NEON

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Zürcher Punk-Ursuppe

Es gab auch in der Schweiz ab der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre diese Bewegung, die sich Punk nannte und die alle gängigen Konventionen infrage stellte. Mit dabei einige hundert Frauen. Zwischen 1977 und 1990 wurden im Umfeld von Punk und Post-Punk in der Schweiz zirka 1430 Tonträger veröffentlicht, davon 28% mit Beteiligung von Frauen, somit bei jedem vierten Release. Mit KLEENEX/LILIPUT, (zeitweilig auch mit männlicher Beteiligung) CHIN-CHIN und den RAINES PROCHAINES haben wir drei Bands, die ausschließlich aus Punketten bestanden und deren musikalischer Einfluss bis heute vor allem im Ausland gewürdigt wird.

Die Idee

Anhand von NEON, einer weiteren ausschließlich aus Frauen bestehenden Band aus den Anfangszeiten des Punk, will dieser Artikel das Rad der Zeit zurückdrehen und aufzeigen, weshalb sich so viele Frauen in der Punk-Szene aktiv einbringen wollten und auch konnten. Alex Yusimov von Mississippi Records, der in den letzten Jahren schon mit Kill Rock Stars zusammen Rereleases etlicher KLEENEX/LILIPUT- und CHIN-CHIN-Tonträger rausgebracht hat, wird im Juni auf seinem eigenen Label Water Wing Records mit Static Age aus Berlin und Swisspunk eine Single von NEON mit zwei Songs aus dem Jahre 1978 wiederveröffentlichen.

Die Überraschung

Im Jahr 2016 fand Dagmar Heinrich, die Gitarristin der Zürcher Punkband NEON, zu ihrer Überraschung bei sich eine alte Kassette mit den Aufnahmen der beiden Songs „Neon“ und „Nazi Schatzi“. 37 Jahre davor, im Dezember 1978, absolvierten NEON einen Auftritt beim Schweizer Fernsehen für eine Sendung über „Frauen im Showbusiness“. Der TV-Auftritt hatte die Musikerinnen von NEON anno dazumal aber gar nicht glücklich gemacht. Live durften sie nicht spielen. Doch drehen wir das Rad der Zeit noch einige Jahre weiter zurück ...

Frauenbefreiungsbewegung

Am 31. Dezember 1970 war die Gründung der „Autonomen Republik Bunker“ als Zwergstaat innerhalb der Stadt Zürich. Die damals 17-jährige Dagmar frequentierte nicht nur den Bunker, sondern auch die anderen angesagten Treffpunkte in der Stadt, wo so was wie ein freier(er) Geist herrschte. Dies war der „Schwarze Ring“, ein Halbstarken-Treffpunkt mit der angesagtesten Jukebox der Stadt, der Szenetreff Eckstein, das Oberdörfli, die Hintere Bodega, das Evergreen oder die Platte 27, ein Nachtklub, und der Klub Flöte im Jugendhaus Drahtschmidli. Dagmar erinnert sich, dass sie an diesen Orten in ihrem Tagebuch zeichnete, kritzelte oder Texte schrieb, mit anderen Besuchern diskutierte und philosophierte oder einfach tanzen ging oder das Geschehen aus einer Ecke heraus beobachtete.

Am 16. März 1971 wurde das Frauenstimmrecht in den meisten Kantonen in der Schweiz wirksam. Die Schweiz war somit eines der letzten europäischen Länder, welche ihrer weiblichen Bevölkerung die vollen Bürgerrechte zugestanden. Im gleichen Jahr wurde die Eidgenössische Volksinitiative „für Straflosigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung“ eingereicht, wobei ein großer Teil der nötigen Unterschriften von der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) gesammelt worden waren. Die FBB entstand in den späten Sechziger Jahren aus der Frauenbewegung einerseits und aus den Studentenrevolten andererseits, und ist der autonomen Bewegung zuzuordnen. Fristenregelung (straffreier Schwangerschaftsabbruch), Gewalt und sexuelle Belästigung gegen Frauen generell, Vergewaltigung, Pornografie, Rassismus, Sexismus und Lohndiskriminierung wurden von ihr thematisiert. Anlässlich eines Festes der „Frauenrakete“ (Theatergruppe, in der auch Männer mitmachen durften), das von der FBB mitorganisiert wurde, mit dem Slogan: „D’Fraue fahred i ... D’Fraue fahred ab“ (Die Frauen sind jetzt da ... die Frauen machen jetzt, was sie wollen) am 19. Dezember 1976 in der Roten Fabrik, Zürich, gab auch die Protopunk-Band TROPPO, bestehend aus etlichen Männern und Frauen und mit Kurt Maloo an der Gitarre, ihr erstes Konzert.

