HEY RUIN

Foto© by Sebastian Igel

Mittdreißiger-Emokram

2014 war es, als sich das Quintett HEY RUIN aus Köln deutschsprachigem Emo, Punk und Hardcore (alles voll Neunziger) verschrieb. Jan (dr), Ernie (bs), Sebastian (gt, voc) und André (gt, voc) gründeten aus dem, was von den MNMNTS noch übrig war, HEY RUIN. Nach dem Debüt 2016 gab es im Oktober 2017 doppelten Zuwachs: mit „Poly“ erschien die zweite Platte auf This Charming Man und eine bärtige Visage mehr ziert nun das Bandporträt. Es bestand also Gesprächsbedarf.

Was ist seit „Irgendwas mit Dschungel“ bei HEY RUIN passiert? Euer Bandfoto zeigt ja auch ein neues Gesicht ...

André: Genau, er heißt Jens, spielt Gitarre und war immer mal als Aushilfe mit uns unterwegs. Fürs neue Album haben wir uns dann entschlossen, zu fünft weiterzumachen. Jens ist der beste Typ, den man sich vorstellen kann. Darüber hinaus bringt er den großen Vorteil mit sich, dass Seb sich live nun komplett aufs Singen konzentrieren kann. Das hat auf der Bühne dann noch mal eine ganz andere Dynamik.

Eure erste Platte hat sich ganz gut verkauft und ihr seid ja dann auch noch öfter auf Tour gewesen ...

André: Die Preorder-Version war tatsächlich innerhalb kürzester Zeit weg und mittlerweile ist die LP in den Läden komplett vergriffen, das haben wir so nicht erwartet, freuen uns aber natürlich sehr darüber. Die Touren waren allesamt cool. Es ist natürlich immer einfacher, mit einem aktuellen Release unterwegs zu sein. Daher sind wir auch froh, dass „Poly“ jetzt vor der Tür steht.

In der Musikpresse gab es zu eurem Debüt ja recht kontroverse Stimmen. Da fallen mir Verrisse im Visions und von Bierschinken ein – wie geht ihr damit um?

André: Zur „Dschungel“-LP gab es wahnsinnig viele nette Reviews, da fühlt man sich schon geschmeichelt. Aber auch die angesprochenen Verrisse waren irgendwie interessant. Dieses Visions-Review hat echt eine Menge Diskussionen um die Band angeregt, das war total spannend mitzukriegen. Ich persönlich finde das voll okay, wenn jemand unsere Musik nicht gut findet, ich finde selber so viel aktuelle Musik total scheiße, haha.

Seb: Klar, wir freuen uns schon mehr über gute Rezensionen als über Verrisse. Reviews liegen eben – zum Glück – außerhalb unserer Kontrolle und negatives Feedback gehört einfach dazu.

Ihr macht „stürmischen Emo/Punk“ auf Deutsch. Auf euren Stil scheint der übliche Hardcore/Emo/Punk-Stempel aber nicht zu passen ...

André: Ich sehe das mit den deutschen Texten nicht als Widerspruch zu einem Stempel, der vielleicht eher englischsprachiger Musik anhaftet. Aber interessant ist das schon: auch wenn wir musikalisch wahrscheinlich schon eher von amerikanischen Bands wie SMALL BROWN BIKE, VAN PELT oder eben diesem ganzen Neunziger-Emo/Punk-Kram beeinflusst sind, werden wir gern mit deutschsprachigen Bands verglichen, auch wenn es außer der deutschen Sprache gar nicht so viele Überschneidungen gibt. Aber so kamen dann halt auch coole Konzerte mit LOVE A, KMPFSPRT oder TURBOSTAAT zustande. Das sind dann in der Regel ja für unsere Verhältnisse größere Shows in Indie-Studi-Clubs, das beißt sich aber nicht damit, dass wir dann einen Abend später wieder in einem AZ spielen.

Im Oktober 2017 kam dann „Poly“, euer zweites Album. Erzählt mal!

Seb: Bei der neuen Platte wollten wir möglichst viel selber machen und haben dementsprechend viel falsch gemacht, hehe. Zum Glück hat Role von der Tonmeisterei in Oldenburg, der die Platte auch gemischt und gemastert hat, immer geduldig unsere Panikmails beantwortet. Die reinen Gitarren- und Basssignale haben wir zu Hause eingespielt, das Ganze dann per Reamping aufgenommen und dabei ein komplettes Wochenende lang Tag und Nacht durchgearbeitet. Drums und Gesang haben wir im Gotteswegstudio A in Köln aufgenommen, was insbesondere beim Gesang praktisch war. Was den Sound angeht, wollten wir bei „Poly“ – auch im Gegensatz zu „Irgendwas mit Dschungel“ – möglichst trocken und reduziert klingen. Da liegen oft fünf oder sechs Gitarrenspuren übereinander, dazu noch Synthie oder Klavier – man hört es aber nicht direkt. Das finde ich spannend. Außerdem haben wir mit „Poly“ ein Album geschrieben und nicht einzelne Songs zusammengestellt. Die Textstücke wurden tatsächlich erst ganz zum Schluss den Songs zugeordnet und angepasst.

