TINTA LEAL

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Multinationales Crossover

Sie haben ihren Standort in der Schweiz, kommen zum Teil aus Deutschland und aus Spanien, singen mal auf Englisch und mal auf Spanisch, und musikalisch sind sie klar in den Achtzigern zuhause, irgendwo zwischen Thrash und Hardcore. Nach dem Album „Take Control“ und der EP „Dog Eat Dog“ haben TINTA LEAL gerade ihre neue EP „Justicia Ya!“ veröffentlicht – auch wieder in Eigenregie.

Ralf, als ich zum ersten Mal von euch hörte, war ich mir nicht sicher, was es mit euch auf sich hat: Eine gewisse Ana García schrieb mich an, dann der spanische Bandname, eure neueste EP hat den Titel „Justicia Ya!“, die Texte sind zum Teil auf Spanisch, zwei Bandmitglieder haben spanische Namen – Ralf García und José Venegas ... Seid ihr eine spanische Band?


Deine Frage kann ich gut nachvollziehen. Der Mix der Herkunft, die Namen, die verschiedensprachigen Texte, das scheint teilweise irreführend zu sein ... Aber um das mal aufzuklären, nein, wir sind keine spanische Band. Eher eine multinationale Band, da wir alle verschiedene Pässe haben. Ein deutsch-spanisch-schweizer Mix in unserem Fall. In unserem Lebensalltag spielt die spanische Sprache aber eine grosse Rolle, da dies Teil des Familienalltags von José und mir ist. Ich komme ursprünglich aus Konstanz am Bodensee. Die Grundidee für TINTA LEAL und der Musik stammt noch aus Zeiten, in denen ich dort aufgewachsen und gewohnt habe. Mittlerweile wohne ich seit zehn Jahren in Zürich. José, unser Gitarrist, ist dort aufgewachsen, und Steve, Drums, stammt ursprünglich ebenfalls aus dem Großraum Zürich. Wir kennen uns alle aber bereits sehr sehr lange von anderen, früheren Bands und Projekten.

„Tinta Leal“ heißt wörtlich übersetzt „treue Tinte“ oder so ähnlich ... Da gibt es sicher noch eine andere Bedeutung, oder?

Direkt übersetzt stimmt das auch so. Wir haben uns da ein Wortspiel zusammengebaut. Zum einen ist dies bezogen auf unsere Vorliebe für Tätowierungen. Zum anderen ist das in etwa das spanische Äquivalent zum englischen „True Colours“, was ja in etwa „das wahre Ich“ bedeutet. Und aufgrund der Tatsache, dass wir eine Art von Musik spielen, welche wir alle als Heranwachsende in den Ursprüngen miterlebt haben, passt diese Aussage für uns sehr gut. Die Art der Musik als Wurzel unseres Selbst.

„TINTA LEAL ist Crossover in Reinkultur. Wer dabei an moderne und klinische Sounds denkt, liegt da völlig falsch ... hier regiert dreckiger, räudiger Achtziger-Sound der ersten Stunde!“ So beschreibt ihr euch selbst. Welche Bands haben dich damals begeistert, was macht für dich den Reiz dieses Sounds aus?

