LEATHERFACE

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Die ABBA der Hundewelt

Frankie Stubbs ist ein Herzchen. Wenn man alte, grummlige Männer für die freundlichsten Zeitgenossen der Welt hält. Der Versuch, den Mann zu interviewen, war über die Jahre immer wieder missglückt, und auch diesmal war die Antwort – immerhin eine Antwort! – auf meine E-Mail-Anfrage eher entmutigend: „Was willst du mich denn fragen? Ich habe nichts zu sagen.“ Diverse Mails später hatte dann das Telefoninterview zwar nicht geklappt, aber Stubbs, der nach wochenlangem Touren mit seinem grauen Bart schwer an Fidel Castro erinnerte, erwartete mich vor dem Konzert in der Solinger Cobra. Und hatte doch eine Menge zu sagen für jemand, der eigentlich nichts zu sagen hat. Dass mit geradlinigen Fragen so jemandem nicht beizukommen ist, war mir auch klar, und so folgte im Bandbus ein lockeres Geplauder zwischen Frankie und mir, bei dem Dickie Hammond zwar anwesend war, aber nur sehr wenig beitrug. Anlass des Gesprächs und der Tour war das neue Album „The Stormy Petrel“, das erste seit sechs Jahren.

Euer neues Album polarisiert. Von enttäuschend bis großartig reichen die Urteile.

Nur in Deutschland. Und hier wurde auch behauptet, unsere Platte „Dog Disco“ habe das schlimmste Album-Cover aller Zeiten. Dabei habe ich das Foto selbst gemacht, das war eine Menge Arbeit. Sogar meine Frau musste helfen und die Sonnenbrille irgendwie an meinem Hund befestigen, bis ich das Foto geschossen hatte. Und teuer war die Aktion auch noch: Ich musste den Hund mit einem drei Pfund teuren Steak locken! Nicht zu vergessen die Sonnenbrille aus dem One-Pound-Store. Ein perfektes Cover – zumindest dachte ich das, bis die Deutschen es sahen. Was ist das denn?, hieß es. Und jetzt geht das mit „Stormy Petrel“ so weiter: „Was ist das? Das ist ja schlimmer als das von der letzten Platte!“ Was für ein Problem habt ihr Deutschen denn mit Plattencovern? Es kommt doch auf die Musik an! The music is all that fucking matters! Pack die Musik in Scheiße ein, das macht auch nichts. Und außerdem steckte hinter dem Cover von „Dog Disco“ ein ausgeklügeltes Konzept – ich habe darüber mindestens zwei Minuten nachgedacht: LEATHERFACE, das ist Discomusik, aber für Hunde. Wir sind die ABBA der Hundewelt. Die Hunde lieben uns.

Man hört immer wieder von ausländischen Bands, dass Deutsche unhöflich seien, weil sie Musikern gerne klar sagen, was sie von ihnen und ihrer Musik halten – auch ungefragt.

Oh ja, so ist das! Aber schau mich an: Ich trage komplett beschissene Klamotten, ich sehe aus wie ein Stück Scheiße, und stinken tun sie auch noch, ich bin ja auf Tour. Doch kommt es darauf an? Es kommt auf die inneren Werte an! Man sollte niemals ein Buch nach seinem Umschlag beurteilen. Tja, und dann kommen wir nach Deutschland, und es geht wieder los: „Frank, what se fuck is sis cover?!?“

Dann bleiben wir bei der Kritik: Das neue Album sei zu langsam, habe ich gehört.

Ja und? Ich bin beinahe fünfzig, ich mag das langsame Leben. Wer schnelle Musik hören will, soll sich Techno anhören. Außerdem sind wir nicht interessiert daran, ob Musik langsam oder schnell ist, sondern nur an Songs, an Melodien, an Rhythmus. Jedes Lied hat sein natürliches Tempo, und wenn man das verändert, zerstört man das Lied. Das langsamste Lied auf dem neuen Album ist „Broken“, und das ist auch eines meiner liebsten. Wenn nun irgendwelche Leute, die für Metal-Magazine schreiben, der Meinung sind, wir seien zu langsam, so interessiert mich das kein Stück. Wir sind eben eine Popband – eine Punkrock-Popband. Und es kommt nur auf den Song an – ist der nicht gut, will ich nichts damit zu tun haben.

Mein Favorit ist „God is dead“, der Opener.

Das Lied ist ein dreiminütiger Pop-Song, es könnte aber auch eine Stunde lang sein, denn es ist viel zu sagen. „Gott ist tot“, diese Zeile bezieht sich auf die Verleihung des Friedensnobelpreises an US-Präsident Obama. Aber wie kann man diesen Preis an jemanden verleihen, dessen Land sich im Krieg befindet? Dann hätten sie auch Hitler den Friedensnobelpreis geben können, posthum. Deshalb also: God is dead, denn wäre er am Leben, würde er das nicht dulden. Ganz davon abgesehen, dass Gott ja sowieso nie existiert hat. Wie dumm ist diese Welt? Wie dumm ist das Nobelpreis-Kommittee? Die hätten den Preis auch gleich George W. Bush verleihen können, Obama kämpft die gleichen Kriege wie der. Und auch mein Land ist da nicht unschuldig, folgt es Amerika doch überall hin.

