CHUZPE

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Die guten Kräfte revisited

1982 erschien das Album „1000 Takte Tanz“ der Wiener Band CHUZPE. Ein rarer Klassiker österreichischer Musik zwischen Punk, Post-Punk, New Wave und Proto-Indiepop. Drei Jahrzehnte später wurde es jetzt auf Vinyl neu aufgelegt, nachdem 2011 das punkigere Frühwerk der ehemaligen Falco-Labelkollegen zugänglich gemacht wurde. Sänger und Gitarrist Robert Wolf aka Robert Räudig lässt eine Geschichte Revue passieren, die möglicherweise noch nicht zu Ende ist.

„Wenn ich jemals eine Band habe, wird sie CHUZPE heißen“, erinnert sich Räudig/Wolf an eine Gewissheit seines jüngeren Selbst. Der 1953 geborene Musiker ist kein nostalgischer Mensch. Seine im sich langsam sommerlich aufheizenden Wien im Juni 2012 vorgenommene Nacherzählung der Bandgeschichte wirft immer wieder erhellende Streiflichter auf das Wien und Österreich der Vergangenheit und Gegenwart. Dass es im Österreich der Siebziger Jahre kontrovers war, seiner Band ein jiddisches Wort als Namen („Chuzpe“ oder „Chutzpe“ aus dem Hebräischen: „Frechheit, Dreistigkeit, Unverschämtheit“) zu geben, darf als sicher gelten. „Das war für mich immer greifbar, auch in der Schule hatten wir eine Lehrerin, die uns immer wieder darauf hingewiesen hat – war die Widerstandskämpferin?“ Damit meint Wolf die Enteignung, Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis, welche die Auslöschung jeglicher linker und bürgerlicher Intelligenz bedeutete. Die identitätsstiftende Geschichtsfälschung der 1945 ausgerufenen zweiten Republik Österreich, dass also das kleine, arme Land das erste Opfer von Adolf Hitler und seiner mörderischen Spießgesellen gewesen sei, führte zu einem lange währenden, seltsamen gesellschaftlichen Scheinfrieden. Dabei waren weder der Nazi-Mief noch der Austrofaschismus „ausgelüftet“ oder in irgendeiner tauglichen Form aufgearbeitet, in manchem Hirnen spukten sicher noch Träume von der K.u.K.-Monarchie herum. Robert Wolf: „Das Wien der Siebziger war schon so wie auf den Covern der frühen Ambros-Platten: immer ein wenig grau und farblos. In der Erinnerung sind selbst die Sommer so, es war immer ein bisschen kalt“. „Ambros“ meint Wolfgang Ambros, den bis heute aktiven Übervater des Austropop, dem in seinen frühen Tagen großartige Lieder wie „Da Hofa“ gelangen, die österreichischen Alltag pointiert aufgriffen und reflektierten. Das Lied wurde übrigens von einer späteren CHUZPE-Inkarnation launig ins Englische übertragen.

Musik war ein Weg in eine eigene Welt, aus dem Grau des Wiens der Jahre ’74/75 heraus. Robert Wolf hatte eine Vision davon, was er mit CHUZPE machen wollte: „Eine Mischung aus VELVET UNDERGROUND und Wolfgang Ambros.“ Das Personal der im Entstehen begriffenen Band rekrutierte sich aus Plattensammlern und Musikfans, die sich vom Plattenjagen auf einem Wiener Flohmarkt kannten, „sich und ihre Platten austauschten“. Ein zusätzlicher Faktor war das Auftauchen kostengünstigerer nachgebauter E-Gitarren aus Japan. Erste Proben konnten in Roberts Wohnung stattfinden, begünstigt durch einen Hausmeister aus Jugoslawien und Nachbarn, die nicht ganz der Wiener Mainstream-Soziologie entsprachen. Robert, der damals wie Vic Godard von SUBWAY SECT als Postbote arbeitete und bis heute im Dienst der Post ist, las englische Musikmagazine und so drang langsam Punk in sein Bewusstsein und das seiner Freunde. Ein großer Katalysator war Patti Smith mit ihrem ersten Album „Horses“.