Ich bin ein typisches Kind der Achtziger, einer Zeit, in der das Schubladendenken noch nicht ganz so ausgeprägt war, wie es sich später entwickeln sollte. In meinen frühen Jahren besuchte ich im örtlichen autonomen Jugendzentrum Shows von Punk-, Hardcore- und Metal-Bands. Das eher Außergewöhnliche damals war, dass an jedem Konzertabend immer Bands völlig unterschiedlicher Prägung spielten, so zum Beispiel EXPLOITED zusammen mit Thrash-Bands, MUCKY PUP mit Deutschpunk-Bands, NEGAZIONE mit regionalen Speed-Metal-Bands und so weiter. Das hat mich damals ziemlich geprägt und tut es immer noch. Bands wie D.R.I., S.O.D., GBH, CRUMBSUCKERS, SSD, CRO-MAGS, POISON IDEA, PRONG, SUICIDAL TENDENCIES, CRYPTIC SLAUGHTER, EXCEL, NEUROSIS, NUCLEAR ASSAULT oder RAW POWER begeistern mich auch heute noch. Vor allem die zum Teil ungehobelte rotzige Echtheit und die pure Spielfreude dieser Bands, auf Platte wie auch live. Und so ging es auch José und Steve, da wir alle im ähnlichen Alter sind, sprich Anfang vierzig, und Ähnliches erlebt haben. Der Reiz für mich persönlich ist die Tatsache, dass man damals ohne groß zu überlegen aus dem Bauch heraus diverse Stilelemente fröhlich und frisch gemischt hat, ohne sich darum zu kümmern, was irgendjemand meinen oder denken könnte. Hinzu kommt noch der klar sozialkritische Einschlag der Texte, welche mich an viele verschiedene wichtige Themen unserer Gesellschaft herangeführt haben. Zusammengefasst ist es eine Auseinandersetzung mit Musik, echtem Textgehalt und dadurch mit der eigenen Existenz, ohne das jetzt aber völlig überbewerten zu wollen. Diese Art von Musik macht zudem ejinfach eine Menge Spaß natürlich.

Crossover alter Schule fand an den Genregrenzen zwischen Hardcore und Metal statt. Nun scheint ihr eher Richtung Hardcore alter Schule zu tendieren. Was an Hardcore und dessen D.I.Y.-Attitüde fasziniert dich, welche alten und aktuellen Bands schätzt du?

Ich denke, dass wir uns bisher und auch weiterhin in eine Richtung entwickeln, welche über diese Einteilung in zum Beispiel Hardcore hinauswächst. Bewusst machen wir uns das jedenfalls nie, das heißt, ich schreibe einfach Songs aus dem Bauch heraus, ohne Einschränkungen. Auf dem ersten Album waren ja bereits Songs mit Sludge-Schlagseite oder reiner Punkrock. Von daher trifft meiner Meinung nach Hardcore alter Schule nicht ganz zu. Wir verstehen meistens sowieso nicht, dass wir mit Bands wie AGNOSTIC FRONT verglichen werden, obwohl ich diese natürlich sehr schätze. Aber musikalisch und vor allem von der textlichen Ausrichtung her sind wir da schon weiter weg. D.I.Y. beschreibt für mich die Möglichkeit, als kreativer Mensch tun und lassen zu können, was man will. Die Musikindustrie hat sich dermaßen gewandelt, dass es aus meiner Sicht sowieso nur noch diese Möglichkeit gibt, wenn man seine Kreativität ehrlich unter die Leute bringen möchte. Bezüglich alter Bands: Sicherlich GBH, RATOS DE PORÃO, CRO-MAGS, CORROSION OF CONFORMITY, BAD RELIGION, GORILLA BISCUITS, BLOOD FOR BLOOD, ENGLISH DOGS, THE ACCÜSED, INTEGRITY, LOS CRUDOS, VERBAL ABUSE und die SPERMBIRDS. Aktuelle Sachen höre ich recht selten, da ich mich auch nicht mehr so sehr mit den gängigen Trends und Richtungen befasse. Ich höre sehr oft so Kram wie TRAGEDY, DISFEAR, SKITSYSTEM, DISRUPT, EXTREME NOISE TERROR, aber auch SECTARIAN VIOLENCE, NO FRIENDS, MUNICIPAL WASTE, VENOMOUS CONCEPT, PRIMATE, FU MANCHU und CLUTCH. Alles nicht wirklich neu, aber sehr gute Bands.

„TINTA LEAL bestehen aus aktuellen und Ex-Mitgliedern mehrerer etablierter Bands.“ Das will ich genauer wissen ...