Das klingt nach einer Menge Diskussionsstoff auf eurer eben abgeschlossenen wie auch der anstehenden US-Tour.

Oh ja! Und viele in Amerika denken genau wie ich. Die sind genauso entsetzt.

Und wie wird die Diskussion in England geführt angesichts der Kriegsbeteiligung britischer Soldaten?

Die Mehrheit der Engländer will ihre Soldaten zuhause haben. Der Krieg sollte doch seit 2002 vorbei sein, nur vier Monate dauern. Acht Jahre später dauert er immer noch an, fast jeden Tag berichten die Medien über tote Soldaten.

Nun stoße ich immer wieder auf das Phänomen, dass selbst Menschen aus unserer Szene – gerade aus den USA – die Soldaten selbst als Opfer sehen, die von Politikern missbraucht werden. Ich sehe das anders, schließlich ist doch selbst schuld, wer sich auf das Militär einlässt.

Ich sehe die Soldaten auch als Opfer, und ich erkläre dir auch gerne warum. Wenn du in einem Land aufwächst, in dem man dir ständig erzählt, dass es das großartigste Land der Welt ist, dann bleibt es nicht aus, dass Menschen so etwas glauben. Gleiches gilt für Religion: Du wächst damit auf, dass man dir das Christentum, Judaismus oder Islam eintrichtert, dass die Angehörigen deiner Religion etwas besonderes sind. Und so gehen Menschen aus Großbritannien zur Armee, glauben, dass sie einer guten Sache dienen, auch wenn es genau das nicht ist. Aber das ist nicht die Schuld dieser Soldaten, die werden einfach nur benutzt, die Regierung bedient sich ihrer. Das Individuum trifft keine Schuld – oder ist es die Schuld eines Juden, dass er ein Jude ist? Kann ein Moslem was dafür, dass er Moslem ist? Oder ein Christ? Die sind alle Opfer einer Gehirnwäsche von klein an, die trifft keine Schuld, die müsste jemand vor ihrem Schicksal bewahren. Stehen die Soldaten erst mal in Afghanistan, merken sie ja schnell, dass das, was sie da erleben, nichts mit den Gründen zu tun hat, wegen denen sie sich verpflichtet haben. Für solche Lügen müsste man die verantwortlichen Regierungen einsperren! Es geht in Afghanistan nicht darum, England, die USA oder Deutschland zu verteidigen! Das ist alles Bullshit von wegen Verteidigung von Freiheit und Demokratie! Darum geht es nicht, nur merken das die Soldaten erst, wenn sie schon dort sind. Diese ganzen Kriege werden so lange weitergehen, bis die Ölvorräte erschöpft sind. Deshalb haben die auch nach dem Irak jetzt den Iran auf ihrem Plan. Die USA werden letzten Endes den ganzen Planeten ruinieren, und die größte Schande meines Landes ist, dass es den USA dabei blind folgt. Warte nur mal ab, bis die Amerikaner sich daran machen, in Venezuela einzumarschieren, um Chavez zu beseitigen. Aber was macht der denn so schlimmes? Er baut Krankenhäuser von dem Geld, das er den Ölkonzernen wegnimmt. Eine gute Idee, aber wahrscheinlich wird er enden wie einst Allende in Chile. Die Welt ist jetzt schon ziemlich abgefuckt, aber ich bin sicher, es wird alles noch schlimmer.

Hat sich in den letzten 20, 25 Jahren denn gar nichts zum besseren verändert?

Nein. Na ja, die haben Medikamente gegen ein paar Krankheiten entdeckt, aber dafür haben sie ja neue in die Welt gesetzt. AIDS? Super „Erfindung“, bis die gemerkt haben, dass es nicht nur gegen Schwule wirkt, sondern gegen alle, hahaha. „Hey, mit AIDS werden wir die ganzen subversiven Schwuchteln los. Oh, Mist ... die Lesben bekommen das ja gar nicht! Das haben wir wohl vermasselt ... Na, dann erfinden wir eben was Neues. Wie wäre es mit Ebola? Da pisst du dir deine Eingeweide zum Arschloch raus, harharhar.“

Lass uns besser das Thema wechseln, bevor es völlig unappetitlich wird. Erklär mir doch, was ein „Stormy Petrel“ ist – so heißt euer Album. Ein „Storm Petrel“, so viel ist mir klar, ist ein Sturmvogel.

