FLYING OVER

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Everybody Sucks!

Im Sumpf all jener Bands, die den Punkrock der Endsiebziger in bester KBD-Manier darbieten, ihn mit mitreißender Powerpop-Kante fabrizieren oder Sixties-Garage-Elemente durchblicken lassen, fällt es schwer, den Überblick zu behalten. So war es für die französische Band FLYING OVER bis dato ein Leichtes, sich meiner Aufmerksamkeit zu entziehen. Dem wurde vor kurzem Abhilfe geschaffen und meine Ignoranz mit einer enthusiastischen Live-Show inklusive einer Handvoll überzeugender Coverversionen von X-RAY SPEX, T.V. KILLERS, THE KIDS oder TEENAGE HEAD bestraft. Zudem gehen mittlerweile zwei Alben, einige Singles und Samplerbeiträge auf das Konto von FLYING OVER, die im Sommer 2011 mit ihrer aktuellen Platte „No One Here Get’s Out Alive“ im Gepäck auf Tour gingen. Jet Boy (git & vox) und Jet Girl (vox) gaben bereitwillig Auskunft über das Verhältnis von Bordeaux und Paris, von Beziehungsdasein und Bandleben und von antiquierten Geschlechterrollen und Rock’n’Roll.

FLYING OVER existieren bereits seit 1996 und sind seit über 15 Jahren ein Teil der europäischen und insbesondere der französischen Punkrock-Szene. Wie sieht eure Bestandsaufnahme dieser eineinhalb Dekaden aus?

Jet Boy: Die Szene ist so lebendig wie eh und je – vermutlich, weil Punkrock auf sehr dynamische Art und Weise mit gesellschaftlichen Veränderungen Schritt hält und sich immer wieder neu erfindet. Immer, wenn man denkt, alles sei ausgeschöpft, treten neue, großartige Bands auf den Plan, bringen junge Labels mit viel Energie neue Platten raus oder erlebt man umwerfende Konzerte. Trotz dieser Anpassungsfähigkeit und dank des D.I.Y.-Gedankens bleibt Punkrock immer noch eine Underground-Kultur, passt sich eben nur an die Gegebenheiten an, die mit gesellschaftlichen Wandel einhergehen, indem sie beispielsweise zunehmend Blogs statt traditioneller Fanzines als Plattform nutzt. In den Neunzigern tourten die meisten Bands innerhalb ihrer Ländergrenzen – abgesehen von einigen US-Szenegrößen. Erst Ende dieses Jahrzehnts wurden mehr und mehr internationale Kontakte geknüpft, Punkrock als Gegenkultur lukrativer und die Szene in Hinsicht auf Konzertorganisation belebter. Heutzutage merken wir, dass eine Tour durch Europa kein Hindernis mehr darstellt und erfreulicherweise dafür gesorgt wird, dass unsere Platten fast überall in Europa erhältlich sind. Die einzige Krankheit, an der die Szene leidet, ist der Wegfall von Infrastrukturen, da in vielen europäischen Ländern alternative und unabhängige Kultur kaum oder gar nicht mehr geduldet und erst recht nicht subventioniert wird. Ich denke, dass es der Szene nichtsdestotrotz gut geht und sie auch das überstehen wird.

Wie bist du zum Punkrock gekommen?

Jet Boy: Aufgewachsen bin ich mit den T.V. KILLERS. Buzz, deren Bassist, war Rektor meiner Oberschule und versorgte mich mit Fanzines, Platten und aktuellen Konzertterminen und weckte in mir den Drang, selbst eine Band zu gründen. 1996 habe ich FLYING OVER ins Leben zu rufen. Jet Girl habe ich dann 1998 getroffen. Zu dieser Zeit lebten wir noch in Saintes, einer Kleinstadt zwischen Bordeaux und La Rochelle, wohin wir 1999 umzogen und dort Drummer Gun Boy trafen. 2007 zogen wir dann erneut um – diesmal nach Bordeaux. Seit 2009 ist unser Bassist T.Boy mit im Boot.