Astrid Spirig, die Sängerin und Songschreiberin von NEON sowie später Sängerin bei LILIPUT, engagierte sich ebenfalls bei der FBB, jedoch in einem ganz persönlichen Bereich in einer Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema männliche Ärzteschaft und Frauenmedizin befasste. In dieser Zeit hat sie auch bei einer Tageszeitung als Korrektorin gearbeitet. Nach einem Chefwechsel und einem öffentlichen Vortrag ihrer FBB-Gruppe wurde ihr plötzlich mit fadenscheiniger Begründung nahegelegt zu kündigen. Die Gewerkschaft schaltete sich ein und konnte die Kündigung rückgängig machen, doch Astrid wollte in diesem Klima nicht bleiben. Gleichzeitig hat sie sich in der „Werkstatt schreibender Arbeiter“ engagiert. Sie sagt: „Wir haben kritische Texte geschrieben und diese gedruckt, aufgelegt und auf der Straße verkauft. Auch da habe ich mich nicht in dem Sinne politisch engagiert, sondern aus persönlicher Ebene heraus.“

Sie sagt weiter: „Es ging mir immer – und so bis heute – darum, dass ich mich ganz individuell und ohne Schranken geben kann. Und natürlich auch andere Menschen dies können sollen. Dass also die Werte des Menschen wichtig sind, und nicht die Rolle durch Politik oder Gemeinschaften, so positiv diese auch in ihrer Message scheinen mag oder ist. Das hält bis heute an, wie ich bemerke ... Also die Frage, was authentisch ist und was gesteuert ist, aus welchen Gründen auch immer. Da hat der Punk natürlich genau drauf gedrückt.“

Punk

Im Dezember 1976 eröffnete der erste Punk-Klub der Schweiz, das Hey am Bellevue in Zürich. Dann am 18. Mai 1977 gab es das erste Konzert der ersten Punkband NASAL BOYS unter dem Namen „1001. Stick Of The One Day Kick“ im Hey und kurz darauf ein weiteres Live-Konzert in der Brockenhalle Patrick, dort mit Marlene Marder am Saxophon, die später bei einer Band mit dem Namen KLEENEX noch Furore machen wird, und Herman „Marco“ Ritter als Sänger. Loredana Zandonella, die Bassistin von NEON, gehörte ebenfalls zu dieser Zürcher Punk-Ursuppe und war bei all den Konzerten mit dabei. Loredana und Dagmar wohnten gegenüber an der Häringstraße im Zürcher Niederdorf und kannten sich aus der Züri Bar und der anliegenden Kontiki. Dort traf sich die neue Kunst- und Musikszene der Stadt, dazu gehörten auch die Frauen von KLEENEX. Am 29. März 1978 gaben diese dann ihr erstes Konzert im Club Hey, dies noch mit den beiden Gitarristen Rudolph Dietrich von den NASAL BOYS und Gogi Meier von TROPPO.

Die Gründung von NEON

Im Juli spielten KLEENEX dann auch auf dem kleinen Open Air auf dem Nägelihof im Niederdorf. Im Publikum stand auch Gitta Gsell, die Schlagzeugerin von NEON, mit Astrid. Die beiden wohnten zusammen in einer WG und das Konzert hatte sie total geflasht. Weniger wegen der Punk-Ausrichtung, sondern mehr wegen des authentischen, frechen Freigeistes, den die Mitglieder der Band rüberbrachten. Da meinte Gitta zu Astrid, dass sie das doch auch tun könnten, kombiniert mit Performance. Gitta machte somit Astrid mit Dagmar bekannt und diese wiederum mit Loredana. Gitta und Astrid kannten sich aus dem KV (Kaufmännischer Verband). Gitta besuchte zu diesem Zeitpunkt die F+F-Schule für experimentelle Gestaltung (F+F für „Form und Farbe“). Diese wurde 1971 von Doris Stauffer mitbegründet, die auch zu den Gründungsmitgliedern der FFB gehörte. Kurz darauf, Anfang 1980, besuchten auch Dagmar und Muda Mathis von den späteren REINES PROCHAINES und Stephan Eicher die F+F.