Grundsätzlich ging es mal darum, sich als Band zu präsentieren, die komplett aus langjährigen, erfahrenen Musikern und Songwritern besteht. Deswegen diese Umschreibung. Wir wollten bewusst keine Namen an die große Glocke hängen, da wir alle aus Undergroundbands kommen, die es alle schon seit 15, 20 oder 25 Jahren gibt, aber vermutlich nicht allzu viele Leute kennen. Wir mussten leider feststellen, dass man aufgrund dieser facettenreichen Herkunft von Leuten vorverurteilt wird respektive ignoriert wird. Als ob es ein Buch oder Regelwerk gäbe, in welchem steht, welche Art von Musik man wie und wann machen darf und wann nicht ... Aber um deine Frage zu beantworten, das wären unter anderem GURD, MESSIAH, REQUIEM, UPPERCUT, CURBDOGS und einige mehr.

Ihr macht alles selbst, deine Frau Ana unterstützt euch. Wie wichtig ist euch dieser Aspekt?

In den letzten zwanzig Jahren konnten wir uns viele Eindrücke hinsichtlich des Musikgeschäfts verschaffen. Zudem habe ich zu Hause jemanden mit Berufserfahrung im Label/Verlags- und Live-Geschäft sitzen. Eins ist und war klar: Wie man es auch immer anstellt – als Band oder Künstler –, die Rechnung bezahlt immer letztendlich derjenige, welcher die Musik überhaupt erst erschafft. Das wird sich wohl nie ändern. Somit war es eine bewusste Entscheidung, sich freizumachen von den Pseudozwängen, unbedingt ein Label haben zu müssen. In neue Bands ist sowieso nur sehr selten jemand bereit zu investieren, geschweige denn die Geduld und die Energie aufzubringen, Band oder Künstler langsam aufzubauen. Kreativ, echt, ehrlich – alles Begriffe, die mit dem Geschäft nichts zu tun haben, wenn man einmal einen Vertrag unterschrieben hat. Und dies haben wir alle in der einen oder anderen Form bereits schon erlebt. Deswegen selber machen, zwar mit eingeschränkten Mitteln, aber davon leben muss ja zum Glück keiner von uns. Selbsterklärend, dass dies auch nie das Ziel war bei TINTA LEAL.

„System Shutdown“, „Dog Eat Dog“, „Justicia Ya!“, „Take Control!“ – ihr habt sehr fordernde Titel. Wofür treten TINTA LEAL in politischer wie gesellschaftlicher Hinsicht ein?

Wie du eventuell schon an den obigen Aussagen gemerkt hast, geht es um Echtheit, Selbstreflexion und das Hinterfragen des eigenen Handelns und der Umwelt, bezogen auf die eigene, unmittelbare Lebensrealität sowie auch auf globale Zusammenhänge. Detaillierte sozialkritische Inhalte sind von daher offensichtlich enthalten, genauso wie persönliche Geschichten, welche uns geprägt haben. Zudem hegen wir einen sehr sarkastischen und ironischen Umgang mit der Tatsache, dass diese Welt untergehen wird, sind doch die bereits verursachten Schäden nicht wieder rückgängig zu machen oder zu heilen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Unsere Generation wird dies höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben, aber wer weiß ... Die Menschheit mit ihrer paradoxen Gier nach Materiellem, der traurige Umgang untereinander zum Beispiel in der Arbeitswelt, die Entstehung beziehungsweise Beibehaltung von sozialen Klassen und Schichten sind alles Dinge, welche ich versuche, in den Texten aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen. Letztendlich geht es uns um ein respektvolles, tolerantes, freies Miteinander, in dem man sich gegenseitig hilft und beisteht, unabhängig von Herkunft, Religion, sexueller Orientierung. Was wir Menschen zu oft vergessen, ist die Tatsache, dass wir alle eines Tages an denselben Ort gehen, das heißt sterben. Alleine diese Tatsache, macht uns alle gleich. Es geht auch gar nicht darum, jemanden zu überzeugen, sondern vielmehr einfach miteinander zu kommunizieren, über Themen, die uns eigentlich ja alle etwas angehen ... Aus meiner Sicht haben unsere Songs fordernde Titel verlangt, um eine Auseinandersetzung des Hörer damit anzuregen. Bei gefühlten fünf Millionen Plattenveröffentlichungen jedes Jahr kein einfaches Vorhaben.