GRASWURZELREVOLUTION

Foto

Für Frieden und Anarchismus

Seit 45 Jahren erscheint die Graswurzelrevolution (GWR) als „Monatszeitschrift für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft“. Es ist das langlebigste und bekannteste Sprachrohr des Anarchismus im deutschsprachigen Raum. Punk und Anarchismus, da war doch was? Und was haben die G20-Gipfel-Krawalle mit Anarchie zu tun, wie es uns die Boulevardmedien weismachen wollen? Längst ist es überfällig, Licht ins Dunkel zu bringen. Kaum einer wäre dafür besser geeignet als der promovierte Soziologe, Buchautor und GWR-Redakteur Bernd Drücke.

Bernd, wenn in den „etablierten Medien“ über Anarchismus berichtet wird, dann meist im Zusammenhang mit Terrorismus und Chaos, auch wenn wir wissen, dass Anarchismus damit nichts zu tun hat. Warum, glaubst du, hat sich diese Verbindung so manifestiert und wie wirkst du mit deiner Arbeit in der GWR dagegen?


Wir versuchen, mit der Graswurzelrevolution dem Klischee „Anarchie ist Chaos und Terror“ ein positives Bild entgegenzusetzen, auch indem wir Menschen zu Wort kommen lassen, die konkret in Kommunen, Alternativbetrieben und anderswo versuchen, ein Stück weit die Anarchie zu leben. Immanuel Kant hat Anarchie als „Freiheit und Gesetz ohne Gewalt“ definiert. Für uns steht Anarchie für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, die nach den Prinzipien der gegenseitigen Hilfe und freien Vereinbarung organisiert ist. Ich will weder herrschen noch beherrscht werden. Dieser Libertäre Sozialismus ist derzeit eine Utopie. Anarchismus ist eine Bewegung, die Anarchie anstrebt, und gleichzeitig der Weg, um den Freiheitlichen Sozialismus zu erreichen.

Du wirst ja sehr oft zu den verschiedensten Gesprächsrunden eingeladen, um über Anarchismus zu referieren. Welches Feedback erhältst du?

Resonanz auf meine Vorträge und Diskussionsveranstaltungen freut mich. Am liebsten referiere ich vor Leuten, die klischeehafte Vorstellungen von Anarchie haben. Es ist klasse, wenn es dann eine heiße Diskussion gibt und man nach einer Veranstaltung das Gefühl hat, die Vorurteile bei vielen ZuhörerInnen erschüttert zu haben. „Unrealistische Spinnerei“ und ähnliche Totschlagargumente lassen sich am besten im Gespräch entkräften.

Aufgrund diverser Vorurteile und nicht zuletzt wegen manch gewaltfreier Protestform und Sabotage, über die in der GWR berichtet wird, stelle ich mir vor, dass sowohl staatliche Instanzen als auch Andersdenkende die GWR etwas genauer unter die Lupe nehmen. Mit was muss man da rechnen und wie wehrst du dich dagegen?

Die Graswurzelrevolution wird seit Erscheinen der Nullnummer im Sommer 1972 vom Verfassungsschutz beobachtet und ist in der Vergangenheit mehrmals wegen Aufrufen zur Desertion, zu Blockaden und direkten gewaltfreien Aktionen kriminalisiert worden. Wir reagieren auf die Erwähnung im VS-Bericht meist mit Ironie. Eine extrem üble Diffamierung der GWR findet sich zum Beispiel in der 1999 vom Bundesamt für Verfassungsschutz herausgegebenen Broschüre „Extremistische Bestrebungen im Internet“. Auf dem Titelblatt sind mehrere Computerbildschirme zu sehen. Auf dem Bildschirm vorne rechts das GWR-Logo mit zerbrochenem Gewehr auf schwarzem Stern, auf dem Bildschirm vorne links „Adolf Hitlers Hass Seiten“ mit Hakenkreuzfahne. Hier setzt der Verfassungsschutz einen gewaltfreien Anarchismus mit den Nazis gleich. Unfassbar! Leider haben wir es versäumt, dagegen vorzugehen.

In der GWR wird ein ganz anderes Bild von Anarchismus vermittelt, geprägt durch Gewaltlosigkeit, zivilen Ungehorsam und vor allem Bildung und Information. Wo siehst du in unserer Welt anarchistische Tendenzen?

