Dortmunder Zustände

Foto

Gedanken zum Mord an Thomas „Schmuddel“ Schulz

Am Ostermontag, 28. März 2005, wurde an der U-Bahn-Station Kampstraße, mitten in der Dortmunder Innenstadt, der Punk Thomas „Schmuddel“ Schulz vom Naziskin Sven Kahlin mit einem Stich ins Herz getötet. Wir sprachen mit einem (auf verständlichen Wunsch hin anonym bleibenden) Mitglied des Polit-Cafés Azzoncao über ihren Versuch, die Erinnerung an dieses und andere Naziopfer auf künstlerische Weise lebendig zu halten.

Was ist das Anliegen eurer Gruppe?


Was wir grundsätzlich versuchen, ist, aus dem selbstfabrizierten „Ghetto“ antifaschistischer Gruppen heraus zu kommen. Wir wollen ganz normale Menschen erreichen, die von den Vorgängen von vor zehn Jahren wenig bis gar keine Ahnung haben – die mit Sicherheit aber empfänglich dafür sind, die Geschichte zu hören, zu lesen, zu verarbeiten.

Welche Vorgänge meinst du?

Ein paar Monate nach dem Mord an Thomas Schulz wollte die zuständige Dortmunder Bezirksvertretung eine Gedenktafel aufhängen lassen. Die CDU hat aber einen Antrag gegen Anbringung der Tafel eingereicht. Wenn du die Begründung liest, dann kriegst du so einen Hals, wie menschenverachtend das gegenüber einem Ermordeten ist. [Anm. d. Red.: Die Ablehnung der CDU im Dortmunder Rat geschah damals auf Anraten der Polizei unter der Begründung, eine solche Mahntafel würde das „subjektive Sicherheitsempfinden“ beeinträchtigen und eine „Pilgerstätte für Extremisten“ schaffen.]

Wurde die Tafel denn mittlerweile aufgehängt?

Nein, die gibt es bis heute nicht. Es gab Versuche von privater Seite, etwas anzuschrauben, aber das wurde immer wieder unterbunden. Das größte Problem ist wohl, dass der Entschluss zur Aufhängung der Gedenktafel von der Bezirksvertretung kam, denn die hat hier nichts zu sagen, die Entscheidung trifft der Rat der Stadt.

Wie ist das mit den anderen Nazi-Mordopfern in Dortmund, gibt es für die Gedenkstätten?

Für die drei im Jahre 2000 erschossenen Polizisten gibt es ein Mahnmal im Stadtteil Brakel, für den 2006 vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık gibt es eine Gedenkplakette am Tatort in der Nordstadt. Die ist zwar nicht schön, aber zumindest gibt es sie. Daher wäre es eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass auch für Thomas Schulz etwas geschaffen wird.

Was denkst du, aus welchem Grund ist das bislang nicht passiert?

Die drei Polizisten hatten natürlich eine Lobby. Nach der Aufklärung über den NSU hatte auch Kubaşık endlich eine Lobby. Aber ein Punk, der offiziell nicht einmal als Opfer einer rechtsmotivierten Gewalttat anerkannt ist? Der hat halt einfach keine Lobby. Und auch die Antifa hat sich da sehr zurückgehalten, fand ich.

Zurückgehalten? Es hat doch fast sofort Demonstrationen gegeben ...

Ich habe die Punks damals in Dortmund erlebt. Das war Straßenpunk-Szene, mit denen hatte man richtig schwierigen Umgang. Und da wurde dann auch von Seiten der Antifa ein total spießbürgerliches Verhalten gegenüber den Punks an den Tag gelegt. Man hat zwar demonstriert und Flugblätter verteilt – aber mit dem Opfer beschäftigt hat sich niemand. Es hat keinen interessiert, wer das wirklich war.

Und wie wollt ihr nun das Gedenken an Thomas Schulz bewahren?

