ULLI LUST

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Der letzte Tag vom Rest des Lebens

Wien im Jahr 1984. Ulli treibt sich in der Punk-Szene herum und trifft eines Tages auf Edi. Die beiden Mädchen verbindet nicht viel – bis auf die fixe Idee, nach Italien durchzubrennen. Ohne Geld, ohne Papiere. Doch auf der abenteuerlichen Reise bis nach Sizilien macht Ulli die bittere Erfahrung, dass ihr Durst nach Freiheit und ihr Drang nach Selbstbestimmung an Grenzen stoßen. Die 17-Jährige ist sexuellen Belästigungen und Bedrohungen ausgesetzt – bis hin zur Vergewaltigung. In dem 463 Seiten starken autobiografischen Comic „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ (siehe Rezension in Ox #89), der beim Avant-Verlag erschienen ist, erzählt Ulli Lust, Jahrgang 1967, ein Stück Punk-Geschichte, wie sie selten zu lesen ist: aus Frauensicht. Für das Werk wurde die gebürtige Österreicherin 2010 auf dem Comic-Salon in Erlangen mit dem Max und Moritz-Preis ausgezeichnet. Die Wahl-Berlinerin, deren dokumentarischer Zeichenstil hervorsticht, erfährt große Anerkennung im Ausland: Die französische Übersetzung des Bands wurde jetzt mit einem der wichtigsten Comic-Preise Europas ausgezeichnet, die jährlich beim Comicfestival von Angoulême in Frankreich vergeben werden. Ulli Lust war 2011 unter den Preisträger/innen: An sie ging der „Prix Révélation“.

Wie war das, als du dich zeichnend in deine Vergangenheit zurück versetzt hast – in jenen Sommer im Jahr 1984, als du als 17-jähriges Punk-Girl mit deiner Freundin Edi nach Italien durchgebrannt bist und auf der Straße gelebt hast?

Unterhaltsam. Es ist toll, wenn man im Warmen sitzt und sich seine unbequemen Jugend-Abenteuer vor Augen führt. Jetzt habe ich allen Komfort: Zentralheizung, haha. Das Leben auf der Straße ist eine coole Sache, und ich find’s super, dass ich es gemacht habe. Vorher hatte ich einen historischen Roman über Berlin gezeichnet, da musste ich viel recherchieren. Es war großartig, eine autobiografische Geschichte zu machen, bei der man für die Recherche auf den eigenen Kopf zurückgreifen kann. Die Geschichte ist nicht immer angenehm, aber für eine künstlerische Auseinandersetzung spannend.

In der Tat, es gibt dramatische, belastende Szenen. Etwa die sexuellen Belästigungen, denen die junge Ulli in Italien ausgesetzt ist. Spürst du im Nachhinein Wut?

Diese Eindrücke sind nicht hochgekommen, während ich an dem Buch gearbeitet habe. Sie waren mehr der Grund, warum ich den Eindruck hatte, dass der Stoff relevant sei. „Zwei junge Punkrockerinnen wollen die Freiheit genießen und dürfen Fehler machen, so viele, wie sie wollen“: Eine solche Handlung hätte nicht ausgereicht. Aber die gesellschaftspolitische Dimension fand ich interessant. Jede Westeuropäerin hat Geschichten zu erzählen, wie sie belästigt wird und plötzlich gegen Wände läuft, weil sie es mit solchen Idioten zu tun hat, die sich nicht in sie einfühlen können und ihr nicht den gebührenden Respekt entgegen bringen.

Die Punk-Kultur ist männlich geprägt. War es gerade deshalb wichtig für dich, eine weibliche Perspektive zu schaffen?

Die Punk-Geschichte in dem Comic ist deshalb wichtig, weil sie die Geisteshaltung der beiden Mädchen illustriert: Diese totale Freiheit ausprobieren, wozu man Lust hat, das Hingezogensein zur dunklen Seite, schmerzlos sein. Sich die Ohren durchstechen mit Sicherheitsnadeln und sich für alles interessieren, was schräg ist, hart und laut. Diese Männerdominanz ist mir damals nicht negativ aufgefallen. Klar, ich war unter wahnsinnig vielen Männern, und ich war froh, als ich endlich mal eine Freundin gefunden hatte – wie diese Edi, mit der ich nicht viel gemeinsam hatte. Aber es war ein Mädchen. Da fühlte man sich sofort zu Hause, weil alle anderen Kumpels immer nur Jungs waren. Was ich schön fand, war damals dieses Spiel mit den Geschlechterrollen. Ich habe nicht mit den richtig super-coolen Punks zu tun gehabt, sondern mit denen, die so „schwul-transvestitenmäßig-androgyn“ rumgelaufen sind, haha.

