FJØRT

Foto© by Andreas Hornoff

Die Schönheit des Wortes

Spätestens mit ihrem Album „Kontakt“ von 2016 sind FJØRT aus Aachen zur Avantgarde des deutschen Post-Hardcore geworden. Weil sie einzigartig sind mit ihrer Mischung aus Wut und Melancholie, aus epischen Riffstrukturen, Stille und Raserei. Und weil sie in ihren Texten mehr als alle anderen Wert legen auf die Schönheit des Wortes. Das ist auch auf ihrem neuen Album „Coleur“ so, über das Gitarrist und Sänger Chris Hell und Bassist David Frings mit uns sprechen.

David, Chris, lasst mich raten: Ihr habt ein neues, von vielen sehnlich erwartetes Album am Start – und seid derzeit rundum zufrieden und glücklich.

David:
Vor allem sind wir froh, dass wir erst mal nicht mehr kreativ arbeiten müssen. Es geht darum, dass uns nun, da es mit der Promo fürs Album losgeht, wieder einmal bewusst wird: Die Platte liegt fertig beim Label. Das bedeutet wiederum: Sie ist nicht mehr korrigierbar. Und das ist gut für eine sehr, sehr perfektionistische Band, wie wir eine sind. Denn wir schrauben gerne bis zum allerletzten Moment noch am kleinsten Fliegenschiss herum. Jetzt aber können nicht mehr eingreifen. Und das ist tatsächlich ein geiles Gefühl. Zu wissen: Es ist so, wie es ist, und wir können nichts mehr ändern.

Habt ihr Probleme damit, eine Deadline einzuhalten und irgendwann einfach sagen zu müssen: Schluss jetzt. Das ist es, jetzt sind wir fertig?

Chris:
Tja, genau das ist die Kunst, wenn du etwas erschaffst. Ein Ende zu finden. Diszipliniert zu sein. Denn du bist – zumindest kann ich das für uns sagen – irgendwie nie zu 100% zufrieden. Du hast immer neue Ideen und immer neue Einfälle. Du siehst vieles schnell in einem anderen Licht und läufst Gefahr, dich an so einem Projekt kaputtzuschrauben.

Könnt ihr ein neues Album dann überhaupt noch genießen? Oder denkt ihr jedes Mal nach den Aufnahmen: Mist, da und dort hätten wir noch etwas anders machen können?

David:
Das kommt zum Glück nicht vor. Wir können unsere Alben trotz aller Ideen, die uns vielleicht nachträglich noch kommen, immer genießen. Denn dazu werkeln wir im Vorfeld einfach viel zu extrem daran herum. Am Ende geht es um Nuancen, die Außenstehende wahrscheinlich gar nicht hören würden, die uns aber wichtig sind. Wir wissen, was wir geleistet haben. Und da stellt sich dann schon eine Gewissheit ein, dass die Songs gut sind. Aber all dieser Stress macht ja auch Spaß. Er motiviert einen. Und er ist Ausdruck einer Passion.

Wie sehr hat die euch im Griff?

David:
Schon ziemlich. Wir sind jetzt zwar nicht die Musiker, die morgens aufwachen und direkt denken: Ich muss sofort an mein Instrument. Und Chris ruft mich auch nicht mitten in der Nacht an, um mir irgendwelche Ideen mitzuteilen. Aber wenn wir uns treffen, dann gibt es keine Bremse. Dann geht das bei uns sehr schnell sehr krass nach vorne.

Habt ihr einen Lieblingstag, an dem ihr euch trefft?

David:
Gar nicht. Wir haben keine festen Probentermine. Ich glaube, wir brauchen einfach diese kreative Freiheit und müssen flexibel sein. Wenn es hinterher nur noch darum geht, dass man seine Songs übt, dann ist das etwas anderes. Dann kann man das strukturierter machen. Aber wenn man das vorher schon machen würde und es würde bei den Treffen nichts herauskommen, dann käme man schnell an den Punkt, an dem man die Kreativität erzwingen müsste. Und Kreativität darf man meiner Meinung nach nie erzwingen.

