PLASTIQUE NOIR

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From Leeds to the Northeast of Brazil

PLASTIQUE NOIR wurden 2005 gegründet von Mitgliedern diverser Underground-Bands aus Fortaleza, einer Millionenstadt an der Küste im Nordosten Brasiliens. Gelangweilt vom eingeschränkten musikalischen Horizont der lokalen Szene, beschlossen Sänger Airton S. Nepomuceno (ex-MALLKA), Gitarrist Márcio Mäzela Benevides (ex-THE MEMPHIS MAFIA) und Danyel Fernandes (ex-SILENZIO) ihre eigene Idee von Dark Wave, Post-Punk und Gothic-Rock mit elektronischen Versatzstücken umzusetzen. Ähnlich wie ihre erste Inspirationsquelle, die SISTERS OF MERCY (daneben spielen BAUHAUS, THE CULT und CLAN OF XYMOX eine zentrale Rolle für ihre Musik), arbeitet die Band mit einem weiteren Mitglied namens „Sister Hurricane“, eine alte SR-16 Drum-Machine, die ähnlich wie bereits „Dr. Avalanche“, die Drum-Machine der SISTERS OF MERCY (eine Boss DR-55 Drum-Machine), das Rhythmusrückgrat der Band bildete: man könnte vermuten, dass PLASTIQUE NOIR knietief im Leeds der 80er Jahre stecken. Thematisch widmet sich die Band, deren Name eine Metapher für die in Leichenschauhäusern verwendeten schwarzen Plastikbeutel ist, den dunklen Seiten ihrer Heimatstadt: den kaputten und verlorenen Gestalten, die am Strand von Fortaleza mit den Barflies und Barpoeten, den Klebstoffschnüfflern, den Prostituierten und Transvestiten die Nächte zu einem Schauplatz für einen William S. Burroughs-Roman machen könnten. In Brasilien sind PLASTIQUE NOIR so etwas wie Helden und haben bereits für THE CRÜXSHADOWS als Support gespielt. Anfang 2010 hat die Band ihr Album „Dead Pop“ neu veröffentlicht. Sänger Airton und Gitarrist Márcio beantworteten meine Fragen.

Ihr habt letztes Jahr euer Album „Dead Pop“ veröffentlicht, das deutlich unter den Einfluss von Gothic, Cold Wave und Wave-Rock steht. Mitunter erinnert die Art und Weise, wie Márcio Gitarre spielt, an Daniel Ash von BAUHAUS. Könntet ihr den Entwicklungsprozess des Albums erläutern und wie man sich generell das Networking der Bands in dieser Szene in Brasilien vorstellen muss?

Airton: Die Intention von „Dead Pop“ war es, die besten Songs aus den letzten Jahren unserer noch jungen Bandgeschichte zu vereinen, deshalb findest du Songs, die an unser Demodebüt „Offering“ von 2006 erinnern, aber auch Songs, die wir neu eingespielt und produziert haben. Als junge Band haben wir damals natürlich nach Inspirationsquellen gesucht und THE SISTERS OF MERCY und andere Gothic-Rock-Bands waren ganz zentrale Einflüsse für uns. Aber ich denke, mittlerweile haben wir unseren sehr eigenen Stil gefunden und beeinflussen uns gegenseitig bei den Studiosessions: unser Gitarrist Márcio hat eine starke Affinität zu Cold Wave, ich bringe den experimentellen Electronic-Sound und die brasilianische Einflüsse mit ein und unser Bassist Danyel ist tief im Indierock und dem aktuellen Post-Punk verwurzelt. Deshalb hat „Dead Pop“ auch so viele abwechslungsreiche Facetten. Für uns hat es nichts Befremdliches, eine „dark band“ zu sein, denn diese Szene wächst beständig in Brasilien mit zahlreichen Themenpartys und eigenen Gothic-Festivals sowie zahlreichen Bands, die sich auch außerhalb von Brasilien eine respektable Reputation erspielt haben wie ELEGIA, 3 COLD MEN, die beide – wie wir auch – zu euch nach Deutschland zum Wave-Gotik-Treffen in Leipzig eingeladen wurden, sowie PECADORES, SCARLET LEAVES, ESCARLATINA OBSESSIVA und andere. Natürlich ist die brasilianische Szene nicht mit der in Europa zu vergleichen, aber die Zukunft in diesem Genre sieht hier sehr viel versprechend aus. Klar, es ist mitunter etwas ambivalent, diese Musik in einer Umgebung voller Sonne und Strände zu spielen, aber die Lokalpresse zieht unser exotischer Status förmlich an und sie möchte mehr über diese „black-dressed strange guys from the beach“ erfahren.

