CRYPT RECORDS

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Rock’n’Roll isn’t dead, it’s just a little sleepy

OBLIVIANS, GORIES, DEVIL DOGS, LITTLE KILLERS, RAUNCH HANDS, THEE MIGHTY CAESARS, LYRES, PAGANS – macht es klick? Wenn nein, gehört eure Plattensammlung auf den Sondermüll. Noch nie zu „Back From The Grave“-, „Las Vegas Grind“- oder „Teenage Shutdown“-Compilations den Watusi, Hully Gully oder Mashed Potato getanzt? Dann sind eure Partys scheiße und die Chancen hoch, dass Crypt Records einigen, vor allem jüngeren Leuten tatsächlich kein Begriff sein wird. Kein Wunder, war es doch im letzten Jahrzehnt auffallend ruhig um das Label. Anfang des Jahres meldete Crypt sich mit einer Release-Offensive zurück, knackte mit dem Debütalbum der Londoner Radaubrüder ATOMIC SUPLEX die Grenze des 100. Releases und feierte schon längst 20-jähriges Bestehen. Grund genug und höchste Zeit, sich an der Aufarbeitung der Geschichte der Ausnahme-Rock’n’Roll-Schmiede zu versuchen.

Einfach wird das nicht. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte von Crypt Records kommt eher einer biografischen Abhandlung als einem trockenen Labelporträt gleich. Alles rankt sich um Tim Warren – Label-Chef, Promoter, Plattenladenbesitzer, Tourbegleiter, Rock’n’Roll-Geek, DJ, Besessener – oder viel eher um sein Leben: Umzüge, Pleiten, Niederlagen, Rip-Offs, Fehlkalkulationen; Crypt wächst und entwickelt sich in unabdingbarer Verzahnung mit dem Lebensweg seines Gründers. Sollte Crypt wirklich jemandem kein Begriff sein? Hat man sich jemals ernsthaft mit Rock’n’Roll beschäftigt, wird man über das markante Labellogo auf einer Plattenrückseite gestolpert sein. Sixties-Punk-Nerds nennen die „Teenage Shutdown“-Sampler ihr Eigen, TEENGENERATE werden sicherlich so manche Privatparty in ein Fuzz-Desaster verwandelt haben und den NEW BOMB TURKS wurde in manchen Wohnungen ein eigener Schrein für ihren High-Energy-Powerpunk gebaut. Von turbulenten Tassle-Twirler-Sounds und Teenpunk-Rereleases bis zu primitivem Bluespunk oder obskuren Exotica-Shakern: Crypt bedient die ganze Palette an Musikstilen, die sich unter der Parole „Cool & Crazy“ vereinen lassen und ist und bleibt damit eines der faszinierendsten und prägendsten Labels der Rock’n’Roll-Geschichte. Doch zunächst eine Rückblende in die Achtziger.

„Back From The Grave“: 1983

Tim Warren wurde 1960 in New York geboren, zog im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie auf die Philippinen und 1964 nach Griechenland, blieb dort, bis er 14 Jahre alt war, und kaufte seine erste Platte, „Exile On Main Street“ von den ROLLING STONES. 1974 zogen die Warrens zurück in die USA und es kam, wie es kommen musste: Tim wurde Record-Junkie. Er stieß auf Punkrock, kurz bevor New Wave seinen Siegeszug antrat, sah die RAMONES live, lernte Bands wie THE DAMNED, DMZ und THE CRAMPS kennen und schätzen, und fing 1978 an, in zahlreichen Plattenläden zu arbeiten, was sich bis 1983 ohne Unterbrechung fortsetzen sollte.

Er flog vom College und hielt sich mit mehreren Nebenjobs über Wasser. Ende der Siebziger arbeitete er in einem Plattenladen in Amherst, Massachusetts, dann in Maine in einer Tankstelle und machte seine ersten Gehversuche als DJ. Drei Mal pro Woche legte er für jeweils zehn Dollar pro Nacht auf. Im Oktober 1980 zog er zurück nach New York und jobbte weiterhin in einem Recordshop. Er fing an, einige Tapes mit bis dahin unveröffentlichten Sixties-Punk-Singles aufzunehmen und traf eines Tages während der Arbeit auf Billy Miller, der 1978 zusammen mit Miriam Linna das Kicks Magazine gründete, aus dem 1986 wiederum Norton Records entstand. Miller ermutigte Tim zur ernsthaften Umsetzung seiner Reissue-Gehversuche.