Gitta sagt dazu: „Experimentelles Gestalten führte zu Fotografie und Performance-Kunst. Ganz im Sinne der Punk-Bewegung kreierte ich damals eine Survival Collection – bestehend vor allem aus tragbaren Plastik- und Abfallprodukten. Zu den Performances, die teilweise spontan entstanden, teilweise mit Konzept und einigen Proben aufgebaut wurden, gehörten natürlich immer Musik und Geräusche. Es ging uns damals darum, Grenzen aufzubrechen, ausprobieren, zu experimentieren. Die Stadt war mit so vielen Verbotsschildern zugepflastert, dass wir in jeder Richtung für Aufbruch sorgen wollten. Wir wollten das auf künstlerische, laute, provokative Art. Nicht in die vorgegebenen Muster passen, sondern nach Neuem suchen.“

Sie sagt weiter: „Ich glaube, keine von uns konnte Noten lesen oder wirklich ein Instrument spielen. Aber der Goodwill war rundum da und wir wurden von überall unterstützt. Ich kriegte ein kleines Schlagzeug gratis und einige Musiker gaben mir ein paar Stunden Unterricht. Ich übte in Bus und Tram, die Hände nach einem anderen Rhythmus als die Füße zu bewegen.“

Nach vier Monaten Proben hatten sie sechs Songs eingespielt. Ihr erstes Konzert gaben sie am 1. November 1978 im Club Hey, bei dem die Songs einfach zweimal hintereinander gespielt wurden. Der Bandname NEON inspirierte dazu, sich die Glow-in-the-dark-Flüssigkeit, die beim Tauchen verwendet wird, in die Haare zu schmieren. Gitta erinnert sich noch, wie ihr diese Flüssigkeit bereits beim ersten Song in die Augen lief und unsäglich brannte, da es im Raum stickend heiß war, und auch ihr Schlagzeug brach auseinander und musste wieder aufgebaut werden. Danach waren sie alle überrascht, dass sie sich auch eine kleine Fangemeinde mit ihren wenigen Songs aufbauen konnten. Der nächste Auftritt führte sie mit der Gruppe HERTZ am 17. November in den Club Spex nach Bern. Anfangs planten sie einen Super-8-Film über Ferien in einer U-Bahn-Station zu drehen: neon sun and neon fun. Dieser sollte dann auf den Konzerten gezeigt werden, während sie live spielten. Alles ging aber so schnell, dass sie schlussendlich nur eine Lichtinstallation mit normalen Neonröhren machen konnten.

Auflösung von NEON

Dann im Dezember erfolgte eben dieser Auftritt im Schweizer Fernsehen. Nach dieser leidigen Geschichte entschieden sie sich, für eine Weile keine weiteren Konzerte zu geben. Während dieser Auszeit probten sie auch mit anderen Musikern, was dann zu einer temporären Neubesetzung am Bass führte. 1979 gab es dann zwei Live Auftritte bei POCH-Anlässen (Progressive Organisationen der Schweiz, eine linke politische Partei) in Zürich, am 17. März im Limmathaus und am 14. Juli auf dem Helvetiaplatz, zusammen mit TNT. Letzterer war ein Open Air-Festival und zugleich auch ihr Abschiedskonzert. Ende des Jahres verließ Gitta die Schweiz und wanderte wie etliche andere Personen aus dem Punk-Umfeld nach New York aus. Sie sagt: „Ich hatte das Gefühl, wenn ich länger in Zürich bleibe, erstickt meine Energie und Kreativität. Nach Abschluss der F+F wollte ich unbedingt weiter experimentieren und künstlerisch tätig sein.“