Ich denke, jeder Mensch trägt anarchistische Züge in sich, die es zu wecken gilt. Ein Beispiel: Der Graswurzelrevolutionär Osman „Ossi“ Murat Ülke aus Izmir ist ein Freund von mir. Er saß wegen Kriegsdienstverweigerung mehr als zwei Jahre in der Türkei im Knast. Die Zelle musste er sich mit Mehmet Bal teilen, einem Grauen Wolf, der wegen Mordes einsaß. Der Horror schlechthin. Ossi ist ein gewaltfreier Anarchist. Er hat sich lange im Knast mit dem Faschisten gestritten und ihn agitiert. Später wurde Mehmet Bal aufgrund einer Amnestie aus der Haft entlassen. Nun sollte er seinen Kriegsdienst ableisten. Stattdessen erklärte er öffentlich seine Verweigerung. Er habe schon einen Menschen getötet und wolle nie wieder auf andere schießen, schon gar nicht auf Befehl. Der Faschist hatte sich zum Kriegsdienstverweigerer gewandelt. Mehmet Bal wurde daraufhin so heftig gefoltert, dass er infolge seiner Verletzungen ausgemustert werden musste. Sein Fall zeigt aber, dass sich selbst ein faschistischer Mörder noch zu einem empathischen Menschenfreund wandeln kann. Anarchie, eine menschenfreundliche, egalitäre Gesellschaft, ist machbar.

Anarchistische oder libertäre Ansätze, Strömungen und Versuche gab es einige in der Geschichte, allerdings wurden sie meist blutig niedergeschlagen. Warum gibt es so viel Angst vor dieser Idee?

Anarchie ist für die Herrschenden überall auf der Welt ein Schreckensbild. Sie fürchten, ihre Macht über andere Menschen zu verlieren. Außerdem macht es auch etwas mit den Menschen, wenn ihnen, wie jetzt nach den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg, von den Massenmedien immer wieder eingetrichtert wird, Anarchie äußere sich in Chaos und Terror. Viele glauben dieser Propaganda und werden das Bild des anarchistischen Bombenlegers im Kopf nicht mehr los. Dabei hat der reale Anarchismus etwas mit Emanzipation, sozialer Gerechtigkeit, Selbstorganisierung und Aufbau von Kommunen zu tun, aber nichts mit Bomben werfen und Autos anzünden. Der niederländische Anarchist Bart de Ligt hat es so ausgedrückt: „Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution.“

Wann und wie kam dein Interesse für Anarchismus auf?

Das fing in der Pubertät an. Es hat viel mit meiner Politisierung in der Friedensbewegung Anfang der Achtziger Jahre zu tun. Das Lesen anarchistischer Literatur und das Hören anarchistischer Musik spielten dabei eine große Rolle. TON STEINE SCHERBEN haben mich und viele andere Anarchistinnen und Anarchisten im deutschsprachigen Raum geprägt. Die Scherben sind für mich die wichtigste deutsche Anarcho-Rockband des 20. Jahrhunderts. Sie haben zur Politisierung beigetragen, also aufgeklärt über Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Es gibt keine Platte, die ich öfter gehört habe als „Keine Macht für Niemand“. Diese Band hat bis heute einen enormen Einfluss auf den Anarchismus, den Rock und Punk im deutschsprachigen Raum. Spätestens nach dem Lesen von „Was ist eigentlich Anarchie?“ war mir klar, dass ich Anarchist bin.

Was ist Anarchismus für dich: Wissenschaft, Arbeit, Gesellschaft, Utopie, etwas Persönliches?

Das alles, aber auch Kultur, Subkultur, eine Weltanschauung, die mir Kraft gibt im alltäglichen Kampf gegen die katastrophalen Auswirkungen des Kapitalismus. Anarchie ist eine wunderbare Idee zur Veränderung der Welt.

Welche anarchistische Strömung liegt dir am meisten, welche anarchistischen oder libertären Ansätze lebst du?