Die tatsächliche Geburt von Crypt Records lässt sich kaum genau datieren. Ende der Siebziger begannen die ersten Ideen in Tims Kopf zu spuken. Im März 1982 fasste er dann die ersten handfesten Pläne, diese umzusetzen. Unter dem Titel „Songs The Cramps Taught Us“ kompilierte er Fifties- und Sixties-Originalsingles all der Songs, die jemals von den CRAMPS durch den Fleischwolf gedreht wurden. Ohne finanzielle Rücklagen sah er sich dann jedoch gezwungen, das Vorhaben, diese auf einer Doppel-LP zu veröffentlichen, erst einmal wieder auf Eis zu legen und für weitere Zeit in einem New Yorker Plattenladen zu arbeiten, „weitere 14 Monate für reiche Idioten und kaum mehr als drei Dollar die Stunde zu schuften“, wie er Gildas Cospérec im Dig It! #28 berichtet. Am 4. August 1983 verkaufte er mit seiner damaligen Frau Caroline einen Teil ihrer Hochzeitsgeschenke und konnte damit die 3.000 Dollar Kosten für die Pressung seiner ersten Platte aufbringen: den ersten Teil der mittlerweile legendären „Back From The Grave“-Serie. Der Sixties-Reissue-Markt war zu diesem Zeitpunkt von einigen guten Garage-Compilations wie der „Pebbles“-Reihe, den ersten Teilen von „Chosen Few“, „Off The Wall“, „Boulders“ oder „Texas Flashbacks“ dominiert. Viele von denen mutierten mit zunehmender Zahl hinter der „Vol.“-Angabe zu dem, was den Großteil der Rerelease-Sampler ausmachte: eine krude Mischung aus gniedeligem Psych-Wahnsinn, Proto-Bubblegum, unausgegorenem Sixties-Folk und einigen Teenpunk-Stücken in wechselnder Qualität. Beim „Back From The Grave“-Sampler legte Tim jedoch viel Wert darauf, die aggressive Seite des Genres zu dokumentieren und konzentrierte sich auf Aufnahmen aus den Jahren 1964 bis 1967. Es sind laute, fuzzschwangere Gitarren, sägende Vocals und Texte über Hass, Lust, Chaos und all die anderen Problematiken, die einen zwischen Pubertät und fast abgelaufener Adoleszenz eben so bewegen, die „Back From The Grave“ zu den besten Garage-Comps überhaupt machen.

Auch bei den Linernotes ist BFTG den anderen Samplern überlegen: neben den grundlegenden Informationen holte Tim sich auch direkt bei den Bandmitgliedern Anekdoten, Geschichten zur Entstehung der Aufnahmen und kurze biografische Abrisse ihrer Mitglieder ein und bezahlte im Gegenzug sogar meistens die Lizenzen – ein weiteres Novum im Wust der Sixties-Rereleases. Gleichzeitig sind seine Linernotes voller Enthusiasmus, geprägt von seinem New Yorker Zungenschlag, und teilen den ein oder anderen Seitenhieb in Richtung artsy fartsy Psych-Gefrickel aus. Um das Ganze abzurunden, konnte Mort Todd gewonnen werden, Tims Kritzeleien für das Cover umzusetzen: ein Zombie, der diverse Devotionalien moderner Musik zu Grabe trägt. Tim brachte somit eine Menge ungehobelter Teenpunk-45s erstmalig auf großformatiges Vinyl und verpasste dem ganzen Rerelease-Sumpf einen gehörigen Arschtritt, der bis heute nachhallt – BFTG gilt immer noch als Paradebeispiel für die wilde Seite des Sixties-Sounds.

Erste Gehversuche mit „modern bands“: 1984-1989

1983 zog Tim zu seiner Frau Caroline nach Paris und ließ dort einen Teil seiner Reissue-Veröffentlichungen als French Editions pressen und erfreute sich recht guter Absatzzahlen auf dem französischen Markt. 1984 schmiedete Tim mit den RAUNCH HANDS dann erste Pläne, auch Platten von zeitgenössischen Bands herauszubringen, musste jedoch feststellen, dass für deren erste beiden Alben („El Rauncho Grande“, 1984 und „Learn To Whap-A-Dang“, 1986 – beide wurden letztendlich von Relativity veröffentlicht) eine ganz andere Ebene zur Finanzierung, Promo, Anzeigenschaltung etc. betreten werden musste, die zu diesem Zeitpunkt weit außerhalb seiner finanziellen Mittel lag. Nichtsdestotrotz waren die RAUNCH HANDS die erste „moderne Band“, die je über Crypt veröffentlicht wurden, indem sie sich auf „Back From The Grave“ Vol. 3 (1986) mogelten. Im gleichen Jahr folgten dann DMZ, die zwischen 1976 und 1978 aktiv waren, mit der „Live At Barnaby’s“-LP und zwei Live-Alben der LYRES. Die erste wirklich moderne Band, um die Tim sich kümmerte – inklusive Promo, Tourbegleitung, Anzeigen und so weiter – waren THE WYLDE MAMMOTHS aus Stockholm, die Tim bezüglich der Veröffentlichung ihrer beiden Alben „Go Baby Go!!“ (1987) und „Things That Matter“ (1988) kontaktierten. Zu diesem Zeitpunkt hat das Billy Childish-Fieber auch auf Tim übergegriffen und er schmiedete Pläne, THEE MIGHTY CAESARS mit einer (Non-)Hit-Collection auch in den USA bekannt zu machen. So flog er nach London, suchte mit Billy einige Songs aus und der Plan wurde umgesetzt.