Ich setze mal 2008 ein. Da haben die Nazis begonnen, die Geschichte von Thomas Schulz umzuschreiben. Sie haben unter anderem durch eine Demonstration und über verschiedene Internetseiten das Gerücht verbreitet, Schulz habe damals in einer Gruppe aus mehreren Punks und mit einem Messer bewaffnet Sven Kahlin angegriffen und der habe nur in Notwehr gehandelt. Das habe ich damals gelesen und wollte mich etwas mehr mit dem Thema beschäftigen. Dabei habe ich festgestellt: Es gibt überhaupt keine Recherche zur Person Thomas Schulz. Nichts. Niemand hatte sich in den vergangenen drei, vier Jahren mal hingesetzt und eine Dokumentation erstellt. Also habe ich mir das Gerichtsurteil besorgt, um zu sehen, was die juristische Realität ist, warum genau der Täter zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde und warum die Nazis nun also so eine große Aktion starten. Wenn ich als älterer Antifaschist schon total verunsichert bin, wie das wirklich war, wie kommt das dann bei jemanden an, der zwanzig ist? Und wie ist das in fünf oder in zehn Jahren? Dann hast du doch nur noch das eine Narrativ gegen das andere Narrativ und niemand weiß mehr, was tatsächlich geschehen ist. Also habe ich mir vorgenommen, das Thema aufzuarbeiten. Als ich 2008 mit ein paar Leuten bei einer Demo in Mailand war, hatten wir schon ein Transparent und ein italienischsprachiges Flugblatt dabei, in dem auf fünf Nazi-Mordopfer aus verschiedenen Ländern Europas Bezug genommen wurde, einer davon war Thomas Schulz. So begann etwas zu entstehen, das man ein europäisches Narrativ nennen könnte. Die auf dem Flugblatt genannten eint, dass sie alle aus einer Subkultur kamen, sozusagen von der Straße, dass sie etwas gegen Faschismus und Rassismus hatten, dass sie sich für ihre Überzeugung einsetzten und deshalb ermordet wurden. Zurück in Deutschland wurde unsere Gruppe dann von einem Sozialarbeiter angesprochen, ob wir nicht Lust hätten, ein Graffito zu erstellen. Und so entstand im Dezember 2008 dann in Zusammenarbeit mit einem Profi-Sprayer das große Bild „Uno di Noi“ am Bochumer Hauptbahnhof, das sieben Naziopfer aus ganz Europa zeigt.

Kann man das Graffiti dort noch immer sehen?

Leider ist das Bild kein ganzes Jahr später überbaut worden. Da es aber bereits im Vorfeld großes Interesse aus der ganzen Region gab, haben wir es mit einem in vier Sprachen übersetzten Text ins Internet gestellt. Diese grafische Arbeit war für uns eine ganz neue Form des Ausdrucks, auf die wir von alleine nicht gekommen wären. Wir hätten nur unsere üblichen Medien genutzt, also Demonstrationen, Flugblätter und Texte auf Indymedia. So konnten wir nun aber ganz andere Leute erreichen. Und da der am prominentesten sichtbare Kopf der von Thomas Schulz war, hat er hier auch endlich eine Würdigung erfahren. Somit entwickelte sich also eine neue, von links kommende, alternative Gedenkkultur, die nicht museal war, sondern auf der Straße stattfand. Außerdem wurde das ganze Projekt von einem Kameramann begleitet, mit dem wir anschließend einen Film erstellten, der dann auf einer sechssprachigen Internetseite veröffentlich wurde.

Aber der Film hat nicht nur die Entstehung des Graffitis dokumentiert?

Wir haben zunächst versucht, unsere Idee zu erklären. Also warum die gezeigten Personen zusammen gehören, was das für Menschen waren, wie sie lebten. Dann jeweils etwas dazu, wie der Mord abgelaufen ist und was die Öffentlichkeit dazu sagte. In dem Zusammenhang entstand dann auch ein Rap zu Thomas Schulz, der als eigenes Video auf YouTube gestellt wurde. Trotz der professionellen Kameraführung und des professionellen Schnitts haben wir aber keine Profiproduktion gemacht. Da wirkt vieles etwas unbeholfen, aber die Leute haben halt vorher auch auf keiner Bühne gestanden, die haben vor dem Jugendzentrum gesessen und Freestyle gerappt. Hier sind Leute, die eigentlich immer gegen Nazis aktiv waren, die machen jetzt einen Film beziehungsweise ein Rap-Video. Das sind Leute, die machen was sie sagen. Die TOTEN HOSEN lassen in einem Video vielleicht Komparsen im Antifa-Shirt rumlaufen, das sind dann geile Bilder, hübsche Mädels, schicke Jungs. Aber so sehen wir nun einmal nicht aus. Wir haben dicke Bäuche und schiefe Nasen, das ist das Leben. Und das sollst du in dem Film sehen.

Und wie sind die ganzen Infos zu den in eurem Film Porträtierten zusammen gekommen?