Wie zum Beispiel auch jener Mann, der gleich am Anfang von Edi, die sich restlos für Sex begeistert, abgeschleppt wird.

Das war Günther, ein Gelegenheitsstricher. Die Jungs, mit denen ich zu tun hatte, haben kokettiert mit dem Bisexuellen oder damit, dass sie gerne schwul wären. Günther war eigentlich ein Hetero, der aber schwul werden wollte. Er hat sein Geld als Stricher verdient und fand es cool, schwul zu sein – aber es ist ihm nicht ganz gelungen, haha.

Dank Edi.

Genau, haha. Aber man muss sich den damaligen Zeitgeist vorstellen: Dass es Jungs cooler fanden, schwul zu sein, als ganz normale Heteros. Diese Macho-Punks, diese altmodischen, mit denen hatte ich nichts zu tun. Die fanden mich wahrscheinlich nicht cool genug, weil ich nicht so ein mädchenhafter Typ war – nicht so ein süßes Mädchen, das sich nicht immer gleich in starke Armen kuscheln möchte, haha.

Die Geschichte des Punk wurde überwiegend von Männern geschrieben. Bei deinem Buch dachte ich: Hey, da ist mal eine Frau, die aus dieser Zeit erzählt!

Es ist so verrückt, dass man das so sehen kann. Ich habe auch gedacht, dass die Geschichte interessant ist, weil sie aus der Perspektive einer Frau erzählt wird, habe aber nicht erwartet, dass man das ungewöhnlich findet. Die Handlung ist natürlich sehr speziell – aber letzten Endes ist sexuelle Belästigung alltäglich. Nicht so sehr in Deutschland, aber wenige Kilometer weiter südlich. Diese Musikschiene hat mich dagegen nicht so interessiert – ich kam vom Dorf und wusste zu wenig darüber. Die Kleiderschiene, dass die Punks so wild aussahen – das fand ich toll.

Musik spielt in dem Comic auch eine Rolle – um mal auf eine etwas heitere Szene einzugehen. Eine besonders intensive Szene ist ein THE CLASH-Konzert in Rom, auf dem Edi und Ulli abrocken. Wenn du dich daran erinnerst, denkst du dann: „Das war richtig Punk!“?

Ja, das war richtig geil! Wir waren richtig Punk. Wir haben in Rom versucht, Punk-Lokale zu finden. Weil diese Hippies auf der Spanischen Treppe ... na ja ...

Die waren euch zu harmlos?

Genau. Und dann haben wir endlich eine Punk-Kneipe gefunden nach tausendmal Rumfragen, und dann waren dort lauter komische, affektierte Mode-Punks. Wahrscheinlich waren das eher New Waver. Wir saßen in der Bar rum und fühlten uns viel cooler. Für die sahen wir wohl lächerlich aus. Es kommt darauf an, wie man Punk interpretiert.

Wie ist deine Interpretation von Punk?

Ich will mich nicht aus dem Fenster lehnen. Es war eine tolle Zeit, aber ich finde es schwierig, als Punk in Würde zu altern. Das Destruktive liegt mir nicht im Nachhinein. Aber für einen Jugendlichen ist das genau das Richtige, haha. Es war super, weil es einem diesen unglaublichen Drive gibt, einfach mal zu machen. Aber ich bin froh, dass mein Sohn kein Punk geworden ist.

Da musstest du dir als Mutter nicht allzu sehr Sorgen machen, im Gegensatz zu deinen Eltern. Du und Edi seid in gefährliche Situationen geraten, ihr seid in die Verstrickungen der Mafia geraten, in die Drogenszene Palermos reingerutscht.