Nach einem weiteren Zwischenstop in Göteborg und der Trennung von Caroline kehrte Tim in die USA zurück und hing weiterhin mit den RAUNCH HANDS und den RAT BASTARDS rum, die später zu den DEVIL DOGS werden sollten. Mit den Releases einer überschaubaren Anzahl moderner Bands brachte er eine neue Rock’n’Roll-Welle ins Rollen. Wie sich schnell herausstellte, war Amerika jedoch nicht das richtige Land, um mit dieser Musik etwas zu erreichen.

Im August 1989 lernte er seine zukünftige zweite Frau Micha in Basel während einer RAUNCH HANDS-Show kennen und sah sie in Freiburg wieder. Als es nach der Tour Zeit wurde, nach New York zurückzufliegen, waren die beiden ineinander verliebt. Ein Jahr später heirateten sie in Las Vegas und beschlossen, nach Hamburg zu ziehen. Die Prä-Hamburg-Zeit war eher von Reissues geprägt; trotzdem hatte Tim bis dahin einige zeitgenössische Bands im Roster: die Cowpunks NINE POUND HAMMER („The Mud, The Blood, And The Beers“ 1988), DEVIL DOGS (mit ihrem selbstbetitelten Album, 1989), die Billy Childish-Projekte THE HEADCOATS (die 1990 „Beach Bums Must Die“ und „The Earls Of Suavedom“ veröffentlichten) und THEE MIGHTY CAESARS (mit „English Punk Rock Explosion“ und „John Lennon’s Corpse Revisited“ im Jahr 1988, 1995 veröffentlichten sie „Surely They Were The Sons Of God“ ebenfalls auf Crypt). Tim schaltete zunehmend Anzeigen, bekam immer mehr Demos zugeschickt und sollte zukünftig zunehmend mit modernen Bands zusammenarbeiten.

The Hamburg Years & „Powerpunk“-Explosion: 1989-1998

Zeitgleich mit dem Umzug nach Hamburg und der Eröffnung des ersten Cool & Crazy-Ladens setzte Tim auch die Pläne zur Veröffentlichung einer RAUNCH HANDS-Platte um. „Pay Day“ erscheint 1989, „Have A Swig“ und „Fuck Me Stupid“ erscheinen ein respektive drei Jahre später. In den fast zehn Jahren, die Tim in Hamburg verbrachte, sorgte Crypt mit einer Flut an Veröffentlichungen für Aufsehen. Anfang der Neunziger die nächsten drei Alben der High-Energy-Garage-Punks DEVIL DOGS („Big Beef Bonanza“, 1990; „30 Sizzling Slabs!“, 1992 ; „Saturday Night Fever“, 1993). Mit dem Motor-City-Garagesoul-Sound der GORIES („Outta Here“, 1992 und „I Know You Be Houserockin’“, 1994, als Rerelease ihrer ersten beiden Alben auf New Rose) und dem Gospelpunk der OBLIVANS („Soul Food“, 1995; „Popular Favorites“, 1996; „... Play 9 Songs With Mr. Quintron“, 1997) aus Memphis veröffentlichte er die wahrscheinlich besten Garagepunk-Alben der Neunziger und legte mit JON SPENCER BLUES EXPLOSION („Crypt-Style!“, 1992; „Extra Width“, 1993; „Orange“, 1994 – letzteres ist das zweitbestverkaufte Album auf Crypt) die Grundsteine für den Siegeszug des Bluespunk. Alle Releases von Crypt zwischen 1989 und 1998 aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen, erwähnt seien die großartigen TEENGENERATE („Get Action“, 1994), die LoFi-Weirdos COUNTRY TEASERS („Satan Is Real Again“,1996 und „The Pastoral - Not Rustic - World Of Their Greatest Hits“, 1995), DM BOB & THE DEFICITS („Bad With Women“, 1996, und „Bush Hog’n Man“,1997), FIREWORKS, PLEASURE FUCKERS, THE BEGUILED, LOS ASS-DRAGGERS, LAZY COWGIRLS, THE DIRTYS, THE REVELATORS und BANTAAM ROOSTER.

