TON STEINE SCHERBEN

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Kai und Funky mit Gymmick akustisch

TON STEINE SCHERBEN waren zu Beginn der Siebziger Jahre die politischste und radikalste deutsche Musikformation. Basser Kai Sichtermann, Gitarrist R.P.S. (Ralph Peter Steitz) Lanrue, Sänger Ralph Christian Möbius aka Rio Reiser und all die anderen, wechselnden MusikerInnen der Band waren das Aushängeschild des AgitPop, der linken Protestbewegung. 1975 zogen die Bandmitglieder von Berlin ins nordfriesische Fresenhagen; 1985 zerbrach die Gruppe. Reiser wurde mit dem Scherben-Song „König von Deutschland“ Popstar. 1996 starb der Sänger. Seit 2004 versammeln sich um Sichtermann und Drummer „Funky“ Götzner immer wieder ehemalige Scherben als TON STEINE SCHERBEN FAMILY, seit 2014 war der Nukleus der Gruppe unter dem Originalnamen mit Songschreiber Lanrue wieder unterwegs. Nun gibt es erstmals seit der Auflösung 1985, oder besser, seit dem letzten Studioalbum „Scherben“ 1983 wieder wirklich neue Studioaufnahmen von einigen der (langjährigen) Mitglieder von TON STEINE SCHERBEN.

Nachdem 2016 eine Neuauflage der TSS-Box sowie eine Rio Reiser-Box den Weg in die Shops gefunden hatten, gibt es auf der nun vorliegenden Doppel-CD „Radio für Millionen“ (Fuego) neben einer Live-Scheibe unter dem Titel „Studio Berlin“ tatsächlich neues Material. „Am Jenseits“ zum Beispiel, komponiert von Gymmick (Gesang, Gitarre). Eigentlich heißt er Tobias Hacker. Er kommt aus Nürnberg, und gewann 2001 den Rio Reiser Songpreis als bester Solist. Zusammen mit Original-Scherbe Kai Sichtermann (Bass) und Langzeit-TSS-Mitglied Klaus „Funky“ Götzner (Drums) erarbeitete er das neue Album. Und tatsächlich: „Am Jenseits“ klingt nach TSS. Unter anderem, weil Gymmicks Timbre jenem von Reiser ähnelt. Für „Wenn du schön wohnst“ (geschrieben von Gymmick), und „Sternenstaub“ (Text Götzner, Melodie Gymmick) gilt das Gleiche. „Fado für dich“ entsprang der Feder von Sichtermann, Ex-Scherben-MGMT Misha Schoeneberg sowie Ex-TSS-Backingsängerin Angie Olbrich. Der Bonutrack „Vage Sehnsucht“ (bisher unveröffentlichte Demoaufnahme; T./M.: Olbrich-Sichtermann) wurde bereits 1982 noch von den Scherben (mit Lanrue, Paul, Sichtermann, Götzner, von Rio Reiser eingesungen!) realisiert. Dazu gibt es Neuinterpretationen von Scherben-und Reiser-Songs. Obendrein wird David Bowies „Helden“ gecovert. Gast Arno Funke (aka Ex-Erpresser „Dagobert“) intoniert humorvoll Reisers „Lass uns das Ding drehen“. Es gibt viel zu entdecken in dem „Radio für Millionen“. Viele Namen der deutschen Kultur/Zeitgeschichte tauchen auf respektive ein. Manche Hörer werden die Nase rümpfen, Verrat wittern, dem AgitPop hinterhertrauern. Andere wiederum werden glücklich sein. Eines ist das Werk auf jeden Fall – unterhaltsam. Normalerweise geben Kai Sichtermann und seine Kollegen keine Interviews. Für das Ox machten sie eine Ausnahme!


Auf eurer neuen Doppel-CD „Radio für Millionen“ sind fast alle Scherben zu hören. Wie war es, nach all den Jahren wieder gemeinsam im Studio zu arbeiten?

Sichtermann: Ja, fast alle sind gekommen und haben mitgemacht. Das war sehr erfrischend, und hat unglaublich viel Spaß gemacht. Leider war die Zeit etwas knapp.

Gymmick: Ich konnte es kaum glauben, als zum Beispiel Nikel Pallat, unser alter Sänger und früherer Manager, eine neue, aktualisierte Version von „Guten Morgen“ einsang. Seine Stimme hat sich kaum verändert. Immerhin ist die Originalversion fast ein halbes Jahrhundert alt.

Götzner: Die Zusammenarbeit war klasse. Besonders froh bin ich über das Lied „Sternenstaub“. Der Text stammt von mir und ist bereits älter. Zusammen haben wir einen Song daraus gebastelt.