„Stormy Petrel“ ist der Spitzname eines Mannes, der vor 150 Jahren in Sunderland lebte und vielen Menschen das Leben rettete. Er hieß eigentlich Joseph Hodgson, und an der felsigen Küste bei Sunderland kam es damals zu sehr vielen Schiffbrüchen. Hodgson band sich einfach ein Stück Tau um den Leib und sprang ins Wasser, um die Schiffbrüchigen zu retten. Er rettete Dutzende Menschen, einmal sogar ein Baby, und nachdem er das an Land gebracht hatte, sprang er noch mal rein und holte auch noch die Mutter. Er hat viele Orden bekommen, starb aber letztlich verarmt. Eigentlich hätte der schon längst irgendwo in Sunderland ein Denkmal verdient, stattdessen kennt heute kaum noch einer seinen Namen. Ich las einen Artikel über ihn in unserer Zeitung, und da dachte ich mir, das wäre ein guter Plattentitel. Und als wir darüber diskutierten, kam uns auch der Gedanke, dass sein Mut womöglich in direkter Proportion zur Zahl der Drinks stand, die er bereits intus hatte, wenn er ins Wasser sprang, hahaha. Nüchtern wäre er vielleicht nie gesprungen, denn die Wellen der Nordsee sind bei uns bei Sturm richtig hoch, manchmal sogar höher als der Leuchtturm.

Was für gute Taten hast du schon vollbracht unter Alkoholeinfluss?

Ach, ich schaffe es zumindest ins Bett, das ist doch schon was. Und an manch gute Tat kann ich mich sicher nicht erinnern, weil ich zu betrunken war. Man hat mir aber schon gesagt, ich sei betrunken recht freigiebig. Und dann gebe ich sogar was von meinem Bier ab. Deutsches Bier ist übrigens das beste Bier der Welt – und das in den USA das Schlechteste. Ich liebe Augustiner Helles, obwohl ich ja eigentlich Weintrinker bin. Da bevorzuge ich alles an Rotwein, was aus der südlichen Hemisphäre kommt, also aus Chile, Südafrika oder Australien.

Sechs Jahre habt ihr euch Zeit gelassen mit eurem neuen Album. Was geschah in der Zwischenzeit?

Ich habe viele Jahre in London am Bau des Wembley-Stadions gearbeitet, habe da die PA-Systeme installiert. Und es gab Besetzungswechsel, wir lebten nicht in der gleichen Stadt, da dauert eben alles etwas länger. Wenn eine Band so lange existiert wie unsere, ist es aber manchmal auch gut, eine gewisse Auszeit zu nehmen. Letztlich hat es dann aber nur ein paar Monate gedauert, ein neues Album zu machen, denn wir hatten alle wieder richtig Lust darauf.

Bestand denn die Gefahr, dass ihr es gar nicht mehr schafft, zusammen ein Album zu machen?

Nein. Seit wir wieder zusammen sind, war es bei jeder unserer US-Touren so, dass es hieß, es sei unsere letzte. Uns störte das nicht, denn das bringt mehr Leute zu den Shows, haha, und vor allem kam die Ansage, das sei womöglich die letzte Tour, nie von uns. LEATHERFACE wird es noch ewig geben, auch wenn es vielleicht zehn Jahre bis zum nächsten Album dauert. Aber so lange wird es hoffentlich nicht dauern, denn wir haben eigentlich schon ein weiteres Album zusammen. Die Songs, ungefähr 15, sind da, ich muss nur noch die Texte schreiben.

Eure letzten beiden Platten waren auf BYO, die neue ist auf eurem eigenen Label Big Ugly Fish erschienen. Wie kommt’s?

Wir hatten einfach die Nase voll, dass an einer Platte scheinbar jeder Geld verdient, nur die Band sieht nie was. Also behalten wir diesmal selbst die Kontrolle. Mir ist es wichtig. alles selbst zu kontrollieren.

Nun sind LEATHERFACE eine Band, die viele andere Bands inspiriert hat. Welche Bands würdest du denn als Inspiration nennen?

Eine davon sind BAD RELIGION – die auch Jens Rachut von KOMMANDO SONNE-NMILCH schätzt. Irgendwie bin ich immer bei ihm zu Besuch, wenn die gerade eine neue Platte raus haben, und er spielt sie mir vor. Mit der Folge, dass das Album dann die ganze Zeit im Bandbus läuft, während wir durch Europa kurven. Ja, ich habe das Gefühl, die Hälfte meines Lebens in einem Bandbus verbracht zu haben, während BAD RELIGION läuft. Das fing schon 1988 mit „Suffer“ an. Das Album wurde damals überall gespielt, egal wo du hinkamst. Ein phantastisches Album!

Gibt es noch andere Alben, mit denen du so eine starke Erinnerung verknüpfst?