Seine vermutlich größten Erfolge feiert Crypt mit den NEW BOMB TURKS, die maßgeblich einen Stil prägten, der sich etwas später unter dem Begriff Powerpunk etablierte, und deren 1993er Debütalbum „Destroy Oh Boy“ bis heute die meistverkaufte Platte auf Crypt ist. Nach zwei weiteren Alben („Information Highway Revisited“, 1994, und „Pissing Out The Poison – Singles & Other Swill ’90-’94“, 1995) wechselten die NEW BOMB TURKS zu Epitaph, veröffentlichten dort „Scared Straight“ (1996), „At Rope’s End“ (1998) und „Nightmare Scenario“ (2000) und mussten dann jedoch aufgrund „niedriger Verkaufszahlen“ – das heißt 30.000 verkauften Platten – gehen. Tim zieht den Vergleich: der Großteil aller Alben der Crypt-Bands verkauften sich gerade mal zwischen 300- und 4.000-mal. Eine Band wegen „lediglich“ 30.000 verkaufter Platten vom Label zu schmeißen, sei kaum besser als das Verhalten der Major-Scheusale Sony oder BMG. „Hey Epitaph, try some bands that sell 600, you lazy fucks!“

Allein im Jahr 1995 veröffentlichte Crypt insgesamt 14 Alben, was ihnen – nachdem sich in den vorangegangen dreieinhalb Jahren 50.000 Dollar Miese angehäuft hatten – finanziell beinahe das Genick brach. Zeitgleich gab es um die amerikanische Vertriebssituation einigen Hickhack, der Crypt schlussendlich zu Matador und deren Vertriebsconnections führte. Tim konnte sich nun sicher sein, zeitnah und garantiert für die Verkäufe ausgezahlt zu werden, zog damit aber auch Missgunst auf sich, wie etwa aus den Reihen des Maximumrocknroll-Fanzines

1994 stieß Dirk zur Crypt-Crew. Seine jahrelange „Karriere“ als Kunde des Ladens hatte ihn wohl dazu qualifiziert, zu diesem Zeitpunkt als Aushilfsjob neben seinem Studium im Laden arbeiten zu können. Daraus entwickelte sich letztendlich eine mittlerweile 18 Jahre andauernde Zusammenarbeit, in welcher Dirk sich um Cool & Crazy Hamburg, den Mailorder, sowie den Vertrieb kümmert. Im Sommer 1997 wurde das Gebäude, in dem sich der Plattenladen befand, von einem Investor gekauft und anschließend die Miete verdreifacht. Man entschloss sich, den Laden vorerst zu schließen.

Tourbegleitung, Pleiten, Burnout: Das Ende der „Modern bands“-Ära

In den Neunzigern konzentrierte Tim sich nicht nur darauf, Platten moderner Bands herauszubringen, sondern setzte auch alles in Bewegung, um sie in Europa auf Tour zu schicken, und fuhr oftmals selber mit. Bereits 1989 buchte er die erste, dreimonatige Eurotour der RAUNCH HANDS, borgte sich von zwei Freunden jeweils 15.000 Dollar, kaufte einen Van in Eindhoven, die Backline in New York und ließ diese dann nach Europa verschiffen. „Schwierige Umstände“ wäre dafür nicht der richtige Ausdruck, „Mord trifft es wohl eher“, resümiert Tim. Zusätzlich musste er persönlich für alles aufkommen: Verpflegung, Sprit, Zigaretten für die Band. In Spanien verbrachten sie insgesamt drei Wochen, gaben in der Zeit aber nur vier (sic!) Konzerte – immerhin wurde an diesen Tagen immer von den Clubs für Getränke und Catering gesorgt. „Ich verbrachte drei Wochen mit fünf Kerlen, die nichts Besseres zu tun hatten, als mit ihren versoffenen Ärschen irgendwo rumzuliegen. Wir wurden geboren, um Amateure zu bleiben“.

Am Ende der Tour begann mit der Motorreparatur für eine horrende Summe eine langwierige Periode immer wieder auftretender und kostspieliger Schäden am Van. Zu dieser Zeit war die Nachfrage in Europa nach Crypt-Bands jedoch nicht überragend: „Damals, also insbesondere von 1989 bis 1992, waren in Europa vor allem Sixties-,Rockstars‘ wie die FUZZTONES, SubPopLedZep-Grungekram oder Harte-Jungs-Poserrock angesagt. Es war der Wahnsinn, mit Crypt-Bands da einen Fuß rein zu kriegen – bis dann im März 1993 sowohl das erste NEW BOMB TURKS-Album als auch deren Tour einschlug wie eine Bombe und die Clubs auf einmal auch mehr als die üblichen 400 Dollar bezahlen konnten. Das galt jedoch bei Weitem nicht für die anderen Bands. Ich glaube, dass die Ermüdung von all dem ganzen Aufwand für das Booking und die Promo, und dann auch durch die insgesamt 33 Touren in sieben Jahren, die jeweils zwischen 30 und 70 Tagen dauerten, schlussendlich der Hauptauslöser dafür waren, dass wir später damit aufhörten, uns um moderne Bands zu kümmern. Das war einfach zu viel für ein kleines Label“.

