Der Kanon des guten Geschmacks

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10 empfehlenswerte Platten von What’s So Funny About

Im März veröffentlichte der Journalist Christof Meueler mit „Das ZickZack-Prinzip“ ein Buch über Alfred Hilsbergs bewegtes Leben, in dem bekannte Protagonisten des deutschen Undergrounds zu Wort kommen. Alfred Hilsberg gründete das Label ZickZack 1978 in Hamburg. In den folgenden Jahren erschienen hier unter anderem Platten von ABWÄRTS, EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, PALAIS SCHAUMBURG, DIE KRUPPS, THE WIRTSCHAFTSWUNDER, F.S.K. oder DIE TÖDLICHE DORIS. 1983 setzte Hilsberg seine Arbeit mit dem Sublabel What’s So Funny About fort und veröffentlichte Bands und Musiker, die später zu festen Größen der deutschen Musiklandschaft wurden und den Boden bereiteten für die viel zitierte Hamburger Schule. Erstmals kam es auch zu zahlreichen Lizenzreleases von Acts wie THE GUN CLUB, Jeffrey Lee Pierce, Henry Rollins oder SAVAGE REPUBLIC. Einige Veröffentlichungen des Labels verdienen heute noch eine Erwähnung.

Jeffrey Lee Pierce „Wildweed“ (CD, 1993)

„Wildweed“ (im Original 1985 auf Statik erschienen) ist das erste Soloalbum von Jeffrey Lee Pierce. Die Texte spiegeln seine aufgewühlte Gefühlswelt wider und Songs wie „Love and desperation“, „Sex killer“ und „Cleopatra dreams on“ knüpfen nahtlos an das GUN CLUB-Epos „Fire Of Love“ von1981 an. Die innere Zerrissenheit wird in jedem Song manifest. Es ist einVersuch der Selbstheilung, er therapiert sich damit quasi selbst. Im Song „Hey Juana“ gibt es eine schöne Referenz auf seinen Freund Nick Cave: „Now Nick the Cave / He spent all his pay / On a bottle of gin / And a shark without a fin“. Der letzte Song des Albums „A midnight promise“ wirkt aber fast wie ein versöhnlicher Epilog, hier scheint Pierce für einen Augenblick seinen inneren Frieden gefunden zu haben.

PRINCE OF THE BLOOD „Contact High“ (LP, 1986)

Die Osnabrücker Formation PRINCE OF THE BLOOD verdichtete dunkle EBM-Sounds mit griffigen Gothic-Gitarren und erinnerte dabei ein wenig an die EXECUTIVE SLACKS, Fad Gagdet oder RED LORRY YELLOW LORRY. „Risin’“, der Opener und zugleich beste Songs des Albums, war 1986 ein respektabler Clubhit. Sänger Ralle Dlubatz trat später bei POISON DWARFS in Erscheinung.

THE GUN CLUB „Mother Juno“ (LP, 1987)

Nach dem Album „The Las Vegas Story“ von 1984 eine Art Comeback der Formation um Jeffrey Lee Pierce. Die Band löste hier sich vom oft selbstzerstörerisch zelebrierten Punk-Blues, der sie zur Legende machte, klang gefasster und lieferte mit „The breaking hands“ einen fast klassischen Pop/Rock-Song ab. Vielleicht lag dies auch am Produzenten Robin Guthrie (COCTEAU TWINS). Die ausgebrannte Verzweiflung als bisherige Konstante im Gesang von Jeffrey Lee Pierce wich mitunter einem Hoffnungsschimmer. Mit dabei waren auch wieder Kid Congo Powers und Romi Mori, die damalige Lebensgefährtin von Pierce. Er selbst beschrieb das Album wie folgt: „We envisioned an album that sounded like ocean waves.“

STRAFE FÜR REBELLION

„A Soundless Message Of Death“ (LP, 1984)


1979 von Siegfried Syniuga (der auch zur Gründungsredaktion der Spex gehörte) und Bernd Kastner in Düsseldorf ins Leben gerufen, stehen sie für eine sehr verkopfte experimentell-elektronische Musik zwischen Avantgarde und Industrial. Die Eigendefinition des Duos als „Klangsuchende“ spiegelt sich in den nicht immer leicht zugänglichen Songs wider. Beide arbeiteten parallel zur Band als bildende Künstler und so gibt es von STRAFE FÜR REBELLION auch Videos, Texte, Installationen sowie Hörspiele („Die Zahl Pi“, „Antoniusschweine“ oder „Harmoniegenerale“). Alfred Hilsberg tritt hier auch als Produzent des Albums in Erscheinung.

39 CLOCKS „Cold Steel To The Heart“ (LP, 1985)

Das Duo aus Niedersachsen entwickelte fast sein eigenes Subgenre: eine deutsche Form von US-Sixties-Garagepunk mit Beatbox und deutlichen Anleihen bei VELVET UNDERGROUND und SUICIDE. Die monotonen Psychedelic-Akkordschleifen, das Repetitive mit hypnotischen Rhythmen aus der Beatbox, sowie die bewusst ausdruckslosen Stimme mit etwas schrulligem Englisch machte die Band hierzulande einzigartig. Sie veröffentlichten vier Alben, und als „Deutschlands dienstälteste Schrammelpioniere“, wie sie auch einmal bezeichnet wurden, ließen sie keine musikalischen Schranken gelten. Live war das oft ein Gewitter aus Improvisationen, atonalen Passagen, Störgeräuschen vom Tonband, kargem LoFi und einer blechernen Beatbox.