Ich verstehe mich als Anarchist, als libertärer Sozialist, als Graswurzelrevolutionär, libertärer Antimilitarist und undogmatischer Mensch. Als Redakteur der Graswurzelrevolution verbreite ich vor allem die Ideen des gewaltfreien Anarchismus und stehe sowohl dem Anarchosyndikalismus als auch dem Projektanarchismus nahe. Persönlich versuche ich, anarchistische Ideen zu leben, auch wenn das unter den Bedingungen des Kapitalismus nur bedingt möglich ist. Ich wohne seit 1991 mit sechzig Menschen in einem Wohnprojekt. Wir konnten schließlich den Abriss verhindern und dann unsere selbstverwalteten Häuser in Eigenregie ökologisch sanieren. In sozialen Bewegungen engagiere ich mich seit Jahrzehnten und konnte zusammen mit anderen sowohl lokal als auch überregional einiges von dem verwirklichen, was mir vorschwebte. Auch die Graswurzelrevolution sehe ich in diesem Kontext. Dass ich seit 1998 Koordinationsredakteur dieser anarchistischen Monatszeitung bin, ist für mich ein Glück. Immer wenn ich eine neue Druckvorlage an die Druckerei schicke, mache ich einen Luftsprung und denke: Wieder ein Schritt Richtung Anarchie.

Versuchen wir einmal, Demokratie nicht mit Kapitalismus gleichzusetzen, auch wenn das leider oft als untrennbar miteinander verbunden gilt. Natürlich ist vieles verbesserungswürdig, doch ist der Grundgedanke der Demokratie mit das Beste, was die Menschheit im Sinne eines gemeinschaftlichen, halbwegs friedvollen Zusammenlebens hervorgebracht hat, verglichen damit, über welche Regimes in der GWR ansonsten berichtet wird. Was würden anarchistische oder libertäre Ansätze in der Demokratie besser machen, um mal einen kleinen Schritt zu gehen, oder ist das eine mit dem anderen gar nicht möglich?

Als Anarchist lebe ich ja nicht auf dem Mond. Ich tue mich also oft auch mit anderen Linken und Fans nichtfaschistischer Parteien zusammen, etwa um Faschisten zu blockieren oder soziale Errungenschaften zu verteidigen. Mir ist die Parlamentarische Demokratie aber nicht demokratisch genug. Es wird in dieser kapitalistischen Demokratie viel zu wenig frei diskutiert, stattdessen bestimmen manipulative, rassistisch-sexistische Medien wie Bild und Co. das Denken der Massen. Eine parlamentarische Vertretung ist besser als eine Diktatur. Das Abgeben des Selbstbestimmungsrechts an andere ist aber auch in der Parlamentarischen Demokratie eine Form von Selbstentmündigung. Im Kapitalismus regiert de facto das Kapital. Als Anarchist möchte ich aber weder regiert werden noch regieren, auch nicht von Mehrheiten. Ich möchte meine Entscheidungen selbstbestimmt und kollektiv treffen. Das ist eine Utopie, aber ihre Verwirklichung wäre die gerechteste Form sozialer Organisierung. Deshalb ist der HerausgeberInnenkreis der Graswurzelrevolution basisdemokratisch organisiert. Wir propagieren direkte gewaltfreie Aktionen als eine unmittelbare Form von Selbstbestimmung. Uns ist bewusst, dass ein Wahlergebnis wie das in den USA einen extremen sozialen und politischen Rückschritt zur Folge haben und uns noch viel weiter von der Verwirklichung einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaft entfernen kann. Wie problematisch ein System ist, das einen Menschenfeind wie Trump in die Lage versetzt, den roten Knopf zu drücken und somit die Menschheit auszulöschen, wurde durch das US-Wahlergebnis vielen bewusst. Immer mehr Menschen erkennen, dass das kapitalistische Herrschaftssystem ein menschheitsgefährdendes Potenzial hat. Ziel des Anarchismus ist es, die fortgesetzte Reproduktion von Herrschaft zu unterbrechen. Deshalb ist es uns wichtig, emanzipatorische Methoden der Entscheidungsfindung zu entwickeln, die ohne Führer, Befehl und Gehorsam soziales Leben organisieren.

Die Geschichte beweist, dass es manchmal Generationen andauert, um ein nachhaltiges Umdenken in einer Gesellschaft zu verankern. Wo oder wie sollte der Samen für ein Umdenken heute gesät werden, um in ein paar Jahren die ersten Erfolge ernten zu können?

Überall. Ich denke, es wird immer mehr Leuten bewusst, dass die Menschheit dem Untergang geweiht ist, wenn sie so weitermacht wie jetzt. Der Kapitalismus zerstört die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Eine gewaltfreie und herrschaftslose Alternative wäre die Anarchie. Dahin kommen wir mit Aufklärung. Wir brauchen eine freie, herrschaftskritische Presse, Gegenöffentlichkeit und soziale Bewegungen, die für die Würde aller Menschen und gegen Krieg, entfremdete Arbeitsverhältnisse, Ausbeutung, Umweltzerstörung und andere Auswüchse des Kapitalismus kämpfen.