Tim kann auch heute noch auf Abruf mit den Absatzzahlen seiner Veröffentlichungen – getrennt nach Markt und Jahr – um sich werfen, hebt Verträge jahrzehntelang auf, hat eine penible Erinnerung an Daten und Nummern. Er ist dafür bekannt, die wilden Seiten des Rock’n’Roll-Lebens mitzunehmen, aber gleichermaßen ehrlich und aufrichtig mit seinen Bands umzugehen. Verständlich, dass er dementsprechend leiden muss, wenn er einen Stapel seiner liebsten Rockabilly-45s veräußern muss, um Rechnungen begleichen zu können.

Zusätzlich zur Überbelastung durch den hohen Labeloutput veränderte sich 1996 die Club-Landschaft maßgeblich: die Besucherzahlen sanken, Abmachungen seitens der Promoter wurden nicht eingehalten, Techno und elektronischer Mist traten ihren Siegeszug an und gleichzeitig nahmen die Verkaufszahlen der Crypt-Platten rapide ab. 1998 zog Tim sich für längere Zeit zurück, analysierte die Finanzen und Verkaufsstatistiken und stellte dann fest, dass jeder einzelne Release ein Riesenhaufen Geld gekostet hat. Bei exakter Betrachtung verschlangen die meisten Alben der Crypt-Bands mehr Geld, als sie überhaupt einbringen konnten. Die Kosten für die ASS-DRAGGERS beliefen sich auf fast 20.000 DM, die ersten Alben von REVELATORS und DM-BOB schluckten jeweils zwischen 15.000 und 16.000 D-Mark, BANTAM ROOSTER ca. 12.800 DM und selbst für das dritte OBLIVIANS-Album musste Tim 1.000 Mark draufzahlen, nur um einige Beispiel zu nennen. Und das nur in Europa; die Verkaufszahlen in den USA sahen wesentlich dürftiger aus. Zusätzlich musste Tim sich von zwei seiner Bands den Rip-Off-Vorwurf gefallen lassen – und das obwohl er niemals von einer Band Geld dafür genommen hat, um seine Telefonrechnungen für die Organisation von Gigs oder Portokosten für den Promo- und Poster-Versand an Booker, Clubs, etc. zu begleichen.

Warum also sich weiterhin für eine Band den Arsch aufreißen, die noch nicht mal in ihrem eigenen Land selber eine Tour auf die Beine gestellt bekommt und sich zusätzlich auch noch dermaßen daneben benimmt? So entschloss Tim sich 1997, zukünftig nicht mehr mit modernen Bands zusammen zu arbeiten. Die zweite LP von BANTAM ROOSTER war noch in der Pipeline, aber mehr Releases aktueller Künstler waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr angedacht. Nach den finanziellen Rückschlagen, jahrelangem Zuzahlen bei den Touren der Bands und den rapide sinkenden Verkaufszahlen hatte Tim die Schnauze voll. Dennoch: „Ich bereue heute nichts von all dem. Ich kann mit Stolz sagen, zur Entwicklung des US-Rock’n’Rolls beigetragen zu haben, zu dem ganzen Rummel um amerikanische Garage-Bands in Europa. FLAMIN’ GROOVIES, STOOGES, LYRES, FLESHTONES, REAL KIDS – um die hat sich in Amerika doch niemand geschert, während die hier total durch die Decke gingen.“

Während der Touren konnte Tim sich zumindest gewiss sein, genügend Crypt-Platten zu verkaufen, von denen ein Großteil der Recordstore-Typen immer noch nichts wissen wollte. „Wir haben jede verdammte LP, CD oder Single von Club zu Club geschleppt und den Leuten den Crypt-Spirit in den Rachen gestopft.“ Er ist stolz, all das auf sich genommen zu haben und auf diese Weise eine europäischen Fanbase für all die Bands aufgebaut zu haben, deren Alben sich kaum verkauften und die kaum mit Style und Rockstar-Habitus punkten konnten. Amerikanische Bands schafften es schon immer eher in Europa zu etwas Berühmtheit und wurden hier laut Tim seit jeher geschätzt.