Anfangs noch als „beschleunigte SWEET“ wahrgenommen, öffnete die erste RAMONES-LP auch an der Donau, weit weg von Queens, New York die letzten Schleusen. Christian Brandl, der Bassist, wird Christian Kruzifix, später Christian Chromosom, Gitarrist Ali Griehmann wird Ali Krawalli, und aus Rudi Barcal an den Drums wird Rudi Rüpel. Der Proberaum übersiedelt aus der Wohnung in die Märchenabteilung (!) des Audiocenters, eines Plattengeschäfts, für das Christian Brandl arbeitet, wo CHUZPE nach den Öffnungszeiten mangels Nachbarn am Judenplatz ungehemmt lärmen können.

Das „Nicht spielen können müssen“-Gebot des Punk ist ein wahrer Befreiungsschlag, gleichzeitig begegnen die ihre ersten Konzerte spielenden CHUZPE fast überall und zwangsläufig der „Musik kommt von Können“-Riege, die bisher das Wiener Musikgeschehen dominierte. Und zwischen Nicht-Spielen-Können wie THE CLASH und dem eigenen Nicht-Spielen-Können ist dabei immer noch ein großer Unterschied, fällt Robert Wolf beim Konzert von Strummer & Co. 1976 in einem Wiener Gewerkschaftsheim auf. Ein Besuch in London fokussiert die Perspektive wieder. Robert: „Die LURKERS haben tolle Songs, aber rumpeln so wie wir.“

Robert Räudig & Co. schreiben kurze, prägnante Lieder. Zwischen Hochdeutsch und Wiener Dialekt finden sie textlich eine Form, die sie von vergleichbaren deutschen Bands unterscheidet. Großtaten wie „Panik – Alanig“ oder „Beislanarchie“ entstehen. Letzteres fühlt der noch vorherrschenden Subkultur auf den Zahn. Stefan Weber, Sänger und Mastermind der Wiener Musikkabarett-Aktionisten-Truppe DRAHDIWABERL (sowas wie vorweggenommene österreichische GWAR), aus deren Reihen Falco zu Weltruhm gelangte, hält dieses Lied für eines der brillantesten, das je in Wien geschrieben wurde. Es erscheint mit dem schon erwähnten „Panik – Alanig“ und „Terror in Kleinbabylon“ 1979 auf der – jahrzehntelang vergriffenen – Compilation „Wiener Blutrausch“, die mit Beiträgen von in etwa ähnlich gearteten Bands wie MINISEX, MORDBUBEN AG oder DRAHDIWABERL zu einer Art Gründermythos der neuen Wiener (Musik-)Szene wird.

Im selben Jahr erscheint auch die CHUZPE-Single „(They can’t beat) The beat / I love the sixties“, englisch gesungen/getextet und wie schon die Songtitel erahnen lassen eine Hommage an die Sechziger und ihre Musik. CHUZPE ging es nie darum, eine sortenreine Punkband zu sein, selbst wenn Robert in einem 1982 erschienenen Buch über „neue Rockmusik in Österreich“, das nach ihrem Lied „Die guten Kräfte“ benannt ist, als „der Johnny Rotten des winzigen Wiener Untergrunds“ beschrieben wurde. Vor allem lieb(t)en Wolf und CHUZPE Musik, Musik mit einem Mehr an Aufregung, Haltung und Intelligenz.

Durch die in Österreich (nicht nur) in Vor-Internet-Zeiten sehr beliebte Strategie „Erfolg durch Informationsvorsprung (wir wissen, dass es ein Ausland gibt)“, kommen sie so 1980 zu einem richtigen Hit. Robert bringt aus England JOY DIVISIONs „Love will tear us apart“-Single mit. Als sie sich im Proberaum daran versuchen, das Stück zu covern, gefällt einem A&R-Mann von Gig Records just dieses Stück. Vielleicht, weil Drummer Rüpel das polternde Originalschlagzeug durch einen Disco-Beat ersetzt – und der A&R Wolfgang Strobl sollte eigentlich hauptsächlich unbekannte Disco-Stücke zum Lizensieren aufstöbern ... Der monetäre Erfolg dieses Cover-Hits bleibt überschaubar, scheitert doch der geplante deutsche Text am Nein des Verlags. Immerhin, CHUZPE dringen peripher in die Wahrnehmung einer breiteren Öffentlichkeit vor, spielen als „Newcomer des Jahres“ in der Wiener Stadthalle. Gig Records finanziert zwei weitere Singles, die Band spielt in dem Fernsehfilm „Neonmix“, der mit dem CHUZPE-Conterpart Wilfried (der für die ERSTE ALLGEMEINE VERUNSICHERUNG sang und dann eine Solokarriere startete) den (vermeintlichen) Zeitwandel der Neuen Österreichischen Welle thematisierte.

