machen, haben nun mal ein kleines Geschlechtsorgan, respektive kleines Gehirn.

Was gibt es sonst noch zu sagen?

Dennis: Wir haben schon wieder ein paar neue Songs am Start, die wir im Sommer auf einer Split-CD mit DARASUUM, einer befreundeten Band aus Kalifornien, veröffentlichen wollen. Dabei wird jede Band einen Song der anderen covern. Das wird auf jeden Fall sehr spannend. Ansonsten: Kauft euch die neue MAN THE CHANGE-CD, wenn ihr eine gute deutsche Hardcore-Band supporten wollt. Und: Hört mehr GET UP KIDS, dann seid ihr auch entspannter!