Auf „Radio für Millionen“ gibt es einen neuen Scherben-Sänger. Wie habt ihr euch gefunden?

Sichtermann: Kennen gelernt hatte ich Gymmick durch Lanrue bereits vor einigen Jahren in Berlin. Die Idee der Zusammenarbeit entstand durch unsere Schiffstouren. Seit 2008 gibt es ja die Berliner Dampferfahrten auf der Spree und dem Landwehrkanal, immer so um den Todestag von Rio Reiser. Das erste Mal hat Sven Panne gesungen, danach Marius del Mestre. Als Marius 2014 nicht mehr mit uns spielen wollte, mussten wir einen neuen Sänger suchen. So fiel die Wahl auf Gymmick. Es hat so gut funktioniert, dass wir uns sagten, jetzt spielen wir nicht nur zwei Mal im Jahr auf’m Dampfer, sondern auch außerhalb davon und öfter.

Gymmick: Ich war schon 2001 in Fresenhagen und habe dort Rios Familie, später RPS Lanrue kennen gelernt. In Fresenhagen habe ich auch viel gesungen. So hat es sich ergeben, dass ich Teil der Scherben-Comunity wurde.

Götzner: Gymmick hat schon vor einigen Jahren das Vorprogramm für die SCHERBEN FAMILY gemacht.

Wie kam die Dagobert-Aktion zustande?

Gymmick: Das war Kais Idee. Ich kannte Dagobert lediglich von seiner Medienpräsenz in den Neunzigern, als er als Kaufhauserpresser die Polizei an der Nase herumführte. Zu „Lass uns das Ding drehen“ passt wirklich kein Gast besser als Arno Funke aka Dagobert ...

Sichtermann: Ende 2008 hatten wir den Song bei einem Live-Konzert schon einmal mit Arno Funke gespielt. Das kam damals super an. Da lag die Idee nahe, ihn noch mal für eine Tonträgeraufnahme ins Studio zu holen.

Wie sehen die restlichen Ex-Scherben das neue Album?

Sichtermann: Von Martin Paul und Angie Olbrich weiß ich, dass sie es gut finden. Mit den anderen habe ich noch nicht darüber gesprochen.

Wird es weitere Kooperationen untereinander geben?

Sichtermann: Konkret geplant ist zur Zeit nichts. Aber man weiß ja nie.

Gymmick: Na ja, erstmal haben wir noch viele Tourtermine dieses Jahr ... Wenn die CD gut ankommt, machen wir vielleicht ja noch ein Album.

Götzner: Au ja, eine CD sollten wir alle noch miteinander machen!

Zum ersten Mal seid ihr mit Scherben- und Rio-Liedern nur zu dritt und akustisch auf Tour. Welche Unterschiede ergeben sich daraus im Gegensatz zu früher?

Sichtermann: Die Locations sind kleiner. Dadurch haben wir intensiveren Kontakt zum Publikum als bei großen Rock-Konzerten. Viele der älteren Besucher freuen sich, mit uns die alten Lieder noch mal zu singen. Und selbst die jungen Leute singen textsicher mit. Das hat uns wirklich überrascht. Das Publikum, Alte und gerade Junge, ist oft überrascht, wie aktuell unsere Texte heute noch sind. Darüber hinaus ist das ganze Drumherum heute viel organisierter. Das war in den Siebzigern oft eine Katastrophe. Sehr angenehm finde ich, dass ich so im Sitzen spielen kann. Die Lautstärke ist erträglich, und alles ist viel differenzierter. Dadurch, dass wir nur mit drei Instrumenten akustisch spielen – also Cajón, Gitarre, Bass – kommt mein Bassspiel jetzt viel differenzierter rüber. Und die Texte sind besser zu verstehen. Bei großer Besetzung mit Schlagzeug und Stromgitarren ist das natürlich ganz anders.