Nein, in der Drogenszene waren wir immer schon. Ich komme aus einem Weinanbaugebiet. Genuss von bewusstseinsverändernden Substanzen wurde mir als Kind mitgegeben. Heroin war damals eine populäre Droge in Sizilien. Die Leute, die in Österreich gekifft haben, die hätten wahrscheinlich in Palermo Heroin gespritzt. Ich hatte Angst vorm Heroin, weil ich „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ gelesen habe. Ansonsten hätte ich es wahrscheinlich auch ausprobiert. Diese dumme Drogenpolitik sagte, dass alle Drogen gleich schlecht seien. Als Jugendlicher dachte man sich: Haschisch ist nicht so gefährlich, dann wird Heroin auch nicht so schlecht sein. Die Informationspolitik war nicht einleuchtend.

Nach Verstrickungen mit der Mafia in Palermo bist du über Umwege nach Hause zurückgekehrt. Wie bist du unmittelbar danach klar gekommen?

Schlecht. Da war ich sehr verwirrt, als ich zurückkam ...

Wie hat sich dein Leben danach entwickelt?

Nachdem der äußere Druck weg war, habe ich meine Abwehrhaltung gegenüber Sex aufgegeben. Diese ganze Auflehnung als 17-Jährige hatte damit zu tun, dass ich noch nicht reif dafür war. Jedenfalls habe ich mehr Gefallen daran gefunden als vorher, bin dann gleich schwanger geworden, und habe das Kind auch gekriegt. Das war vielleicht das Beste, was mir passieren konnte. Weil man Verantwortungsbewusstsein zeigen muss.

Du hast Grafikdesign in Berlin studiert und bist Comic-Autorin geworden. Wo siehst du die Verbindung zwischen dem Medium Comic und deiner Vergangenheit in der Punk-Szene?

Diese Vergangenheit in der Punk-Szene hat damit zu tun, dass ich mich dafür interessiert habe, welche anderen Wege man einschlagen kann. Es gab da ein ganz starkes, kreatives Bedürfnis. Damals war es auf das richtige Leben gerichtet und nicht darauf, dass man einen künstlerischen Ausdruck für seine überschäumenden Energien und Emotionen findet. Und heute mache ich das in grafischer und künstlerischer Hinsicht.

Haben Comics für dich was von Anarchie?

Klar, ich kann machen, was ich will. Es gibt noch keine eingefahrenen Strukturen. Die meisten Leute in Deutschland, die Comics machen, sind in kleinen Independent-Verbänden organisiert. Man ist mit allen befreundet, und die Verlage sind kleine Klitschen. Mein Verleger hat sein Lager im Klo eines Comic-Ladens, in dem er arbeitet. Dadurch, dass es noch keine Comic-Tradition in Deutschland gibt, kann man unheimlich viel ausprobieren. Ich kann nicht auf eine Tradition zurückgreifen. Deshalb wirken manche Sachen etwas ungelenker, andererseits muss ich alles neu erfinden.

Erklärt sich damit auch dein Erfolg mit dem Comic „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“?

Der Erfolg hat damit zu tun, dass der Comic eine sehr lange Geschichte ist. Es gibt diese Heftchenkultur, und es ist relativ neu, dass Comics so umfangreiche Geschichten erzählen. Eigentlich ging es mir darum, dass der Leser möglichst viel Zeit mit den Charakteren verbringt, den Comic nicht innerhalb einer halben Stunde gelesen hat und wieder weglegt. Ich möchte komplexere Stränge ineinander flechten, als wäre es ein Roman.

Der Begriff „Graphic Novel“ ärgert einige Fans klassischer Comic-Hefte.

Der Begriff klingt affektiert und arrogant. Der klingt, als wolle man sich von ihren Comics abgrenzen wollen. Da ist aber leider auch ein bisschen was Wahres dran, weil jene Leser diesen Jungs-Kram bevorzugen. Ich interessiere mich aber nicht für Superhelden! Die meisten alten Comics habe ich nicht gelesen. Ich bin nicht durch Comics sozialisiert wurden. Wenn ich heute jung wäre, würde ich Mangas lesen. Denn da gibt’s Mädchen-Storys. Storys, in denen Frauen die Hauptfiguren spielen.

Mit Electrocomics hast du einen eigenen Comic-Verlag gegründet.