... und warum „Poly“?

Seb: Das Leitmotiv des Albums ist dieses Janusgesicht unserer Zeit: Alles, was cool ist, kann gleichzeitig scheiße sein. Meinungsvielfalt ist unglaublich wichtig und bereichernd, kann aber auch gefährlich werden, wenn Reichsbürger Fakten durch eigene Wahrheiten ersetzen. Das zieht sich sowohl textlich als auch musikalisch durchs gesamte Album.

Bei „Magneto“ erinnern die ersten Versen an Goethes „Faust“. Worum geht’s dabei?

André: Rastlos sein, sich in Widersprüche verstricken, an Altem festhalten, ohne es eigentlich zu wollen ... Mittdreißiger-Emokram eben.

Jan: Und Systemkritik: Als fünf Typen, die mehr oder weniger geregelten Arbeitsverhältnissen nachgehen, sehen wir uns ständig mit den krassen Gegensätzen aus neuen, geilen Reformen, Investitionsstau und Personalabbau konfrontiert – ich bin im Bildungswesen tätig, da beobachte ich das ständig. Einfach immer weitermachen? Der Menschen als Homo oeconomicus sowie die Zweifel an einem zu stark ausgeprägten Leistungsgedanken sind wesentlicher Bestandteil des Textes.

In „Ram“ werdet ihr ziemlich direkt. „Die Wüste bleibt“, schlussfolgert ihr und resümiert: „Für mich ist das Mord“. Was waren eure Gedanken bei dem Song?

Seb: In dem Song wird – wenig kryptisch – die sogenannte „Flüchtlingskrise“ thematisiert. Gerade die europäischen Länder spielen sich ja gerne als Erfinder von Solidarität und Gerechtigkeit auf, aber in den letzten Jahren setzt sich zunehmend Protektionismus durch. Natürlich gibt es auch vor der eigenen Haustür Probleme, aber die Welt kann eben im wahrsten Sinne des Wortes nur global betrachtet werden. Der Krieg in Syrien zum Beispiel ist ja längst kein regionaler Konflikt mehr. Und noch immer scheitert Europa daran, eine gut organisierte und solidarische Hilfspolitik auf die Beine zu stellen. Jeder im Mittelmeer ertrunkene Mensch ist ein Opfer dieser Politik, daher auch das „Für mich ist das Mord“. Zu dem „Die Wüste bleibt“: Hilfslieferungen und Sachspenden sind natürlich sauwichtig, aber leider auch nur Tropfen auf den heißen Stein, wenn die negativen Auswirkungen von Neoliberalismus und Globalisierung bestehen bleiben.

André: Darüber hinaus ist es natürlich total wichtig, auch einfach mal „nur“ Stellung zu beziehen. Die Angst, dass eigene Probleme durch neue Herausforderungen in dieser Gesellschaft in den Hintergrund geraten könnten, macht mich total wütend.

Verschiedene Perspektiven einnehmen, was heißt das für euch als Musiker?

André: Vor allem beim Schreiben einer neuen Platte total wichtig, um sich nicht gegenseitig an die Kehle zu gehen.

Seb: In der Theorie eine klare Sache, in der Praxis manchmal richtig hart. Das merken wir ja auf jeder Probe oder sobald einfach zwei Menschen aufeinandertreffen. Im Bandkontext und auch anderswo hat sich gezeigt: Die Summe der einzelnen Teile ist immer besser als jedes Teil für sich.

Gedanken zur Bundestagswahl, aus Post-„Poly“-Perspektive?

André: Tja, wir haben jetzt wieder Nazis im Bundestag, so viel „poly“ wäre dann doch nicht nötig gewesen ...

Seb: Ich bin in den letzten Jahren wirklich total kulturpessimistisch geworden. Viele Menschen haben einfach verdammt komische Einstellungen und schneiden dann bei Parlamentswahlen gut ab – wenn zum Beispiel Herr Gauland von „der Leistung“ der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg schwärmt. Da weiß ich ehrlich gesagt nicht, warum so jemand im Bundestag sitzt.

Jan: Die Positionen sind ja leider auch nicht neu ... Da verweise ich aber gerne wieder auf das System: Unser entfesselter Kapitalismus hat seine faschistoiden Züge von ganz allein heraufbeschworen. Das fängt bei wirtschaftlicher Ausbeutung Schwächerer an und durchzieht im Grunde die ganze Welt. Wenn wir alle in Konkurrenz zueinander stehen, gibt es nur mich und die, die mir persönlich nahestehen – und eben „die anderen“. Sexismus, Rassismus und Homophobie sind Pickel am Arsch des Kapitalismus, die zwar regelmäßig ausgedrückt werden, aber irgendwo wieder nachwachsen. Und selbst die Linke trägt dieses System unfreiwillig mit.

Seb: Und wir selbst tragen das alle auch mit. Wir nutzen Smartphones und MacBooks, um über soziale Medien und unsere Band systemkritische Botschaften zu verbreiten.