Ein weiterer Faktor, der Tim resignieren ließ, war die Fanzine-Landschaft in den Neunzigern, wie er im Dig It #28 berichtet. „Die Zines wurden von 16-jährigen Epitaph/Fat Wreck-Poppunkteenybopper-Knalltüten mit einem Rock’n’Roll-Wissen gleich Null gemacht und ich wäre bescheuert gewesen, diesen Kids meine Platten zum Besprechen zu schicken. Die Zine-Szene war zu diesem Punkt eigentlich ziemlich tot und ich möchte nicht die Zines, die mit viel Hingabe arbeiten, an den Pranger stellen, aber es gab diese beschissene Flut von Fanzines von Kids, deren Leben von Bands wie NOFX, RANCID, GREEN DAY, SCREACHING WEASEL, etc. angeblich verändert wurde und womit ich rein gar nichts zu tun haben wollte. Und andersrum sicher auch nicht: ,Hey grandpa rock’n’roll, you’re old, old-fashioned and square!‘ – Yes indeed, I am, Junior, but please, no mayonaisse on my Whopper, kiddo“ (Dig It! #28).

Rückkehr in die USA und Haus-Querelen: 1999-2006

Tim entschloss sich, in die USA zurückzukehren, ließ Crypt Europa in den Händen von Dirk, verließ Hamburg am 13. Januar 1999 und verbrachte die folgenden zwei Wochen damit, in Utah, Colorado und Nordkalifornien nach einem Haus zu suchen. Ein ruhiges Dorf irgendwo in den Bergen sollte es werden. Während eines Schneesturms stieß er auf einen Stadtteil von Truckee in Kalifornien, der seit dem 19. Jahrhundert unberührt zu sein schien, und beschloss zu bleiben. Er mietete ein Haus und fuhr nach Los Angeles, um kistenweise Platten, Singles und CDs sowie die ganze Technik aus dem Crypt USA-Büro in zwei Lastwagentouren nach Truckee zu verfrachten. Als er dann die beiden PAGANS-Reissues (bereits 1994 brachte er „Everyboy Hates You“ heraus; 2001 sollten dann dann „Shit Street“ mit Studioaufnahmen und das pinkfarbene Album mit Demor-Recordings von 1978 bis 79 erscheinen) in Angriff nahm, musste er feststellen, dass für eine Veröffentlichung der Platten kein Geld übrig war. Brett, der sich während Tims Abwesenheit um Crypt USA kümmerte, hatte sich mit 31.000 Dollar vom Crypt-Konto bereichert und wurde selbstverständlich gefeuert. So blieb Tim erst mal keine andere Möglichkeit, als das restliche Geld zusammen zu halten und Crypt USA neu aufzubauen.

Etwas später kamen Micha und Hund Bando nach und Tim zog mit ihnen im Mai ins kalifornische Inverness, einem 350-Seelen-Dorf, gelegen auf einer Halbinsel im Nordwesten des Marin County. Dort lebten sie bis zum Juni 2000 und luden dann abermals den ganzen Crypt-Krempel sowie ihren Hausrat in zwei große Trucks, um ins über 3.000 Meilen entfernte Frenchtown in New Jersey umzuziehen. Im Dig It! #28 äußert sich Tim im Interview: „Wir haben nicht wirklich vor, hier jemals wieder wegzuziehen – es ist ein wunderbares kleines Städtchen mit keiner einzigen Shopping Mall und keinem Fastfood-Abschaum.“

Das Haus war aus dem Jahr 1865, so dass einiges an Instandsetzungsarbeiten anfiel. Zudem half Tim regelmäßig, die Häuser seiner zwei Schwestern zu restaurieren und ging regelmäßig seinem Bruder in dessen Café in NYC zur Hand. Dazu sagte er: „Zu sagen, man sei im Baugewerbe, erscheint mir weniger blamabel, als anzugeben, man hätte im Musikbusiness zu tun.“ Zusätzlich zur Arbeit am Haus, die sich zunehmend als ausweglos herausstellte, und dem miserablen Zustand von Crypt USA verkündete auch noch EFA, der deutsche Vertrieb von Crypt Records, seine Pleite und brachte Tim in weitere finanzielle Schwierigkeiten. Doch die Arbeit an dem Haus stellte sich als Fiasko heraus und hielt ihn weiterhin in den USA fest; dem Savage Magazine berichtete Tim in dieser Zeit: „Ich habe meine Rückkehr in die USA etwa ein Jahr, nachdem ich hier angekommen bin, bereut. Alles was ich möchte, ist hier raus! Dank der zurückgebliebenen Bush-Regierung und ihrer Big-business-friendly-hands-off-Einstellung und dem Wall-Street-Arschlochtum wurde die ganze Mittelschicht durch das Subprime-Hypotheken-Durcheinander wirtschaftsunfähig gemacht – das Haus lässt sich nicht verkaufen und ich werde hier wohl noch eine Weile festhängen.“ Und es sollte tatsächlich bis 2008 dauern, bis er das Hause los wurde.