Die Titel eurer Alben, „D’Accord“, „Kontakt“, nun „Coleur“, sowie eurer Songs, „Eden“, „Mitnichten“, sind eigenwillig. Warum seid ihr so eine Band der schönen und mitunter selten gebrauchten Einzelwörter?

Chris:
Diese Wörter sind tatsächlich nicht alltäglich. Aber sie laufen einem trotzdem hier und da über den Weg. Sie fallen vielleicht einmal im Jahr in einem Gespräch oder man liest sie zufällig in einem Text. Und dann muss man eben aufmerksam sein, sich das Wort merken und überlegen, wie man es anderweitig und für seine eigenen Belange, für seine Musik einzusetzen kann. Diese Wörter haben ja meist mehrere Bedeutungen, mehrere Ebenen. Man kann sie in ganz andere Zusammenhänge setzen. Und man kann mit ihnen gedanklich viel mehr anstoßen als mit einem ganzen Satz. Wenn dir so ein Wort richtig vor den Kopf stößt, dann machst du dir einfach mehr Gedanken über seine Wirkung und die Sache, die es beschreibt.

Wir halten fest: FJØRT sind die Wortkünstler in der deutschen Post-Hardcore-Szene.

David:
Irgendwie schon, haha. Was ja nicht schlecht ist. Denn eine solche Konzentration auf das schöne Wort hat ja der ganze Popsektor schon lange niedergemäht: Wenn man sich mal einen Tag lang die Musik anhört, die im Radio läuft, dann kommen alle Songs zusammen vielleicht gerade einmal mit 500 Wörtern aus. Da werden Phrasen gedroschen. Und diese Phrasendrescherei finden wir eben uninteressant, weil wir uns sagen: Das haben ja schon 300 Bands gemacht und das hat Max Giesinger ja schon in 800 Texten gesungen. Uns geht es darum, welche Art von Texten und Wörtern zum Nachdenken anregen. Bei mir ist es so: Wenn ich etwa ein Wort wie „Mitnichten“ höre, dann geht bei mir sofort die Assoziationskette los und mir fallen gleich zahlreiche Situationen in meinem Leben ein, auf die so ein Wort passt. Und dieser Prozess des Nachdenkens bezieht wiederum den Zuhörer mit ein.

Dann gehen wir doch mal in die Deutung eures neuen Albums hinein. Was bedeutet für euch das Wort „Coleur“?

Chris:
Es gibt ja diese Wendung: „Menschen aller Coleur“. Und nach der steht der Begriff „Coleur“ für deine persönliche Sicht der Dinge. Für deine Weltanschauung und deine Meinung. Und unser Album dreht sich entsprechend in vielen Facetten darum, seine Meinung zu sagen. Oder eben nicht zu sagen. Sie bewusst für sich zu behalten. Sie falsch zu sagen. Oder sie wegen Gefahr für Leib und Seele nicht sagen zu dürfen. All das wird in den Songs angesprochen. Es beginnt damit, was du deinem besten Kumpel erzählst oder verschweigst. Es geht weiter mit Situationen, in denen dir aufgrund der Meinung anderer vielleicht das Messer in der Tasche aufgeht, in denen du aber trotzdem den Mund hältst. Und es endet in den politischen Sphären. Sprich: In Situationen, in denen du eben den Mund aufmachen musst.

In welcher Situation ging euch denn zuletzt das Messer in der Tasche auf – und habt es trotzdem nicht gezückt?