Besagter Wilfried sollte dann „1000 Takte Tanz“ produzieren, doch die Gage von 10.000 Schilling war Gig-Boss Markus Spiegel zuviel. Aufgenommen wurde stattdessen „in einem günstigen, neuen Studio, die machen mir einen guten Preis“, so Spiegel. Der Musik und den Texten von „1000 Takte Tanz“ konnten die Produktionsbedingungen nicht wirklich etwas anhaben und wie bei nicht wenigen wirklich „wichtigen“ Alben mag es gerade der eigenwillige, eben nicht hundertprozentig „amtliche“ Sound sein, der dazu beiträgt, es – auch beim Wiederhören – als besonders zu empfinden. Die Band – neben Christian und Robert mittlerweile Andi Jallits (Drums), Andi Kolm (Gitarre), Stephan Wildner (Tasten) – machte einen Sound, in dem sich von DEVO bis KRAFTWERK, von PERE UBU bis zur Neuen Deutschen Welle (zeitgenössische Kollegen wie DAF, FEHLFARBEN oder ABWÄRTS fand/findet Robert gut) viel wiederfindet, gleichzeitig trumpfen CHUZPE mit ihrem ganz eigenen Witz und einer unprätentiösen Intellektualität auf. Letztere leitet Robert Wolf im Gespräch von seinem Klassenbewusstsein als Arbeiterkind her – schließlich ist Bildung der beste Weg den Eliten Paroli zu bieten.

Dabei verloren CHUZPE nie ihre Erdung und den Blick auf die unmittelbare Umgebung. Das in Österreich fast sprichwörtlich gewordene Lied „Die guten Kräfte“ nahm seinen Ausgang, als Robert zwei ältere Damen begeistert über die schauspielerische Leistung in alten deutschen S/W-Filmen reden hörte. Ob der von der heimischen Justiz immer wieder vorgeladene suspekte Ex-Finanzminister der rechts-konservativen Regierung Schüssel, Karl-Heinz Grasser, das Lied kennt und ein irregeleiteter CHUZPE-Fan ist – seine TV-Aussage „zu schön und zu klug zu sein und so Neid hervorzurufen“ kommt dem Text sehr nahe – bleibt zu bezweifeln. Zu einem wie immer gearteten „Durchbruch“ gereichte „1000 Takte Tanz“ der Band, die bis Anfang der Neunziger in verschiedenen Formen existierte, aber nicht. Christian Brandl sprang nach heftigen Drogenepisoden 1987 aus einem Fenster – einer der zum Glück wenigen, aber nicht minder tragischen österreichischen Rock’n’Roll-Toten.

Robert Wolf ist frei von rückwirkenden „was wäre wenn“-Überlegungen, der Vater zweier Kinder nimmt die Neuauflagen des CHUZPE-Werks (2011 erschien die 7“-Single „Nervengas“, das italienische Label Raveup Records veröffentlichte die LP „Anarchy Bla Bla Bla“, beide schon wieder vergriffen) gelassen. Nach der Band CHUZPE77 REVISITED, mit der er um 2003 altes Material etwas härter interpretierte, tritt er die letzten Jahre solo auf, arbeitet an einem Album und hat zu „elektronischer Musik“ von CHUZPE-Kollge Andi Kolm diesem vor kurzem „Wortkaskaden“ geschickt. Vielleicht tauchen CHUZPE wieder auf. Wenn sie bei einer Musik angelangen, die sie selbst gut finden. Mit einem Mehr an Aufregung, Haltung und Intelligenz.