„Having a record store is a good way to go broke“: Brooklyn 2006-2008

Rückblickend ist Tim überzeugt, dass die Rückkehr in die USA inklusive Hauskauf der größte Fehler seines Lebens war. Sechs Jahre Arbeit und der finanzielle Aufwand für Reparaturen sowie Steuern führten letztendlich zu nichts – 2006 setzte er alles daran, das Haus zu verkaufen, aber es sollte eineinhalb Jahre während der Bush-Ära dauern, bis es schließlich dazu kam. Während dieser Zeit wurde das Label nur mit minimalen Lebenserhaltungsmaßnahmen bedacht. Im gleichen Jahr fing Tim dann jedoch wieder Feuer und eröffnete – wenn auch mit unsicheren Zukunftsaussichten und auf wackeligen finanziellen Beinen – den Cool & Crazy-Laden in Brooklyn in unmittelbarer Nachbarschaft zu den heruntergekommensten Kneipen und Clubs. „In New York gab es zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen vernünftigen Rock’n’Roll-Plattenladen und so zog ich mit dem ganzen Crypt-Lager und Mailorder sowie dem Masteringstudio nach Brooklyn und – ob schlauerweise oder aus Blödheit kann ich nicht genau sagen – eröffnete Cool & Crazy Brooklyn. Diese Zeit hatte ihre guten als auch schlechten Momente. Gut waren die Tatsache, einen Ort zu etablieren, an dem man gutes Zeug kaufen konnte, und die zahlreichen Stunden in der grandiosen Rock’n’Roll-Kellerbar Don Pedros.“ Zunächst gestaltete er den Laden als Green Door Shop, kümmerte sich also um Mastering-Tätigkeiten im Hinterraum und wenn ein Kunde klingelte, öffnete er und packte Bestellungen im Vorraum. Später heuerte er Leute an, die sich um den Laden zu richtigen Öffnungszeiten kümmern konnten.

Drei Viertel seiner Kunden waren Europäer und insgesamt reichte die Nachfrage nicht aus, um den Landen anständig zu refinanzieren. Zudem verbachte Tim zunehmend Zeit an fremden Tresen und gesteht im Nachhinein ein, dass er wohl nicht dafür geschaffen ist, einen Laden am Laufen zu halten; vor allem in Zeiten, in denen kaum Interesse an so einem Geschäft besteht. Releasetechnisch war es in den Jahren der Hausreparatur sehr still um Crypt. Das LITTLE KILLERS-Debüt von 2003 verkaufte sich zwar verhältnismäßig gut, aber all die Kosten für die Instandsetzung des Hauses und für die zwei Gerichtsprozesse, die er führen musste, um es wieder loszuwerden, ließen keinen Spielraum für Veröffentlichungen moderner Bands. So veröffentlichte er statt des ersten Albums von KING KHAN & BBQ SHOW nur ihre „Teabag Party“-Single (2007), schlug auch das Angebot aus, das dritte BLACK LIPS-Album zu veröffentlichen, und scherte sich weiterhin recht wenig um moderne Bands.

Im Juni 2008 verstarb sein Hund Bando, der letzte gemeinsame Nenner in seiner Beziehung zu Micha, und sie trennten sich. Er machte den Laden dicht, und als zeitgleich Sarah Palin und John McCain als Präsidentschaftskandidaten auf den Plan traten, entschloss er sich, die USA wieder zu verlassen. Er besorgte sich ein Ticket nach Hamburg und verbrachte zehn Tage mit der Suche nach einem Apartment, nur um einzusehen, dass Hamburg völlig überteuert ist. Er erweiterte seinen Suchradius auf einen Bauernhof zwischen Hamburg und Berlin, fand aber schlussendlich einen ehemaligen Kindergarten zum Verkauf in Berlin. Als er herausfand, dass dessen Kaufpreis ungefähr dem entsprach, was er für die Miete einer New Yorker Wohnung in nur sechs Jahren ausgeben würde, schlug er zu und kehrte den USA nach fast zehn Jahren abermals den Rücken zu. In der Zwischenzeit hatte Dirk auch eine neue Immobilie in Altona für den Crypt-Laden in Hamburg gefunden. Er und Tim verbrachten vier Wochen damit, den Laden zu renovieren und einzuräumen. Im September 2005 öffnete denn der neue Cool & Crazy-Laden auf 24 Quadratmetern in der Julius-Leber-Straße.