Ich war selbst in Moskau, St. Petersburg, Rom, Mailand und Madrid. Dort habe ich mit Verwandten und Freunden der Opfer gesprochen. Somit gibt es ganz viele Informationen direkt aus erster Hand. Mit Bildmaterialien und natürlich auch Stimmungen, wie etwa bei den Eltern von Timur Kacharava, mit denen ich das Grab ihres Sohnes besuchte. Timur hat in St. Petersburg in zwei recht bekannten Punk- und Hardcorebands gespielt und war in der veganen Szene aktiv, war Philosophiestudent und wohl wirklich ein netter Typ. Im November 2005 wurde er von einer zwölfköpfigen Nazigruppe an einem Stand von „food not bombs“, für die er aktiv war, überfallen und regelrecht abgeschlachtet. Und dann stehst du also mit den Eltern dieses Jungen auf dem Friedhof, siehst den Vater weinen. Solche Dinge haben wir versucht, in unserem Film zu verarbeiten. Das ist schon was ganz anderes, als nur aus der Ferne vorm Computer zu sitzen und zu recherchieren. Da hast du immer nur ein paar Versatzstücke, gerade auch, wenn du die Sprache nicht verstehst. Wir haben das dann mit Punkrock, mit Rap und mit Reggae unterlegt, haben Fotos von den Ermordeten gezeigt, aus ihrem Alltag, als Ultras, Skins, Punks, was sie gewesen sind, wo sie herkamen. Jede Szene zeigt somit eine eigene Persönlichkeit und wir haben versucht, diese Stränge zu verknüpfen zu einer Geschichte über eine widerständische Jugendkultur, die sich Rassismus und Rechtsradikalismus nicht gefallen lässt. Die wenigsten Infos gibt es leider tatsächlich zu Thomas Schulz. Wohl auch, weil sich in den ersten Jahren nach dem Mord einfach niemand mit seiner Geschichte beschäftigt hat, kennen wir nur ein Foto. Wir wissen, dass er eine Frau und zwei Kinder hatte, aber nicht viel mehr.

Nun liegt die Filmproduktion ja doch etwas zurück, was hat es danach noch gegeben?

Eine der Personen, die wir bei der Vorführung unseres Films in Moskau kennen lernen durften, der Anarcho-Skin Ivan Khutorskoy, wurde wenige Wochen später von Nazis mit zwei Schüssen in den Nacken getötet. Für Ivan haben wir ein weiteres Graffiti und einen kurzen Film erstellt. Dieses Graffiti wurde 2014 von zwei Filmemachern wieder aufgegriffen und für das Cover des Dokumentarfilms „Sad But True – In Memory Of Our Friend Ivan“ verwendet, der der Unterstützung von Ivans Familie dienen soll. Als im Juni 2013 Clement Meric in Paris von einem Naziskin erschlagen wurde, machten einige Rapper kurz darauf einen Song für ihn. In dem Videoclip werden auch die von uns porträtierten Antifas besungen und unser Graffito gezeigt. Und in ähnlicher Art wie unser Projekt wird seit Anfang 2015 ein französischer Film mit dem Namen „acta non verba“ gezeigt, der verschiedene Antifagruppen aus ganz Europa porträtiert.

Und zum zehnten Todestag von Thomas Schulz wird das Graffiti nun in Plakatform aufgegriffen ...

Genau. Das Plakat wird so etwa 50 mal 70 Zentimeter groß sein und auf ein handliches Flugblattformat gefaltet. Auf der Rückseite sind Informationen zu Thomas Schulz, das wenige, was man weiß. Außerdem grundlegende Infos zur Dortmunder „Skinhead Front“ und den allgemeinen Dortmunder Zuständen. Gleichzeitig gab es im März einen Artikel im Bochum-Dortmunder Obdachlosenmagazin „Bodo“. Das hat eine Auflage von 20.000 und der Hälfte der Hefte werden unsere Plakate beiliegen. Weitere etwa drei- bis fünftausend Plakate verteilen wir zusätzlich. Außerdem werden wir das Plakatmotiv auch als Aufkleber drucken, die haben eine Auflage von etwa 8.000 Stück. Da es aber von Thomas Schulz nur ein einziges, eher unvorteilhaftes Foto gibt, wird als Motiv das Porträt aus unserem Graffiti verwendet.

Was hofft ihr, damit zu erreichen?

Zum einen hoffen wir, dass Aufkleber und Plakate im Stadtbild auftauchen und Thomas so dahin zurückkehrt, wo er nicht mehr sein kann. Es soll in der Öffentlichkeit Raum genommen werden. Zum anderen wäre es toll, wenn durch die Verteilung über das „Bodo“ und die Internetadresse auf den Plakaten sich Leute, die sonst kaum mit diesem Thema in Berührung gekommen wären, mit Thomas und seinem Schicksal beschäftigen. Am 28. März wird die Stimmung in der Stadt wird wohl kaum zu einem friedlichen Verlauf der geplanten Gedenkdemo führen. Normalerweise bleibt dann am Ende also lediglich eine Diskussion darüber, wer sein Halstuch zu hoch gezogen und damit eine Straftat begangen und welcher Polizist brutaler zugeschlagen hat. Aber du wirst nicht die Geschichte von Thomas hören. Wir hoffen, dass wir dies durch unsere Plakate und Aufkleber dann doch bewirken können.