Die Idee dabei war, dass man Comics ja auch auf dem Bildschirm lesen kann. Das funktioniert besser als mit langen Texten. Ich habe angefangen, Comics von Freunden zu sammeln. Ich habe keine großen ökonomischen Ambitionen. Das ist mein kleiner Garten, da pflanze ich ab und zu was. Es ist nicht so, dass ich das Comic-Wesen revolutionieren oder auf den Internet-Zug aufzuspringen will. Electrocomics.com ist auch für Menschen gedacht, die nicht in der Nähe eines Comic-Ladens leben. In Deutschland ist es so, dass man Comics selten im Buchhandel bekommt. Und deswegen werden Comics von einem Publikum, das sich für sie interessieren würde, aber nicht in Comic-Läden geht, nicht gefunden. Das Projekt ist avantgardistisch. Wir sprechen in Deutschland ein kleines Publikum an, aber weltweit ein großes.

In der Independent-Comic-Szene haben sich in den letzten Jahren einige Comic-Zeichnerinnen einen Namen gemacht. Bezeichnest du dich als Feministin?

Ganz sicher, klar. Ich schere mich nicht so um die öffentliche Propaganda, haha. Und die ist nicht so gut für die Feministinnen. Aber es bessert sich einiges. Ich habe das Missy-Magazin gelesen und habe gedacht: Holla, die jungen Frauen nehmen das Wort Feminismus aber oft in den Mund! Es ist gut, dass es Gegen-Kampagnen von jungen, coolen Frauen gibt. Style ist nicht unwichtig.

Was sollte sich zugunsten von Frauen ändern?

Von dem männlichen Motto „Kämpf dich durch!“ muss man weg. Eigentlich bräuchte die Gesellschaft Ideale oder Eigenschaften, die als „weiblich“ bezeichnet werden. Harmonie statt Konkurrenz. Und zum Sex: Das Problem, das im Comic beschrieben wird, ist die traditionelle Double-Bind-Situation. Die Männer wollten, dass das Mädchen mit ihnen schläft, aber in dem Moment, in dem sie Sex haben, verachteten sie sie. Eine Frau konnte nicht „Ja“ sagen, sonst war sie eine Nutte. Sie konnte also nur „Nein“ sagen, womit der Mann ohnehin gerechnet hatte und weiterhin versuchte, sie zu überreden. In meinem Fall war es so, dass das Neinsagen mich in Konflikt mit meiner eigenen liberalen Überzeugung gebracht hat, weil es so prüde wirkte. Eine völlig unvoreingenommene Haltung zur weiblichen Sexualität ist auch heute noch keine Normalität. Es schwirren immer noch viele der alten Mythen in den Köpfen rum.

Welche Mythen?

Sex ist eine komplizierte Angelegenheit. Wenn ein Mädchen „Nein“ sagt, finden das alle normal, und es ist ja auch ein Zeichen von Selbstbestimmung. Aber es hat einen Geruch von Spießigkeit: Nein, fass mich nicht an, denn meine Möse ist mein Schatzkästchen, mein Heiligtum. Wir sind noch lange nicht so weit, dass Mädchen so selbstverständlich ihre Sexualität ausleben wie ein Mann.

Ist die zunehmende Pornografisierung da ein Problem?

Es kommt auf die Art des Pornos an. Aber die Pornografisierung ist nicht gut, weil die Art, wie Frauen oft dargestellt werden, katastrophal ist – und immer diese Rasiererei ...

Zum Thema „Rasiererei“ gibt es eine lustige Szene im Comic: Ulli rasiert Edi die Schamhaare weg, weil Edi Filzläuse hat.

Das ist meine Lieblingsszene! Edi flippt deswegen vollkommen aus! Das waren die Achtziger. Da wollten die Mädchen aussehen wie Frauen und nicht wie kleine Mädchen.

Und Ulli sieht bei der Aktion auch zum ersten Mal das weibliche Geschlechtsorgan aus der Nähe.

Ich weiß nicht, wie viele Frauen ihre Möse jemals genau angeschaut haben.

Was ist von der 17-jährigen Ulli von damals geblieben?

Die Renitenz. Das Erwarten von Respekt. Vielleicht auch das unvorsichtige Hineinspringen, das Realisieren von Ideen. Es gibt viele Leute, denen reicht’s, wenn sie sich etwas ausdenken. Ich bin mehr die Aktivistin, die es dann auch macht.