Gymmick: Ich kann das ja nur aus den Büchern und Filmaufnahmen beurteilen. Ich bin eigentlich froh, dass heutzutage nicht ständig Menschen ans Mikrofon gehen und politische Manifeste vortragen und Diskussionen anfangen. Ich denke, das hat Rio auch eher gestört. Obwohl es vielleicht zu der Zeit wichtig war. Wahrscheinlich waren früher auch nicht so viele ältere Menschen im Publikum. Das Schöne ist aber, dass auch immer noch 18-jährige Punks lauthals mitsingen und sich freuen. Manchmal komme ich mir ein bisschen komisch vor, „Die rote Front und die schwarze Front sind wir!“ zusammen mit den örtlichen SPD-Senioren zu singen. Ich habe aber in Rios Biografie gelesen, dass er mit manchen Gassenhauern später auch Probleme hatte. Ich finde, heute darf man das mit einem Augenzwinkern sehen und einfach Spaß haben an den Songs. Es sind ja nicht nur die Texte, sondern auch Lanrues und Rios einzigartige Kompositionen. Ich jedenfalls habe seither keine so inspirierenden Rocksongs mehr in deutscher Sprache gehört. Man bemerkt den Einfluss der Scherben in der aktuellen Musikszene ja bis heute. Das neue Album vom KRAFTKLUB heißt ja zum Beispiel „Keine Nacht für Niemand“ oder ANNENMAYKANTEREIT zitieren Rio in manchen Songs.

Götzner: Für mich ist es angenehmer, weil ich nicht jedes Mal mein ganzes Schlagzeugset aufbauen muss. Trotzdem kann ich mit meiner Cajón wunderbar Akzente setzen.

TON STEINE SCHERBEN haben den Soundtrack für die linke Hausbesetzerszene der Siebziger Jahre geschrieben, und werden gefühlt immer noch auf jeder linken Demo gespielt. Was ist von den Idealen von damals noch übrig?

Sichtermann: Verglichen mit früher ist der Zeitgeist heute natürlich ein anderer und wenn man jung ist, sind die Ideale anders gelagert als im Alter. Aber zu fast allen Songs, besonders zu jenen mit sozialkritischem Hintergrund, kann ich immer noch stehen, ohne Wenn und Aber.

Gymmick: Es sind ja zeitlose Ideale, die da besungen wurden und werden. Gleichheit, Brüder- und Schwesterlichkeit, aufbegehren gegen Ungerechtigkeit. Den Slogan „Keine Macht für Niemand“ finde ich heute aktueller denn je.

Und es gibt auch immer noch zu teuren Wohnraum, es gibt weiterhin Kriege. Viele Probleme der Siebziger und Achtziger, sind bis heute nicht gelöst. Was hat sich verändert?

Sichtermann: Die politische Revolte hat nicht so stattgefunden, wie wir das wollten. Da muss sich sicher noch ganz viel ändern. Doch die Kulturrevolution des Rock’n’Roll, die hat sehr wohl stattgefunden.

Gymmick: Ein Freund von mir hörte gerade den Scherben-Song „Der Turm stürzt ein“, als ihn seine Mutter anrief: „Mach schnell den Fernseher an!“ Das war am 11. September 2001. Die Welt hat sich definitiv verändert. Umso wichtiger ist es, sie den Menschenfressern und selbstverliebten Politikern zu überlassen. Ob man mit der Musik wirklich etwas bewirken kann, weiß ich nicht, aber etwas anderes kann ich nicht. Die Scherben wurden ja in den Achtzigern auch eher dadaistisch – „Politik ist böse, aber Ding Ding“.

Gymmick, du singst ja jetzt die Songs, die früher Rio gesungen hat. Wie fühlt sich das für dich an und wie sind die Reaktionen?

Gymmick: Es ist für mich immer noch eine unglaubliche Ehre. Schließlich sind TON STEINE SCHERBEN meine Lieblingsband, seit ich 14 bin. Den Zuhörern scheint es zu gefallen, jedenfalls bekommen wir viel Lob nach den Auftritten. Lustig finde ich, dass es früher oft hieß, ich klänge stimmlich wie Rio Reiser, seit ich aber mit Kai und Funky unterwegs bin, schreiben die Kritiker oft Sachen wie: „Er versucht gar nicht erst nach Rio zu klingen“. Manchmal drehe ich die Texte auch ein klein wenig um. Bei „Menschenfresser“ kommt jetzt zum Beispiel Donald Trump vor. Beim „Rauchhaussong“ wollte ich nicht singen, dass ich den erstbesten „Bullen, die da auftauchen, die Köppe einschlage“. Das ist mir zu martialisch. Ich lege jetzt also dem „Herrn Wachtmeister“ im Lied seine eigenen Handschellen an.

Wie sind eure Pläne für die Zukunft?

Sichtermann: Für dieses und nächstes Jahr sind schon viele Konzerte gebucht, und die Planung geht weiter. Das reicht mir erst mal.

Gymmick: Ich würde gerne wieder neue Lieder mit dem Trio schreiben, und die Revolution auf unsere alten Tage doch noch lostreten.

Götzner: Na ja, die Idee mit einer neuen CD gefällt mir, wie gesagt, sehr gut!