Refuse Records

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Noch ist Polen nicht verloren

Polen hat eine sehr alte und aktive Punk- und Hardcore-Szene, das Land war auch vor dem Ende der kommunistischen Diktatur etwas offener und Subkulturen gegenüber partiell etwas weniger repressiv als beispielsweise die DDR. Wie in Jugoslawien oder Ungarn konnte sich eine vielfältige Szene etablieren, die nach der Wende 1989 stark aufblühte. Teil dieser Szene ist seit den frühen Neunzigern auch Refuse Records aus Warschau, hinter dem Robert Matusiak steckt, der heute in Berlin lebt. Aus einem „normalen“ Interview wurde dann eines über die gesellschaftliche Situation in Polen, die geprägt ist von einem starken konservativen Backlash. Zudem gibt uns Robert einen Überblick über die polnische Punk-Geschichte.

Robert, bitte stell dich vor.


Ich komme aus Warschau, wohne aber seit ein paar Jahren in Berlin. Ich mache das Label und den Mailorder Refuse Records und bin noch Mitbetreiber von Warsaw Pact Records. Außerdem bin ich am Booking von Shows in Berlin und Warschau und von Tourneen für die Bands meines Labels oder meiner Lieblingsbands beteiligt.

Wann und wo hast du mit deinem Label und deinem Vertrieb begonnen, was für eine Idee steckt dahinter, was für ein Konzept?

Es begann 1993 in Warschau, zunächst mit einem Vertrieb und einem Fanzine. Ein Jahr später ging es los mit den ersten Tape-Veröffentlichungen, die im Januar 1996 erschienen. Die erste CD-Veröffentlichung bei Refuse Records erfolgte 1998. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Polen viele D.I.Y.-Tape- und Plattenlabels, die sich hauptsächlich auf Punk oder Crust konzentrierten. Aber es gab keine Labels, die Hardcore- oder Straight-Edge-Bands veröffentlichten. Auch wenn ich mich grundsätzlich für verschiedene Arten von Hardcore/Punk interessiere, ich wollte bei meinem Label den Fokus stärker auf Bands mit einer sozialkritischen oder politischen Botschaft legen. Die meisten Bands, die ich veröffentliche, kommen aus der Straight-Edge-Szene. Darunter sind aber auch etliche, bei denen nur ein paar Mitglieder straight edge sind. Es gibt auch einige Ausnahmen von dieser Regel, etwa bei alten Bands wie TZN XENNA oder THE CORPSE, von denen ich unbedingt etwas herausbringen wollte. Zur gleichen Zeit begann ich mit dem Vertrieb von weiteren Bands oder Fanzines, die ich für interessant hielt, unabhängig von ihrem Stil. Das Gleiche gilt auch für das Buchen von Shows. Warsaw Pact Records hingegen ist ein Label mit einem genauer definierten Konzept, das ich mit zusammen meinen Freunden Pepus und Jarek aus Warschau mache. Wir veröffentlichen ausschließlich Sachen von polnischen Bands aus den Achtziger Jahren. Viele von ihnen hatten im kommunistischen Polen keine oder nur sehr geringe Chancen, ein Album zu veröffentlichen. Die erste Veröffentlichung auf WPR war eine 7“ von MOSKWA und kam 2011 heraus.

Du lebst ja schon eine Weile in Berlin, aber wenn ich mir deine Veröffentlichungen und den Mailorder so anschaue, bist du immer noch eng mit der polnischen Punk- und Hardcore-Szene verbunden.

Definitiv. Berlin und Warschau sind nur fünf, sechs Stunden voneinander entfernt. Ich bin oft in Warschau. Seit ich nach Berlin gezogen bin, habe ich etliche Konzerte in Warschau, einige Festivals und viele Touren unter anderem auch nach Polen organisiert. Meine Familie lebt dort, viele Freunde. Und es gibt immer noch ein paar großartige Bands, mit denen ich gerne zusammenarbeite. Oder mit denen ich aufgewachsen bin und die ich seitdem höre. Und jetzt freue ich mich, die Möglichkeit zu haben, ihre alten Aufnahmen wieder auf den Markt zu bringen. Und die Adresse von meinen Postfach in Warschau ist immer noch gültig!