David:
Ach, das passiert ja quasi jede Woche. Mit den Arbeitskollegen, an der Supermarktkasse, überhaupt bei Gesprächen im Bekanntenkreis oder in der Kneipe. Es passiert, wenn Leute gewisse gesellschaftspolitische und soziale Themen einfach übergehen. Wenn sie beispielsweise über eine Frau als „Schlampe“ reden oder in sozialen Netzwerken ihr Ego durchsetzen, über andere Menschen hinweg. Denn wir leben ja in einer Zeit, in der jeder der König sein will. Es ist ja auch okay, wenn sich jeder erst mal selber gut fühlen will. Aber man sollte doch bitte schön andere Menschen mit so etwas in Ruhe lassen, sich nicht über sie erheben. Man kann doch auch einfach mal sein Maul halten. Die Gesellschaft fängt ohnehin an, sich mehr und mehr zu hassen. Da kann man doch auch einfach mal „Danke“ sagen und Empathie zeigen.

Was muss passieren, damit ihr doch das – imaginäre – Messer zückt?

David:
Wenn etwa Sprüche kommen würden der Art: „Ich habe ja nichts gegen Ausländer, aber ...“ Dann würde ich meinem Gegenüber schon ganz deutlich etwas sagen. Oder wenn jemand körperlich bedrängt wird. Es gibt eben Situationen, in denen man eingreifen muss. Wobei die glücklicherweise sehr selten sind. In anderen Momenten, wenn niemand anderes von der Meinung einer Person direkt betroffen ist, dann denkt man wiederum einfach: Ja, ja, du hast deine Meinung. Sei’s drum. Aber ich finde es nicht geil und verstehe das nicht.

Ist „Coleur“ ein Zeitgeistalbum?

Chris:
Das ist ein großes Wort. Es besagt ja, dass man die aktuelle Stimmung in der Gesellschaft, die Stimmung einer bestimmten Zeit einfängt. Und natürlich fangen wir schon Dinge, die uns in der letzten Zeit passiert sind, auf und sprechen sie an. Wenn man die Augen und Ohren offen hält, kann man sich davon ja nie ganz frei sprechen. Aber letzten Endes ist es keine Vorgabe von uns an uns, über das zu erzählen, was derzeit allgemein passiert. Letztlich erzählen wir vor allem von den Dingen, die wir selber erlebt haben.

Im Song „Raison“ geht es ganz offensichtlich um Politik und um das, was derzeit in diesem Land schiefläuft. Und genau ein solcher Song, verbunden mit der bandtypischen musikalischen Melancholie und Wut, bleibt natürlich besonders im Ohr und prägt die Platte. Er wird zum Zeitgeistsong.

David:
Da hast du recht. Und wir wären alle zufrieden, wenn wir so etwas nicht schreiben müssten und Menschen einfach friedlich miteinander umgehen würden. Denn wir Menschen haben ja alle eine großartige Gabe: Wir können miteinander reden und darauf achten, dass es allen gut geht. Symbolisch gesprochen: Ich denke, dass keiner von uns Bock hätte, an einem Tisch im Restaurant zu sitzen und sich ein geiles Gericht reinzufahren, während am Tisch nebenan jemand verhungert. Denn dann würde man demjenigen doch etwas abgeben. Das sagt einem ja der gesunde Menschenverstand. Eigentlich. Aber derzeit ist es ja so, dass genauso solche Dinge häufig anders laufen. Nach dem Motto: „Alle geflüchteten Menschen müssen verdrängt werden. Ich weiß zwar, dass es sie und ihre Probleme gibt. Aber ich will das nicht sehen. Mich interessiert nur, dass es mir gut geht.“ Darauf basiert ja der ganze Rechtspopulismus, der sich derzeit breit macht. Wir haben jetzt eine Partei im Bundestag, die aus Faschisten und Rassisten besteht. Deren Mitglieder eine Abschottung unserer Gesellschaft fordern. Die wollen, dass nur derjenige hier leben darf, der „deutsch“ im Pass stehen hat. Der Rest soll am besten an der Grenze erschossen werden. Diese Forderung, dieses „Wir schränken alle ein, wir gewähren niemandem Zuflucht und wir beschränken auch die Medien, damit sich keiner mehr eine andere Meinung bildet“, das macht sich ja gerade breit. Insofern musste dieser Song auf die Platte. Er ist für uns wie eine Fortsetzung des Stückes „Paroli“ von unserem vorherigen Album „Kontakt“. Mit einem Unterscheid: Bei „Paroli“ war noch relativ viel Hass dabei. Jetzt, in „Raison“, geht es um Hoffnung. Es ist eine Bestandsaufnahme, die sagt: Es sind zwar politisch schlimme Zeiten, aber wir sind in der Lage, das zu verändern. Wir sind immer mehr, die bereit sind, auf die Straße zu gehen. Viele Menschen haben bei der Wahl ihr Kreuzchen an der falschen Stelle gemacht, weil sie verbittert sind und sich missverstanden fühlen. Und die muss man irgendwo versuchen abzuholen. Das macht Hoffnung. Das kann die Wende bringen.