Apropos T.V. KILLERS: Im Ox #97 hat Olivier von den IRRITONES die seiner Meinung nach zehn wichtigsten Franzpunk-Platten vorgestellt. Würdest du der Bandauswahl noch etwas hinzufügen?

Jet Boy: In den Siebziger waren ASPHALT JUNGLE sehr prägend. Unter den Bands aus den Achtzigern zählen außerdem noch DUM DUM BOYS, REAL COOL KILLERS, LES THUGS, BACKSLIDERS und FIXED UP zu meinen Favoriten. Die Sachen von GASOLHEADS waren neben den T.V. KILLERS sicherlich die meistgespielten Punk-Scheiben auf französischen Plattentellern in den Neunzigern. Momentan sind beispielsweise AGGRAVATION, LIPSTICK VIBRATORS oder LES JOLIES ziemlich angesagt.

Wie steht es um die heutige Szene in Bordeaux?

Jet Boy: Bordeaux ist seit jeher eine feste Institution in der französischen Garage- und Punk-Szene. Den Grundstein legten Bands wie STRYCHNINE, STALAG oder STANDARS – das „ST“ im Bandnamen übrigens als Anlehnung an die STOOGES – schon in den Siebzigern. 20 Jahre später ging’s dann weiter mit den T.V. KILLERS, WONKY MONKEES oder den MAGNETIX und deren Konzerten im legendären The Jimmy, das leider seit mehreren Jahren geschlossen ist. Jede Band, die durch Europa tourte und im weitesten Sinne etwas mit Rock’n’Roll zu tun hatte, trat dort auf. Nichtsdestotrotz gibt es mit Lokalitäten wie dem Le Saint Ex, dem L’Heretic oder Le Café Pompier auch heute noch Anlaufstellen für die D.I.Y.- und Punk-Szene. Zudem bietet die Stadt auch jeden Sommer einen Haufen Festivals wie das Eysines Goes Soul und Fanzines wie Abus Dangereux und On The Rocks oder der Plattenladen Total Heaven versorgen die Leute mit Platten und Infos. Um die kleineren Konzerte kümmern sich Booking-Agenturen wie Tweedlee Dee, Let’s Panic Later oder Adrenalin Fix Music und supporten gerade einheimische Bands wie THE STRANGE HEADS, THE SUNMAKERS oder THE TINY TERRORS. In Bordeaux wird also in allen Belangen eine Menge geboten.

Gibt es eine starke Konkurrenz zu Paris?

Jet Boy: Ja. Im Prinzip gab es schon immer Rivalitäten zwischen Paris und den anderen, etwas provinzielleren Szenen. Auf so einen Hauptstadtsnobismus trifft man doch in jedem Land. In Paris gibt es wesentlich mehr Clubs und Veranstaltungen und ein größeres Publikum – für unbekanntere Bands ist es also recht einfach, sich dort einen Namen zu machen, wenn man regelmäßig als Support-Act in Erscheinung tritt.

Jet Girl: Dennoch stellen wir immer wieder fest, dass das Publikum in Paris wie auch allen anderen Großstädten immer etwas übersättigt erscheint. Teilweise sind die Reaktionen auf Bands aus dem Umland sogar herablassend. In der Provinz hingegen legen die Leute wesentlich mehr Enthusiasmus und Begeisterung an den Tag und sind dankbar, wenn man bei ihnen spielt. In Bordeaux wird einem beides geboten: eine ausreichend gut vernetzte Szene mit regelmäßigen Konzerten und gleichzeitig ein begeistertes Publikum und viele Menschen, die viel Herzblut in die Sache stecken.

Stimmt, Großstadtsnobismus scheint es überall zu geben. Geht es um solche Leute in dem Song „Everybody sucks“?

Jet Girl: Nicht zwangsläufig. Viel mehr sprechen wir mit dem Song all jene Leute an, die in der ganzen Punkrock-Sache nur eine Möglichkeit sehen, sich modisch auszutoben. Musik ist ihnen scheißegal. Viel zu oft erlebe ich Leute, die während des Konzertes im Publikum stehen und nur darauf bedacht sind, möglichst stylish herüberzukommen. Klassische Fashion-Victims. Es stimmt aber, dass diese Leute in Großstädten vermehrt aufkreuzen.