Kannst du uns einen Überblick über die polnische Szene seit den Achtziger Jahren geben und wie sie sich seit dem Ende des kommunistischen Regimes entwickelt hat? Ich weiß, diese Antwort könnte den Umfang eines Buches haben, aber vielleicht gibt es ja eine Kurzversion ...

Es gab eine Zeit, in der sich viele großartige Bands aus den frühen und mittleren Achtziger Jahren trennten, eine Pause einlegten oder ihren Sound radikal änderten und versuchten, dadurch kommerziellen Erfolg zu haben. Gleichzeitig begann die jüngere Generation, sich mehr für den Untergrund zu interessieren, und das ganze D.I.Y.-Netzwerk erlebte die Entstehung einer unglaublichen Anzahl von Bands, Zines und kleinen Tapelabels. Viele tauschten ihre Tapes und begannen sich auf nationaler und internationaler Ebene zu vernetzen. Bands wie THE CORPSE, H.C.P., APATIA, ID, U.O.M., INKWIZYCJA, SCHIZMA, AHIMSA, NADZOR, TRYBUNA BRUDU, OD JUTRA oder S.K.T.C., Zines und Labels wie Qqryq, Antena Krzyku, Nikt Nic Nie Wie und viele andere brachten Hardcore in Polen auf ein neues Level. Es ging um Selbstorganisation, den Aufbau eines Netzwerkes und einer eigenen Szene. Etwas, das vorher sehr schwierig war. 1991 erschien die erste D.I.Y.-Vinyl-Veröffentlichung auf Nikt Nic Nie Wie Records – die Debüt-LP von INKWIZYCJA.

Das war sicher eine turbulente Zeit.

Damals begann definitiv ein neues Kapitel. Der alte Feind, das kommunistische Regime, schien verschwunden, aber während des Übergangsprozesses traten neue Probleme auf: die wachsende rechtsextreme/nationalistische Bewegung, Gewalt, ein starker Einfluss der katholischen Kirche, wirtschaftliche Schwierigkeiten. Das alles wurde auch in den Songtexten oder in Fanzine-Artikeln thematisiert. Die Auseinandersetzungen mit nationalistischen Skinheads wurden militanter, bis sie schließlich bei allen Konzerten rausgeschmissen und auch für viele Jahre von der Straße vertrieben worden waren. Anarchismus, Umweltfragen und Tierrechte wurden immer populärer. In den Neunzigern erlebte die Hardcore/Punk-Szene in Polen einen Aufschwung und es entstanden Bands wie POST REGIMENT, HOMOMILITIA, CYMEON X, SANCTUS IUDA, AMEN, LA AFERRA, GUERNICA Y LUNO, ZLODZIEJE ROWERÓW. Es schien, als gäbe es in jeder Kleinstadt ein eigenes Zine oder Leute, die Konzerte veranstalten. Zu diesem Zeitpunkt war es eine unglaublich lebendige Szene. Einige der Bands tourten erfolgreich durch ganz Europa. Die Leute engagierten sich auch für Themen über die Musik hinaus, Feminismus und die Rechte von Frauen und LGBT-Personen wurden breit diskutiert. Dank Kollektiven wie Emancypunx und Bands wie POST REGIMENT, HOMOMILITIA, PIEKLO KOBIET oder SILNA WOLA begannen viele Frauen, selbst Bands zu gründen oder sich in anderen Bereichen der Szene einzubringen. Es gab einen Bedarf für Alternativen abseits der größeren Konzerthallen oder der Jugendzentren mit ihren muskelbepackten, martialisch wirkenden Türstehern. So entstanden etwa Mitte der Neunziger Jahre die ersten Squats oder D.I.Y.-Freiräume. Auch immer mehr ausländische Bands gingen in Polen auf Tour. Wir fühlten uns nun wirklich als Teil der europäischen Szene, die Zeit der Isolation war vorüber.

Am 1. Mai 2004 wurde Polen Mitglied der Europäischen Union. Was änderte sich?