Márcio: Danke für den Vergleich mit Daniel Ash von BAUHAUS, den ich wirklich für einen großartigen Gitarristen halte. Die Art, wie er spielt, ist sehr intuitiv und experimentell, manchmal explosiv. Er und viele andere wie Billy Duffy von THE CULT, Bernard Sumner von JOY DIVISION und NEW ORDER oder Wayne Hussey von THE SISTERS OF MERCY und THE MISSION haben großen Einfluss auf mich. Aber ich denke, den größten Einfluss auf mich hat Billy Duffy. Duffy ist eine wahre „riff factory“. Er spielt oft sehr komplex, dann aber auch wieder aggressiv und atmosphärisch. Es war ein wichtiger Moment in meinem Leben, THE CULT auf der Bühne bei ihrem Konzert in Fortaleza zu sehen. Ian Astbury ist nicht mehr der Gleiche wie früher, aber Billy Duffy rockt immer noch ungemein. Die brasilianische Gothic- und Post-Punk-Szene wächst kontinuierlich in allen Regionen des Landes. Natürlich ist Europa weiterhin das Zentrum dieser Musik, aber die Bedeutung von Brasilien wächst in der „world dark map“.

In Europa wird das Bild von Brasilien oft eng mit den Favelas in Rio de Janeiro verbunden. Ich gehe davon aus, dass ihr den Film „Tropa de Elite“ von Regisseur Josè Padilha gesehen habt: der Film zeichnet ein Bild völlig abstrakter Brutalität und Hoffnungslosigkeit in den Favelas von Rio. Eine Kulisse voller Gewalt und Desillusion. Inwieweit bestimmt das euer Leben auch in Fortaleza?

Airton: Vor einigen Tagen ist in unserer Heimatstadt eine Frau erschossen worden. Sie starb bei dem Versuch, mit ihrem Auto vor einem Überfall zu flüchten, und wurde mit mehreren Schüssen von einem Jugendlichen niedergestreckt. Die ganze Stadt war schockiert. Sie kam aus einer wohlhabenden Ecke von Fortaleza, die an die dortigen Favelas grenzt. Es ist immer noch sehr gefährlich, in den an die Favelas angrenzenden Bezirken zu leben. Brasilien ist wirklich nicht das Paradies, für welches es mitunter gehalten wird. Wir haben weltweit den achthöchsten Bevölkerungsanteil, der in Gefängnissen inhaftiert ist. In einigen Zellenbereichen sitzen 300 Insassen, obgleich der Bereich auf 15 Personen ausgelegt ist. Sie „leben“ dort zwischen ihren Exkrementen und Ratten. Was glaubst du wohl, was sie antreibt, wenn sie aus dem Gefängnis entlassen werden? Natürlich Rache! Unsere Politiker kümmern sich einen Dreck um diese Situation. Sie machen sich die Taschen voll, anstatt sich um die notwendigen Bildungsprogramme für die Jugendlichen in den Favelas zu kümmern. Schau dir unseren Präsidenten an: viel Charity-Gequatsche, das nur seinem Image dient, aber effektiv versandet und auch der falsche Weg ist. Die jungen Leute müssen berufliche Perspektiven haben, Mitleid hilft ihnen nicht. Aber seine Charity-Strategie bringt ihm und seinesgleichen Wählerstimmen. Präsident Lula da Silva gibt sich in der Presse gerne als die neue Mutter Teresa aus, aber keiner will wissen und ergründen, wie die Kosten für die Massen seiner Günstlinge aufgebracht werden. Die Mitglieder von PLASTIQUE NOIR kommen aus der Mittelschicht und nicht aus den Favelas, wir leben aber in einem Radius der generellen Lebensbedrohung. Wir finden den von dir zitierten Film „Tropa de Elite“ sehr gut, denn er zeigt den probaten Weg, mit der ausufernden Brutalität und Kriminalität in Brasilien umzugehen: the hard way.

Márcio: Obgleich der Nordosten von Brasilien sehr reich an Kultur ist, dominiert die Armut. Fortaleza ist die viertgrößte Stadt in Brasilien, aber die sozialen Probleme sind immens. Ich mag dem Film „Tropa de Elite“ sehr. Im Wesentlichen wegen seiner ausufernden Brutalität, die mitunter so absurd ist, dass es fast etwas von schwarzem Humor hat. Der Film zeigt uns die Cops als korrupte Schweine in Uniform.