DIE HAUT „Headless Body In Topless Bar“ (LP/CD, 1988)

Das Berliner Quartett um Christoph Dreher und Jochen Arbeit, ursprünglich als reine Instrumentalband angetreten, in deren Dunstkreis sich ständig schillernde Musiker wie Nick Cave, Mick Harvey, Kid Congo Powers oder Anita Lane tummelten, die sämtlich auf diesem Album mitwirkten, zelebrierte eine Art Breitwand-Dark-Rock. Für Nick Cave war dies nicht die erste Zusammenarbeit mit der Band, da er bereits auf ihrer 12“ „Der Karibische Western“ (1982) beim Song „Die faulen Hunde von Tijuana“ mitwirkte. Wenig erstaunlich ist es, dass DIE HAUT mitunter auch an NICK CAVE AND THE BAD SEEDS erinnern, da der langjährige THE BIRTHDAY PARTY/BAD SEEDS-Produzent Tony Cohen das Album betreute.

Kiev Stingl „Grausam das Gold und jubelnd die Pest“ (LP/CD, 1989)

Ein zwiespältig aufgenommener Musiker, Schauspieler und Künstler, der sehr plakativ provozieren konnte (ein wenig in der Tradition von Klaus Kinski), aber für dieses, sein letztes Album großartige Texte schrieb, die mitunter an Bert Brecht erinnern und auch ein wenig den Geist von Blixa Bargeld atmen. Insbesondere Songs wie „Belle de nuit (Barsong)“ und „Strolch“ sind hervorzuheben. Produziert wurde das Album von Dieter Meier von YELLO. Musikalisch unterstützt wurde Kiev Stingl auch von den EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN-Musikern FM Einheit und Alexander Hacke, sowie Thomas Stern (CRIME & THE CITY SOLUTION, RAUSCH).

DIE ERDE „Kch Kch Kch“ (LP/CD, 1989)

Tobias Gruben war von 1985 bis 1986 Kopf und Sänger von CYAN REVUE, einer der besten deutschen Dark-Rock-Formationen. Mit seiner späteren Band DIE ERDE änderten sich Stimmung und Texte deutlich, Wolf Biermann und Rio Reiser dürften für ihn eine bedeutende Rolle gespielt haben, gesungen hat er primär auf Deutsch. Die Musik von Tobias Gruben, dessen Heroinabhängigkeit oft in den schonungslos offenen Texten zum Ausdruck kam (und auch für die Namensgebung seines Projekts HEROINA verantwortlich war), ist intensiv, reflektierend und eindringlich. Produziert hat das Album FM Einheit. Songs wie „Hassle“, das Bob Dylan-Cover „Hard rain“, aber auch die 12“„Leben den Lebenden“ werden in Erinnerung bleiben. Tobias Gruben starb 1996 an den Folgen seiner Heroinabhängigkeit.

NAGORNY KARABACH „Kleine Exkursion“ (LP/CD, 1991)

Man kann von Coverversionen halten was man will, aber NAGORNY KARABACH haben mit „Als wär’s das letzte Mal“ mit die beste Interpretation eines DAF-Songs abgeliefert. Musikalisch mag man sich an CAMP SOPHISTO, das kurzlebige Nebenprojekt von FEHLFARBEN-Mastermind Peter Hein, oder frühe ABWÄRTS, DIE ART oder EA80 erinnert fühlen. Das Quintett aus Münster beschrieb seine Musik als „Avantcorebeat“, man könnte es aber als Wave-Rock mit Post-Punk Versatzstücken bezeichnen. Es gibt nur dieses eine Album, dies aber ist gewaltig. Die Band hatte den Ruf, „schwierig“ zu sein, und löste sich 1996 auf (ein zweites, bereits eingespieltes Album wurde nie veröffentlicht), da nach dem Haftantritt eines Bandmitgliedes wegen eines Banküberfalls kein adäquater Ersatz gefunden werden konnte.

KASTRIERTE PHILOSOPHEN „Love Factory“ (LP/CD, 1985)

Nach zwei Mini-LPs das erste richtige Album der 1983 von Matthias Arfmann und Katrin Achinger gegründeten Band. Irgendwie waren sie die Lieblinge der Spex-Redaktion und von Studenten mit VELVET UNDERGROUND-Affinität. Matthias Arfmanns charakteristische Gitarre und Katrin Achingers wunderbar dunkler, oft im Erzählstil dargebotener Gesang begründeten ihre Ausnahmestellung nicht nur in der deutschen Musiklandschaft. Gemeinsam mit 39 CLOCKS hatten sie damals ein neo-psychedelisches Sechziger-Revival eingeläutet, um sich später mehr elektronischen Sounds mit Dub-Elementen zu widmen. Ihr Opus Magnum schufen sie 1988 mit dem Album „Nerves“ (auf Normal), bei dem auch Folke Jensen (LEDERNACKEN) mitwirkte und Andrew Eldritch (SISTERS OF MERCY) einen Remix des Songs „Toilet queen“ ablieferte.