HUMAN TETRIS

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Russia after midnight

Wer in den letzten Jahren Ausschau nach fesselnden Bands gehalten hat, die sich, ohne als simple Kopisten zu agieren, der dunklen Seite von Post-Punk angenommen haben, der wird an Bands aus Russland nicht vorbeigekommen sein. HUMAN TETRIS aus Moskau, deren Name sich von einer merkwürdigen japanischen TV-Show ableitet, haben gemeinsam mit den stilverwandten MANICURE und vor allem den brillanten MOTORAMA, deren „Pine“ wie einer der besten Songs vom „Unknown Pleasures“-Album von JOY DIVISION klingt, diesen Geist wiederaufgenommen. Mit Songs wie „Things I don’t need“ oder „Machine“ schaffen es HUMAN TETRIS, eine dunkle und gleichsam melancholische Aura zu kreieren, welche beispielsweise INTERPOL bereits auf ihrem Debütalbum vorgelebt haben (und so nie wieder erreicht haben), um diese mit der artifiziellen Dunkelheit von JOSEF K, THE WAKE (man denke an deren Song „Judas“) oder ATTRITION zu verweben. Die junge Band um Gitarrist und Sänger Arvid Kriger, der dem Bariton Ian Curtis’ gekonnt nacheifert, hat vor allem deshalb Charme, weil sie völlig auf überflüssigen Produktionsballast verzichten und ihre dunkle Ästhetik auf ihren Nukleus reduzieren. Gegründet haben HUMAN TETRIS 2008 vier junge Musiker, die, so möchte man fast unterstellen, mit einem gekonnten „Bonjour tristesse“ die Musikszene in Russland bereichern. Bassist Maxim Zaytsev beantwortete einige Fragen.

Euer Song „Things I don’t need“ hat den gleichen dunklen Glanz wie etwa „Stella was a diver and she was always down“ vom INTERPOL-Debüt. Ihr scheint gerade diesen Sound zu kultivieren. Kannst du etwas zu euren Einflüssen sagen?

Speziell dieser Song wurde auch von der dunklen und frühen New Yorker Post-Punk- und New-Wave-Ästhetik beeinflusst, aber auch von aktuellen schwedischen Bands wie WHITEST BOY ALIVE oder BOAT CLUB. Dieser Song ist schon speziell und eigentlich nicht typisch für unseren Sound, deshalb haben wir ihn auch nicht auf eine unserer EPs genommen. Aber weil wir von Einflüssen sprechen: Natürlich ist das primär diese Art von Post-Punk, wie er Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger von Bands wie THE WAKE, JOSEF K, THE SOUND, GANG OF FOUR oder den SAD LOVERS & GIANTS gespielt wurde. Allerdings bewegen wir uns gerade etwas weg von dieser dunklen Facette des Post-Punk hin zu einem etwas „versöhnlicheren“ Sound bei unserem in Kürze erscheinenden Album.

Mir war bis vor kurzem nicht bewusst, dass es in Moskau eine so große Anzahl wirklich großartiger, von Post-Punk geprägter Bands wie eben HUMAN TETRIS, MANICURE oder MOTORAMA gibt. Kannst du etwas zu diesem Zirkel von Bands sagen und in welchem Verhältnis ihr zueinander steht?

MOTORAMA kommen ja nicht aus Moskau, sondern aus dem Süden Russlands, aus Rostow am Don, aber du hast schon Recht, es hat sich sehr gut entwickelt mit guten Bands in jüngster Zeit in Russland. Du solltest dich dann auch mit den PUBLICS, DZIERZYNSKI BITZ, POMPEYA, BRANDENBURG und THE CHESHIRE STRANGLER beschäftigen. Natürlich gibt es da vielfältige Berührungspunkte und wir arbeiten oft zusammen. So haben uns MOTORAMA beim Artwork für unsere EPs unterstützt. Sasha von den PUBLICS hat bei verschiedenen Gigs in Kiew Bass bei uns gespielt, als ich verhindert war. Letztlich geht es aber darum, dass wir zusammen Spaß haben, wir erzwingen da nichts.

Ich stelle mir das Leben als Musiker in Moskau als tägliche Herausforderung vor, um mit all den Unwägbarkeiten der Stadt und den ökonomischen Zwängen zurechtzukommen. Könnt ihr von der Musik leben?