Durch die Literatur, die ich bislang über Anarchismus gelesen habe, egal um welche Strömung es sich handelte, habe ich für mich festgestellt, dass die Umsetzung von Anarchismus vor allem für viel Eigenverantwortung steht. Etwas, das in unserer Gesellschaft nur bedingt gefördert wird, geschweige denn aktiv gelehrt wird. Wie siehst du das?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen in sozialen und kollektiven Kämpfen über sich hinaus wachsen können. Da bin ich optimistisch. Jeder Mensch ist auch zur eigenen Veränderung und zu eigenverantwortlichem Handeln fähig.

Welche Themen waren in der Anfangszeit der GWR vorrangig und wie hat sich das Blatt thematisch entwickelt?

Anarchistische, antirassistische, ökologische, antimilitaristische, feministische und andere emanzipatorische Themen ziehen sich wie ein schwarz-roter Faden durch die 422 bisher erschienenen Ausgaben der Graswurzelrevolution. In den Siebziger Jahren spielten auch Kriegsdienstverweigerung und die Anti-Atom-Bewegung eine herausragende Rolle. Beide Themen sind auch heute nicht gegessen, weil Kriegsdienstverweigerer in vielen Ländern verfolgt werden und der Atomausstieg – auch hierzulande – noch nicht wirklich durchgesetzt ist. Durch die Aussetzung der „Wehrpflicht“ und Merkels schrittweisen Atomausstiegsbeschluss nach Fukushima sind sie in der GWR aber nicht mehr so dominant vertreten wie früher. Stärker im Fokus sind heute zum Beispiel die internationale Klimabewegung, die Solidarität mit Geflüchteten und der Widerstand gegen AfD und Neofaschismus. Intensiv diskutiert wurden in den letzten Jahren in der GWR unter anderem auch die antisoziale Hartz-IV-Politik, abhängige Beschäftigung, das Bedingungslose Grundeinkommen und Prostitution. Wir beschäftigen uns nicht nur mit anarchistischer Theorie, sondern auch mit der „Produktionssphäre“, der die meisten Menschen ausgesetzt sind.

Punk wurde unter anderem durch „Anarchy in the UK“ von den SEX PISTOLS geprägt. Viele Bands zogen damals mit. Was hat Punk deiner Meinung nach mit Anarchismus zu tun oder vielleicht auch nicht?

Ich denke, Punk hat dem Anarchismus viele neue Impulse gegeben. Und umgekehrt. Das Anarchismusverständnis der SEX PISTOLS war aber eher eine Karikatur. Sie übernahmen die verfälschende Darstellung der Medien, die Anarchie mit Chaos und Zerstörung gleichsetzt. Das anarchistische Ziel einer solidarischen, herrschaftslosen Gesellschaft kommt in der destruktiven „No Future“-Haltung der Pistols nicht vor. Sie hatten nie eine anarchistische Utopie. Sie waren nihilistisch, aber nicht anarchistisch. Aber gleichzeitig gab es ja auch schon in den Siebzigern politische Anarchopunk-Bands wie CRASS, die mit „Anarchy and Peace“ und ihrem eigenen Label eine klare gewaltfrei-anarchistische Position vertraten.

Und damit sind wir beim Anarcho- oder Peace-Punk. Diverse Bands brachten Themen wie Vegetarismus, Veganismus, Tierrechte – Stichwort: Animal Liberation Front –, Abrüstung, Anti-Atomkraft, Anti-Kapitalismus, Hausbesetzungen, die Friedensbewegung mit ins Spiel. Es wurde alles noch politischer und vieles davon stand im Zeichen des Anarchismus. Inwieweit geht Anarchismus mit diesen Themen konform?

Na, da machst du jetzt ein Fass auf, da könnten wir ein Buch zu schreiben und würden dem Ganzen trotzdem nur in Ansätzen gerecht werden. Das sind alles Themen, die auch mit Anarchismus zu tun haben. Deshalb nur zwei kurze Beispiele, inwieweit politischer Punk und Anarchismus miteinander verwoben sind: Die Deutschpunk-Band SLIME hat 2012 Texte des 1934 von den Nazis im KZ Oranienburg ermordeten Anarchisten Erich Mühsam vertont. Und die leider mittlerweile aufgelösten Anarcho-Pop-Punker CHUMBAWAMBA haben mit ihren subversiven Texten den Weg in die Charts und die Supermarktberieselung gefunden.