Sie absolvierte zuerst den Bachelor of Fine Arts an der School of Visual Arts, danach machte sie den Master of Fine Arts in Combined Media am Hunter College und parallel dazu schrieb sie Drehbücher und führte Regie bei Filmen und Videos. Auch Dagmar tat es ihr gleich, tauchte zwei Jahre später in New York auf und schrieb sich ebenfalls an der School of Visual Arts ein. Loredana hat man etwas aus dem Auge verloren, doch ab 1987 hatte sie sich in Amsterdam niedergelassen, wo sie bis heute noch lebt. Ganz anders erging es Astrid, die sich nach der Auflösung von NEON weiter in der Szene bewegte und einfach zum Spaß mal in dieser, mal in jener Band in Übungsräumen mitmachte. Anfang 1980 wurde sie dann von Klaudia Schiff von LILIPUT angesprochen, weil diese eine neue Sängerin suchten. Sie erinnert sich: „Ich war extrem nervös, denn immerhin waren sie für mich die Band schlechthin. Ich hatte auch keine Ahnung, wie sie an die Songs herangingen, oder ob meine mangelnden Englischkenntnisse ein Problem wären. Nach einer schlaflosen Nacht traf ich mich mit Marlene und Klaudia in ihrem Übungsraum und versuchte recht bis schlecht ,Hedi’s head‘ nachzusingen. Marlene stoppte und meinte: ,Spielen wir doch einfach.‘ Sie klimperte etwas auf der Gitarre und Klaudias Bass brummte mit. Und dann setzte ich einfach mit Kauderwelsch ein und es wurde ein Song daraus. Ganz so wie bei NEON früher.“

Fertig lustig

Die folgenden Aussagen über die Punk-Jahre von Gitta bringen es auf den Punkt: „Was nach außen gefährlich punkig ausgesehen hat, war nach innen unglaublich friedlich. Experimente wurden unterstützt. Ein Gefühl von Zusammenhalt, von Aufbruch, von Kraft und Mut. Wir suchten nicht nach Perfektion, wir suchten nach Ausdruck und Energie. Damals eine Überlebensstrategie in einer uns feindlich gesinnten, kalten und reglementierten Welt. Dies war aber Ende der Siebziger Jahre definitiv vorbei und das aus den unterschiedlichsten Gründen. Die Punk-Revolution wurde von der Musikindustrie und den Medien genüsslich nach allen Regeln der Kunst vermarktet und einverleibt. Da wollte und konnte natürlich kaum einer mehr mitmachen und die, die es taten, deren Scheitern war schon besiegelt. Somit musste, wer weiterhin vor dem eigenem Publikum auftreten wollte, sich persönlich wie musikalisch weiterentwickeln.“

Oder mit den Worten von Astrid: „In dieser Zeit veränderte sich auch die Punk-Szene. Der Post-Punk mit neuen Formen und Tönen traf auch in Zürich ein. In der Roten Fabrik trafen sich die Kunst- und Musikszene und schlossen sich immer enger zusammen. Eine Band durfte nun auch einmal einen ruhigen Song machen. Ich erinnere mich aber auch an heftige Vorwürfe aus der Punk-Szene. So wurden wir immer mal wieder als ,Mode-Punks‘ tituliert – aber das war für mich persönlich okay. Eigentlich war ich ja gerade durch diese Umbruchzeiten in meinem Element.“

Und die Zeit sollte ihr schließlich recht geben, die ewig stehengebliebenen, uniformierten und indoktrinierten Punk-Figuren sind wieder da gelandet, wo wir alle ursprünglich herkamen ... in einem biederen und konservativen Umfeld, wo die ewige Nostalgie zelebriert wird.

Im Geiste von Punk

Ein weiterer wichtiger Grund war die „Bewegig“. Ab dem Freitagabend, 30. Mai 1980 (ging in die Geschichte ein als erster Opernhauskrawall in Zürich) wurde über das ganze Jahrzehnt hindurch in zahllosen Schweizer Städten für kulturelle Freiräume, für freie Sicht aufs Mittelmeer (im Kopf bei jedem muss sich was ändern) und Sehnsüchte nach einer anderen Welt vehement gekämpft. Der nachträgliche Wandel dieser Zentren von konservativen Schlaf- zu weltoffenen Ausgehstädten wird durch nichts deutlicher demonstriert als durch die damalige Musik, jene Musik, die als Folge oder im Umfeld von Punk entstand.

Astrid hat ihre Gesangskarriere in der Band LILIPUT bis zum letzten Konzert im Züricher Mascotte Club im Oktober 1983 weiter geführt und arbeitet heute als spirituelle Beraterin. Loredana verstarb erst kürzlich am 22. April 2017 in Amsterdam. Gitta lebte für ein Jahrzehnt in New York und kam 1990 zurück nach Zürich, wo sie bis heute als Filmregisseurin arbeitet. Auch Dagmar kam nach etlichen Studienaufenthalten im Ausland zurück nach Zürich und widmet sich bis heute der Kunst in Wort und Bild.

Lurker Grand, Astrid Spirig, Dagmar Heinrich, Gitta Gsell