 


Dortmunder Zustände

Dortmund ist mit 576.000 Einwohnern die größte Stadt des Ruhrgebietes und eine der zehn größten Städte Deutschlands. Dortmund ist eine der absoluten Hochburgen gewaltbereiter, organisierter Nazis in Deutschland, die weitgehend unbehelligt von Polizei und Justiz agieren können. Die gesamte Bandbreite der faschistischen Umtriebe in Dortmund und den umliegenden Städten zu beschreiben, würde den Umfang dieses Heftes sprengen. Daher hier nur ein kurzer Überblick. Im Stadtteil Dorstfeld siedelten sich über Jahre gezielt Mitglieder der „Skinhead Front“ und andere „Autonome Nationalisten“ an, führten Stadtteilpatrouillen und Stadtteilfeste durch. So wurden systematisch andere Bewohner verdrängt, teilweise mit Gewalt aus dem Viertel gejagt. Heute gilt Dortmund-Dorstfeld den Nazis als „National befreite Zone“.

Aus diesem Umfeld heraus wurden immer wieder Übergriffe auf politische Gegner verübt, etwa der Mord an dem Punk Thomas „Schmuddel“ Schulz vor zehn Jahren oder mehrere Überfälle auf die Szene-Kneipe „Hirsch-Q“ mit zum Teil schwer verletzten Opfern. Die Täter wurden, wenn überhaupt, mit niedrigsten Strafen belegt. Von offizieller Seite aus fand Rechtsradikalismus in Dortmund quasi nicht statt, bis am 1. Mai 2009 die bürgerliche DGB-Demo von etwa 300 gewaltbereiten Neonazis angegriffen wurde. Trotz vieler Verletzter gab es auch in diesem Falle keine Verurteilungen – die Stadt Dortmund war jedoch zum Handeln gezwungen.

So wurden in den folgenden Jahren etwa eine Beratungsstelle für Aussteiger aus der rechten Szene und eine überregional tätige Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt geschaffen. Im Jahr 2012 folgte schließlich das Verbot des „Nationalen Widerstandes Dortmund“. Die Nazis waren hierauf jedoch offensichtlich gut vorbereitet, denn nur wenig später und personell weitgehend deckungsgleich gründete sich in Dortmund ein Landesverband der Partei „Die Rechte“ des Hamburger Neonazis Christian Worch. Durch diese Parteigründung konnte nun auf ganz andere Weise Präsenz im Stadtbild gezeigt werden.

Bei der Kommunalwahl im Mai 2014 wurde „Die Rechte“ dafür sogar mit einem Sitz im Stadtrat „belohnt“, der zunächst durch den mehrfach einschlägig vorbestraften Siegfried „SS-Siggi“ Borchardt besetzt wurde. Als etwa 30 Nazis versuchten, die Wahlparty im Rathaus zu stürmen, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Dortmunder Polizei erschien erst 15 Minuten nach Beginn des Angriffs, die Staatsanwaltschaft stellte Ende Februar 2015 die Ermittlungsverfahren gegen die Angreifer ein. Gegen Gäste der Wahlparty, die sich gegen den Angriff verteidigten – darunter Politiker auch aus dem bürgerlichen Lager – wird allerdings bis heute ermittelt.

Derzeit haben die Nazis in Dortmund eine fast permanente Präsenz im Stadtbild, in kürzesten Abständen gibt es Aufmärsche und Demos, auf denen unbehelligt Transparente mit Anspielung auf die NSDAP getragen werden. Vor Flüchtlingsheimen werden Slogans wie „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ skandiert, ohne dass Konsequenzen zu fürchten wären. Ein uniformierter „Stadtschutz“ der Nazis patrouilliert in den Straßen. Kritische Dortmunder Journalisten erhalten offene Todesdrohungen. Es werden Hakenkreuze an die Häuser politischer Gegner geschmiert. Für den 28. März 2015, den zehnten Todestag von Thomas Schulz, wurde zunächst eine Nazi-Demo unter dem Motto „Wir sind das Volk“ mit anschließendem Rechtsrock-Festival genehmigt. Doch es geschehen scheinbar manchmal doch Wunder, denn am 4. März zog die Dortmunder Polizei die Genehmigung zurück. Grund: „Die Durchführung der Versammlung trage den Keim der Unfriedlichkeit schon in sich. Die Dortmunder Polizei sieht in beiden geplanten Veranstaltungen eine Verletzung des Grundrechts auf Menschenwürde sowie der Persönlichkeitsrechte des getöteten Dortmunders und einen Missbrauch des Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit.“ Allerdings hat das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen dieses Verbot am 17. März wieder aufgehoben.