Wenn du am Bahnhof einen schnorrenden Punk mit Anarchismus-Aufnähern siehst, woran denkst du da spontan? Glaubst du, dieser Mensch hat verstanden, worum es im Anarchismus geht?

Ich denke dann oft an meine erste Hausbesetzung zurück, die ich zusammen mit Punks und Hippies im Mai 1989 in Unna mitgemacht habe. Das sind überwiegend positive Erinnerungen. Wenn ich schnorrende Punks sehe, dann denke ich an diese gut gelaunte „Unslhausn“-Besetzung. Damals war das Zusammenwirken von „unpolitischen“ Punks und „Polit-Hippies“, zu denen ich als langhaariger Anarchist gehörte, ziemlich gut. Ein Anarchismus-Aufnäher macht aus einem Punk noch keinen Anarchisten, aber es zeigt doch eine Aufgeschlossenheit gegenüber anarchistischen Ideen, die ich beim Nadelstreifen-Banker nicht unbedingt erwarten kann.

Was ist deiner Meinung nach der Grund, warum in der Vergangenheit manch gelebte Utopie nicht funktionieren wollte?

Das ist wieder ein Thema für eine Doktorarbeit. Wir leben nicht in einer anarchistischen Gesellschaft, sondern in einem kapitalistischen System, das uns alle mehr oder weniger geschädigt hat. Wenn wir uns nicht wehren, werden wir zu egozentrischen, duckmäuserischen und konsumorientierten Volldeppen erzogen. Dagegen braucht es eine Verweigerungshaltung, die auch Punk zum Ausdruck bringt. Wir brauchen für die Verwirklichung von Utopien aber auch zivilen Ungehorsam, Zivilcourage, Durchhaltevermögen, Selbstdisziplin und soziale Kompetenz. Wenn ich mich dauernd besaufen und nicht vor GWR-Drucklegung nächtelang durcharbeiten würde, dann könnte ich nicht jeden Monat zusammen mit anderen GenossInnen eine neue GWR produzieren. Alternativbetriebe funktionieren in den Nischen des Kapitalismus meistens nur, wenn Leute zur Selbstausbeutung neigen. Oft scheitern Projekte an äußeren Umständen, noch öfter vielleicht aber auch an internen Konflikten, an Egozentrismus, Alkoholismus und Drogenkonsum.

Welche ganz praktischen anarchistischen oder libertären Ansätze gibt es im Kleinen? Was kann jeder tun, womit kann jede beginnen?

Da gibt es viel. Als Anarchist versuchst du ja, auf der Arbeit, in der Schule, an der Uni, zu Hause, in deinem Alltag Emanzipatorisches umzusetzen. Gegenseitige Hilfe und freie Vereinbarung sind ja nicht nur anarchistische Prinzipien, sie spielen im Alltag zwischen den Menschen eine Rolle und können die Vereinzelung aufheben. Wir wollen den Kapitalismus überwinden und kämpfen für bessere Lebensverhältnisse für alle Menschen. Arbeitskämpfe, gelebte Nachbarschaft, Unterstützung der Geflüchteten und Organisierung von Demonstrationen und Aktionen gegen Rassismus, Militarismus, Kohlekraftwerke, Sozialkahlschlag und so weiter, das gehört alles dazu. Aber auch, dass du dich von unten mit anderen organisierst.

Und etwas größer oder weiter gedacht, welche Möglichkeiten gibt es, Menschen, die sich nicht kennen, für etwas zu gewinnen, um dies im anarchistischen oder libertärem Sinne umzusetzen?

Dafür reichen Bücher und eine anarchistische Zeitschrift wie die Graswurzelrevolution sicher nicht aus. Die beste Möglichkeit, Menschen auch mit anarchistischen Ideen zu erreichen, ist immer noch die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Und natürlich das gemeinsame Handeln, zum Beispiel in einem Streik oder beim gemeinsamen MieterInnenkampf gegen einen geplanten Abriss und gegen Gentrifizierung. Oder, wie die Scherben singen: „Wenn wir uns erst mal einig sind, dann weht, glaube ich, ein ganz anderer Wind.“