Ich könnte mir vorstellen, dass ihr in Fortaleza, obgleich die Stadt deutlich über zwei Millionen Einwohner hat, so etwas wie Exoten seid. Wie muss man sich dort den Alltag und euer Leben vorstellen?

Airton: Generell ist es in Fortaleza, wie in ganz Brasilien, schwierig, als Musiker zu überleben. Danyel ist der einzige von uns, der ausschließlich Musik macht. Márcio hat einen Abschluss in Soziologie und arbeitet als Dozent an der Universität in den Bereichen Anthropologie, Kommunikation und zeitgenössische Philosophie und ich arbeite als Art Director in einer Werbeagentur. Brasilien bietet Menschen, die in den Bereichen Kunst, Kultur, Erziehung und Lehre arbeiten, so gut wie keine Chancen. Was unseren „Exotenstatus“ anbelangt, hast du in der Tat Recht: wir kommen ganz gut an in der Lokalpresse und im Lokalfernsehen. Ansonsten gibt es hier keine „Szeneinseln“, die Bands unterschiedlicher musikalischer Herkunft spielen oft zusammen. Und das ist gut so, weil es den Horizont aller beteiligten Bands erweitert. Das gilt auch für das Publikum, welches verschiedene Stilrichtungen in einer Show kennen lernen kann, aber immer funktioniert das natürlich auch nicht.

Márcio: Obgleich wir hier wunderbare Strände haben, glaube ich ja, dass Fortaleza extrem nah an der Hölle liegt. Und wenn wir, wie du sagst, hier „exotisch“ sind, dann nur deshalb, weil wir die einzige Band in der Stadt sind, die Post-Punk und Gothic-Rock spielt.

Ich vermute, dass der Name eurer Drum-Machine, „Sister Hurricane“, eine „Hommage“ an die SISTERS OF MERCY und deren damalige Drum-Machine „Dr. Avalanche“ ist. Die Sisters sind ja ziemlich bedeutend in Brasilien und kurioserweise beantwortete Andrew Eldritch eine Anfrage seines ehemaligen Bandkollegen Wayne Hussey, als dieser zu Aufnahmen für THE MISSION in Rio de Janeiro war, das Konzert der SISTERS OF MERCY besuchen zu wollen, mit einem relativ interpretationsfreien „No fucking way!“

Márcio: Natürlich waren die SISTERS OF MERCY ein zentraler Einfluss für uns, wie für tausend andere Bands, und der Name „Sister Hurricane“ war gedacht, um diesem Geist der Musik zu folgen, aber nicht ideologisch gemeint und, wie Airton erwähnt hat, entwickeln wir heute unseren ganz eigenen Sound mit einer Vielzahl von Einflüssen. Die Sisters sind sehr groß in Brasilien, aber Andrew Eldritch ist eine sehr schwierige Persönlichkeit und seine Arroganz scheint seinen kreativen Output etwas zu lähmen. Übrigens lebt Wayne Hussey jetzt in Rio de Janeiro.

PLASTIQUE NOIR veröffentlichen in Brasilien über Wave Records. Ein Label, das kurioserweise „Wave Klassix“-Compilations veröffentlicht, auf denen sich auch deutsche Bands wie MALARIA!, GEISTERFAHRER, STAHLNETZ, oder die Düsseldorfer Punklegende Tommi Stumpff und selbst die in Deutschland so gut wie unbekannten DEUTSCHER SCHÄFERHUND finden. Wie groß ist der Einfluss dieser Bands in Brasilien und speziell auf euch?

Airton: Wave Records ist erst seit kurzem unser offizielles Label. Zuvor haben wir „Dead Pop“ bei einem sehr kleinen Label namens Pisces Records veröffentlicht, das allerdings auf keine bestimmte Musikrichtung festgelegt ist. Die Zusammenarbeit mit dem Label war nie so richtig zufrieden stellend für uns, und in einem fortgeschrittenen Stadium der Vermarktung kam dann Alex Twin mit seinem Label Wave Records ins Spiel, um letztlich auch den weltweiten Vertrieb voranzutreiben. Seither wurde die Zusammenarbeit zwischen ihm und uns immer besser, so dass wir uns entschlossen haben, auch unser nächstes Album, das November 2010 erscheinen wird, bei Wave Records zu veröffentlichen. Alex Twin ist ein sehr respektierter DJ und Label-Betreiber, nicht nur in der brasilianischen Gothic- und Wave-Szene, sondern auch in Europa. Wir schätzen seine Labelpolitik sehr, aber die von dir zitierten Bands haben nicht wirklich Einfluss auf unsere musikalische Entwicklung gehabt, dann schon eher Bands wie AND ALSO THE TREES.