Wo wir gerade bei szeneinternen Missständen sind: Ihr werdet doch oft als „female-fronted“ betitelt. Ist es nicht nervig, dass Jet Girls Gesang auf diese Art und Weise hervorgehoben beziehungsweise reduziert wird und dass die Kategorie Geschlecht in einer emanzipatorischen Szene immer noch eine Rolle spielt?

Jet Boy: Ich habe weder das Gefühl, dass wir das Label einer „Band mit ’nem Mädel am Mikro“ tragen, noch sehe ich einen Grund darin, dass das so gesehen werden sollte. Das ist absolut kein Bestandteil unseres Selbstverständnisses als Band. Viel mehr ist Jet Girl, seit ich sie kenne, eine Bereicherung für uns. Sie hat ihre ganz eigene Vorstellungen von guter Musik und trug erheblich zu unserem Verständnis vom Songwriting bei. Klar gibt es eine Menge Bands, die meinen, mit einer Sängerin mehr Zuspruch zu finden. Da mag was dran sein, aber für mich liegt das nicht an der „sexy side“, sondern an der gegenseitigen Aufgeschlossenheit, die das mit sich bringen sollte. Ich finde es erbärmlich, zu einem Konzert zu gehen mit der Aussicht, dort Fleischbeschau zu betreiben. So ein chauvinistisches Verhalten hat in der Szene nichts verloren. Ich habe nie verstanden, warum es Leute gibt, die Rock’n’Roll für ein Männer-Ding halten und Frauen auf ihre Rolle als Frau reduzieren.

Jet Girl: Ich gebe Jet Boy da vollkommen Recht. Für mich ist es teilweise schwierig, mich innerhalb der Strukturen der Subkultur durchzusetzen. Oftmals fühle ich mich auf mein physisches Erscheinungsbild reduziert – einige scheinen mehr Interesse an meinen Klamotten zu haben als an meiner Performance oder Stimme. All die Gaffer gehen mir jedoch am Arsch vorbei. Ich mache das, was ich machen möchte, und weiß, dass all diese Leute das nicht mal im Ansatz könnten. Ich persönlich mag es, wenn Punkbands mit einer hohen Frauenquote aufwarten können. Davon sollte es viel mehr geben.

Doofe Frage: Seid ihr beide wirklich ein Paar oder gehört das Gezüngel auf der Bühne nur zur Show?

Jet Boy: Haha, nein, das ist nicht gespielt. Seit 1998 sind wir ein Paar und haben einen siebenjährigen Sohn.

Wirkt sich eure Beziehung in irgendeiner Form auf das Touren aus? Was halten die beiden anderen davon?

Jet Boy: Als Paar zu touren ist eigentlich sehr angenehm: Zum einen genießen wir es, gemeinsam unsere Leidenschaft auszuleben, und zum anderen ist es auch von Vorteil, nicht jeden Abend auf Brautschau gehen zu müssen, haha. Für die anderen ist es sicherlich manchmal schwierig, uns immer als Paar zu sehen. Wir versuchen jedoch, möglichst respektvoll miteinander umzugehen und trennen Persönliches von Bandangelegenheiten. Zudem kennen wir uns alle schon seit Ewigkeiten und haben in all den Jahren herausgefunden, wie wir einander handhaben müssen.

Jet Girl: Die Jungs begegnen mir mit sehr viel Respekt. Unsere gemeinsame Grundlage ist die Leidenschaft für die Musik, die wir machen. Nichtsdestotrotz wäre es gelogen, zu behaupten, dass immer alles rosig abläuft. Manchmal lassen sich Privates und „Business“ eben nicht trennen. Im Allgemeinen verläuft das Tourdasein unter uns vieren jedoch recht reibungslos. Jet Boy und ich können eine Pause in unser Rolle als Eltern einlegen und uns Zeit für die Musik und unsere Freunde nehmen. Wir haben uns vor 13 Jahren in einem Proberaum kennen gelernt und seitdem genieße ich es, mit ihm Musik zu machen.