Nein, wir haben alle Jobs, um über die Runden zu kommen, und ich sehe auch nicht, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird. Dafür gibt es natürlich eine Vielzahl von Gründen, und die extrem niedrige Kommerzialisierung der Independent-Musik in Russland ist letztlich auch eine Konsequenz der sehr geringen sozialen und ökonomischen Fortschritte in diesem Bereich. In Russland gibt es einfach, gerade im unmittelbaren Vergleich zum restlichen Europa, zu viele Hindernisse und Hemmnisse, damit sich diese Musikszene entsprechend entwickeln könnte. Das Internet macht aber vieles einfacher für uns und ist auch sehr hilfreich für unsere Entwicklung als Band.

In den Medien nimmt man Moskau als eine Stadt mit extremen Brüchen und Abgründen zwischen reich und arm und voller sozialer Zerklüftung wahr: eine Stadt der Extreme. Gibt es dennoch einen Raum, in dem sich Subkultur entwickeln kann?

Moskau ist wirklich eine befremdliche Stadt, und sie entwickelt sich immer mehr ins Surreale. Die Stadt ist definitiv überbevölkert, zu teuer, um richtig überleben zu können, klimatisch nicht sehr attraktiv, im Winter grauenhaft, und die sozialen und gesellschaftlichen Probleme sind erheblich. Du hast sicherlich auch von den zahlreichen Auseinandersetzungen mit faschistischen Gruppen gehört. Und natürlich ist Moskau eine Stadt voller sozialer Disparitäten und Ungerechtigkeiten. Die Stadt wird stark durch Korruption und Bestechung bestimmt und gelenkt. Das reicht bis in die obersten Ebenen der Stadtverwaltung und schließt das Parlament mit ein. Aber dennoch ist Moskau, im Vergleich zum Rest des Landes, immer noch eine Stadt, die eine Menge Vorteile bietet. Moskau entwickelt sich zu einer modernen Metropole, die auch für unsere Subkultur kleine Nischen zulässt und zudem einige Jobmöglichkeiten bietet. In der letzten Zeit hat sich in kultureller Sicht sehr viel getan und die verschiedensten musikalischen Subkulturen entwickeln sich gerade ganz gut. Es gibt natürlich auch die Möglichkeit, auf geringem ökonomischen Niveau ganz gut zu überleben, aber ich würde Moskau nicht zwingend als das Mekka der Lebenskultur auf einem „Low Level“-Niveau per se bezeichnen. Ich würde eigentlich eine klimatisch bessere und wärmere Gegend als Lebensmittelpunkt vorziehen.

Wie beeinflusst das politische Regime in Russland euren privaten Alltag und euer Schaffen als Band?

Bisher hat es mein Leben und das der Band nicht wirklich nachhaltig beeinflusst, aber wenn sich die politischen Verhältnisse so weiterentwickeln, wie sie es gerade tun, dann werden wir alle in ein paar Jahren großen Problemen gegenüberstehen und der Zwang zu einer signifikanten Zäsur und Veränderung wird enorm werden.

Wie wichtig sind die Kultur Russlands und deine Herkunft für eure Musik?

Die meisten von uns, bis auf unseren Gitarristen Arvid, sind in Russland geboren und aufgewachsen. Russisch ist unsere Muttersprache, das ist das Land, in dem wir leben, und das Umfeld unseres Alltags, und schon deshalb hat es einen enormen Einfluss auf uns. Dennoch gibt es wirklich wenige richtig gute russische Bands oder Künstler. Ich kann immer wieder nur KINO als großartige Band hervorheben, MOLOTOV COCKTAIL, NOL und einige Alben von AUKTYON sind sehr gut. Übrigens, da du ja eine Affinität zu MOTORAMA hast, solltest du dir unbedingt ihr Nebenprojekt UTRO anhören. Das ist ein großartiger Sound und sie singen hier auf Russisch und nicht wie bei MOTORAMA auf Englisch.

Gibt es auch Kooperationen von HUMAN TETRIS mit anderen russischen oder europäischen Bands, vielleicht sogar irgendwelche Wunschkandidaten für eine Zusammenarbeit?

Ich würde sehr gerne einmal mit den WILD PALMS aus London zusammenarbeiten, die ich sehr schätze und die wirklich einen faszinierenden Sound spielen. Aber im Grunde genommen würde ich mit jeder Band auf Tour gehen, die den gleichen Geist und Drive hat wie wir, einfach auch deshalb, um die unterschiedlichsten Erfahrungen zu sammeln.