Eure Texte sind mitunter kryptisch. Würdet ihr euch trotzdem als Geschichtenerzähler bezeichnen?

Chris:
Ich denke, jedem Song wohnt schon irgendeine Geschichte inne. Jeder Song entsteht im Kern aus einer Situation heraus, die einem von uns irgendwann einmal passiert ist. Aber ich selbst finde es als Hörer von Musik immer gut, wenn mir die konkrete Situation, die dem Künstler beim Schreiben durch den Kopf gegangen ist, nicht vorgekaut wird. Ich feiere es richtig ab, wenn ich Texte vorgesetzt bekomme, bei denen der Kopf rotiert. Bei denen ich nachdenken muss. Die in mir etwas auslösen, was vielleicht gar nichts mit dem zu tun hat, was der Künstler sich gedacht hat. Das ist doch ein viel schöneres Erlebnis.

Dabei besteht aber auch die Gefahr, dass die Leute Songs vielleicht falsch – oder gar nicht – verstehen. Und das kann frustrierend sein, oder?

Chris:
Nein. Denn für mich als Künstler gilt: Ich habe jetzt für mich etwas auf den Punkt gebracht. Und das ist das Wichtigste. Und wenn das vielleicht niemand anders versteht, ist das absolut okay. Beziehungsweise: Es ist vollkommen in Ordnung, wenn Leute eine ganz andere Interpretation entwickeln, wenn sie ganz andere Assoziationen haben, sobald sie unsere Texte hören und lesen. Einer meiner Lieblingssongs ist beispielsweise „Red sky“ von THRICE. Er hat für mich einen ganz besonderen Stellenwert. Aber er hat ihn wegen einer ganz speziellen Situation. Wegen eines ganz speziellen Gefühls. Ich bin sicher, dass Dustin Kensrue, der THRICE-Sänger, beim Schreiben des Songs nicht das gedacht hat, was ich beim Hören empfinde . Trotzdem ist das für mich ganz wertvoll. Und wer weiß: Vielleicht ist meine Deutung ja noch viel geiler als seine.

David: Überhaupt ist es immer wieder interessant, wenn uns Leute erzählen, was sie für sich aus unseren Lyrics rausziehen. Und uns fallen dann immer wieder die Kinnladen runter, wenn wir hören, in welchen Lebenssituationen ihnen einzelne Stücke vielleicht weitergeholfen haben. Das sind krasse Momente! Gerade, wenn dir die Leute das ins Gesicht sagen.

Hast du ein Beispiel?

David:
Wir gehen ja nach Konzerten immer raus zu den Zuschauern. Für uns ist das selbstverständlich, schließlich haben diese Leute für ein Ticket bezahlt. Da sollen sie auch die Möglichkeit haben, mit uns zu sprechen. Wir wollen als Band ja nicht über dem Publikum rangieren. Und bei der vergangenen Tour kam nach einem Auftritt so ein fünfzigjähriger Altrocker auf mich zu und sagte mir: „Ey, ich habe ja wirklich schon alles erlebt. Aber was ihr da musikalisch und textlich auf die Beine stellt – das ist Wahnsinn!“