Das erste Bob Mould-Album. Das hörten wir damals, als wir kurz nach der Wende in Ostdeutschland auf Tour waren, als der Osten noch der Osten war. Das war ein unglaubliches Erlebnis, und Moulds Texte brachten seltsamerweise genau auf den Punkt, wie wir uns fühlten. Der Osten war damals so trostlos, da war das Album der perfekte Soundtrack. Das war eine wirkliche starke Erfahrung, und ich fragte mich, ob Mould das Album nicht schrieb, als er selbst durch Ostdeutschland fuhr, haha. Ich habe selbst in den USA erlebt, wie sehr eine Landschaft eine bestimmte Musik prägt, wie die Musik zu ihr passt. Da fährst du durch den Süden, hörst im Radio Country, und es passt einfach perfekt – ganz anders, als wenn man zuhause in Sunderland sitzt. Deshalb hören wir dort auf Tour auch immer bewusst die passende Musik, also einen Country-Sender. Und bei der letzten Tour kamen wir dann auch noch an einer Chain-Gang vorbei, also Gefangenen bei der Straßenarbeit, die aneinander gekettet waren. Und im Radio lief ein Song, in dem einer was von einer Chain-Gang sang – unglaublich!

Inwiefern spiegelt sich bei LEATHERFACE die Herkunft aus Sunderland, aus dem Norden Englands, wieder?

Es gibt immer wieder Referenzen an Kohlebergwerke, Leuchttürme, Schiffe und Werften – Sunderland war einer der größten Werftstandorte Englands. Es gibt bei LEATHERFACE überall Verweise auf Sunderland, denn da lebe ich, ich schaue mich um und schreibe nieder, was ich sehe und fühle.

Und musikalisch? BAD RELIGION etwa klingen einfach nach Südkalifornien.

Bei uns kann man so eine gewisse Melancholie heraushören, die unsere Stadt widerspiegelt. Es ist eine düstere Stadt ohne viel Hoffnung. Und entsprechend gibt es da auch viele starke Trinker.

Alkohol ist eine teuflische Droge.

Wenn eine Droge dich kaputtmacht, ist sie übel. Wenn sie dich glücklich macht, ist sie gut. I live to drink, I don’t drink to live. Das ist der Unterschied zu einem Alkoholiker. Es ist schlimm, was Alkohol mit manchen Menschen anrichtet, aber jede Art von Sucht zerstört. Ein bisschen von dem, was du magst, tut dir gut – zu viel davon, das macht dich kaputt.

Frankie, vielen Dank für deine Zeit.

 


LEATHERFACE kommen aus Sunderland an der englischen Nordküste. Gegründet 1988, veröffentlichte die Band um Frankie Stubbs, die sich offensichtlich nach dem Maskenmann aus „The Texas Chainsaw Massacre“ benannt hatte, mit „Cherry Knowle“ (Meantime) 1989 ihr erstes Album, dem „Fill Your Boots“ (1990, Roughneck) folgte – und 1991 dann „Mush“ (Roughneck), das bis heute als bestes und wegweisendes LEATHERFACE-Album angesehen wird. Der typische Sound der Band war da schon voll ausgeprägt: melancholischer, melodiöser, druckvoller Punkrock, darauf Stubbs unverkennbare Reibeisenstimme. Auch „Minx“ (1993, Roughneck) unterschied sich da nicht. Es sollte für längere Zeit das letzte reguläre Album sein, denn die Band löste sich Ende 1993 auf und Stubbs und Drummer Andrew Laing stellten „The Last“ (1994) im Alleingang fertig. Frankie war in den Folgejahren mit seinen Projekten POPE und JESSE aktiv, doch ein vollwertiger Ersatz für LEATHERFACE waren die nicht – und die frühen Alben blieben unvergessen, wurden neu aufgelegt. Groß deshalb die Freude, als LEATHERFACE 1998 ihre Rückkehr ankündigten, zusammen mit ihrer ersten US-Tour überhaupt, denn in den ersten Jahren hatten sich die Liveaktivitäten der Engländer auf Europa beschränkt. 1999 kam auf BYO das Split-Album mit HOT WATER MUSIC, ein gefeierter Release zweier sich ergänzender Bands. Darauf enthalten war „Andy“, ein Stück über Andy Crighton, den alten LEATHERFACE-Bassisten, der Selbstmord begangen hatte. Mit „Horsebox“ (2000, BYO) folgte nach sieben Jahren das erste richtige Studio-Album, für dessen Nachfolger „Dog Disco“ (2004, BYO) sich Frankie und Co. aber wieder reichlich Zeit ließen, wenn auch nicht so lange wie für „The Stormy Petrel“ (2010), das in Europa auf dem bandeigenen Label Big Ugly Fish Recordings erscheint und in den USA auf No Idea.