Dämmerschlaf & zartes „Comeback“-Rumoren: 2008-2012

Tim richtete sich in Berlin ein und konzentrierte sich erst mal auf seine (Re-)Mastering-Tätigkeiten – es blieb ruhig um Crypt. Doch im Mikrokosmos rumorte es – einige Crypt-Bands waren wieder umtriebig: THE GORIES und THE OBLIVIANS spielten gemeinsam einige Shows in Europa und konnten 15 Jahre nach ihrer Auflösung 800 zahlende Gäste in den Festsaal Kreuzberg in Berlin locken, eben der Stadt, in der sie 1992 gerade 60 Besucher sehen wollten. 2010 veröffentlichte NEW BOMB TURKS-Sänger Eric Davidson sein Buch „We Never Learn – The Gunk Punk Undergut, 1988-2001“ und feiert aus diesem Anlass zwei Nächte lang in Belgien und den Niederlanden mit Lesungen, DJ-Action von Tim und Dirk und Auftritten von JOHNNY THROTTLE. In ein Konzert eben dieser Band geriet Tim im Februar 2009 und beschließt, mit ihnen in derselben Nacht ihre „Sick Of Myself / Job In The City“-7“ herauszubringen, gibt sie im Mai im Presswerk in Auftrag und bekommt sie im Februar 2010 dann endlich ausgeliefert.

Im Dezember 2011 meldet sich Crypt endgültig zurück und begeht mit ATOMIC SUPLEX und deren „Bathroom Party“-LP das Jubiläum ihres 100. Releases. Die nächsten Veröffentlichungen sollten im Single-Format kommen und lassen nicht lange auf sich warten: Bob Taylors „Wowsville/After Hours“, „Scream“ von RALPH NIELSEN & THE CHANCELLORS – der wohl wildeste Rock’n’Roll-Song aller Zeiten – und „Horizontal Action“ der PSYCHOSURGEONS werden Anfang 2012 herausgebracht und zeigen, dass Crypt sich offenbar auf das zurückbesinnt, als was es einmal mit der Idee zu „Back From The Grave“ angefangen hat: als Reissue-Label.

Denn stellt man sich die Frage, welche Crypt-Veröffentlichungen wohl von der längsten Haltbarkeit sind, wird man wohl immer wieder auf ihre Reissues stoßen: die legendären Garage-Compilations der „Back From The Grave“-Reihe, Sixties-Teenpunk à la „Teenage Shutdown“, trashy Novelty-Rock’n’Roll wie auf „Talkin’ Trash!“, den Surfkillern der „Strummin’ Mental“-Sampler, Rockabilly-Oddballs der „Sin Alley“s werden es wohl sein, die das musikalische Erbe von Crypt ausmachen. Aber auch die Blütezeit der Releases von modernen Bands schlägt sich nachhaltig im Punkrock-Kanon nieder: „Destroy Oh Boy“ von NEW BOMB TURKS sowie „Saturday Night Fever“ gehören nach wie vor zum Besten, was die Neunziger musikalisch hervorgebracht haben, und es ist allerhöchste Zeit, Platten wie „Blue Dirge“ von BEGUILED verspätete Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Eine lückenlose Aufarbeitung der Geschichte um und von Crypt ist wohl eher ein Ding der Unmöglichkeit. Kaum ein Label kann nach knapp 20 Jahren so eine unstete Entwicklung vorweisen und hat diesbezüglich alle Höhen und Tiefen durchgemacht. Und Menschen, die nach all den Jahren immer noch so viel Leidenschaft wie Tim Warren an den Tag legen, sind wohl rar gesät. Gerade deswegen ist Crypt wohl eines der wichtigsten und stilprägendsten Rock’n’Roll-Labels überhaupt und hat sich nie verbiegen lassen. Zugegeben, nicht jede Veröffentlichung mag den individuellen ästhetischen Standards genügen, aber vor der Disziplin und dem Arbeitsethos kann man eigentlich nur den Hut ziehen.

Die Frage, was die Zukunft bringt, scheint unangebracht: Tim hat dazugelernt, will sich nicht mehr in finanzielle Wagnisse stürzen, plant nichts voraus. Crypt hat seinen Dienst bereits getan: unzählige Sixties-No-Hit-Wonders wurden über die Compilations am Leben erhalten, der Boom in den Neunzigern verhalf all jenen Bands zu Aufmerksamkeit, die sonst in einem elenden Nischendasein vor sich hinvegetiert hätten und Crypt macht deutlich, dass Attitüde und Hingabe wesentlich mehr wert sind als Style und Posertum. In Zeiten, in denen eine funktionierende Maschinerie, die sich zur Veröffentlichung eines Albums in Gang setzen muss, scheinbar nichts mehr wert ist, kämpft ein Label wie Crypt auf verlorenen Posten. Umso erfreulicher ist es dann, wenn Tim und Dirk trotz allem den Laden am Laufen halten, alte Sachen nachpressen, dann und wann einen neuen Knaller veröffentlichen und mit jedem Wort die Begeisterung für das,was sie machen, rüberbringen. Rock’n’Roll ist eben immer noch nicht tot, sondern scheint gerade wieder zu erwachen.