Mit dem Eintritt Polens in die EU wurde vieles einfacher. Es gab keine Grenzen mehr und damit auch nicht mehr das Risiko, dass Waren- oder Schallplatten-Lieferungen durchsucht oder gar beschlagnahmt wurden. Das Internet vereinfachte die Werbung für Konzerte, Bands oder Veröffentlichungen. Außerdem wurde es leichter, abweichende Meinungen und Kritik an der Politik oder am vorherrschenden Musikgeschmack zu verbreiten. Etwa ab dem Jahr 2000 begann sich die Szene langsam aufzuspalten und einige Gruppen gingen ihrer eigenen Wege. Im Laufe der folgenden Jahre erlebten wir dann den Niedergang des Tape- und CD-Formats und eine langsame Rückkehr der Schallplatte. Bands konnten sich leichter organisieren und besser klingen, durch den vereinfachten Zugang zu Aufnahmetechnik, Equipment, der Möglichkeit zu Touren. BIALA GORACZKA, SUNRISE, REGRES, EL BANDA, GOVERNMENT FLU oder EYE FOR AN EYE waren wichtige Bands dieser Dekade. Im selben Zeitraum reformierten sich viele alte Bands aus den Achtziger Jahren. Aktuell ist die Szene immer noch stark, aber es wäre gut, wenn sich mehr jüngere Leute beteiligen würden. Aber das trifft wohl auf die Szene in den meisten europäischen Ländern zu.

Wie bist du zum Punk und Hardcore gekommen und welche Bands waren dir wichtig?

Schon seit frühester Kindheit war ich von Musik total besessen. Ich hörte im Radio alles, was mit Musik zu tun hatte, und verfolgte, was im Musikbereich los war. So entdeckte ich auch Punkrock. Aber es hat noch eine Weile gedauert, bis der Virus mich vollständig infizierte. Meine ältere Schwester brachte Tapes mit nach Hause und schon bald waren ihre Punkerfreunde regelmäßige Besucher auf den Partys. So lernte ich sie kennen und freundete mich mit einigen von ihnen an, so dass ich einen besseren Zugang zu ihren Punkmusik-Sammlungen bekam. Inzwischen hatte ich angefangen, selbst Tapes zu kaufen, und dieses DEZERTER-Tape hat mir einfach den Kopf verdreht und meine Sichtweise und Denkweise für immer geändert. Im Alltag war es normal, dass es eine starke Trennung zwischen den Generationen gab und es sogar schwierig war, mit Typen rumzuhängen, die nur vier oder fünf Jahre älter waren. Aber ich beobachtete, dass sich Punx nicht darum scherten, und alle meine älteren Freunde unterstützten die jüngeren Kids wie mich. Es war dasselbe, als ich später für das Label Qqryq arbeitete. Alle haben mich sehr unterstützt und ich hatte so die Chance, viele Dinge zu lernen, etwa wie ein Label funktioniert oder wie man Konzerte organisiert. Später habe ich dann entdeckt, dass es auch ein komplettes Hardcore-Punk-D.I.Y. Netzwerk mit Bands, Zines und Tapetrading gibt. Es war wie die Entdeckung einer völlig neuen Welt, es war faszinierend. Was die wichtigen Bands angeht ... natürlich waren viele Achtziger-Jahre-Klassiker aus Polen sehr wichtig, nicht nur wegen der Sprache und dem besseren Verständnis der Texte, sondern auch wegen der gleichen Erfahrung, da sie in der gleichen politischen und kulturellen Realität aufgewachsen sind, und weil sie absolut großartig waren. Bands wie DEZERTER, ABADDON, TZN XENNA, MOSKWA, KARCER, SIEKIERA, DEUTER, BRYGADA KRYZYS, um nur einige zu nennen, waren für mein Aufwachsen als Punkkid ausschlaggebend. Ausländische Bands wie SEX PISTOLS, THE CLASH oder GBH waren sehr wichtig, als ich anfing, Punkrock zu hören, aber dann hatten Bands wie CRASS, CONFLICT, DEAD KENNEDYS und MINOR THREAT den größeren Einfluss auf mich.

Wie ist die polnische Szene generell? Ist sie genauso zersplittert und in Subszenen unterteilt wie die deutsche?

Es ist schwierig, die Szene in Polen und die in Deutschland zu vergleichen. Die deutsche Szene ist viel größer, besser organisiert und mit einer unglaublichen Infrastruktur an Locations, Plattenlabels, Distros und Showveranstaltern oder Booking-Agenturen ausgestattet. Dies ist eine der größten, wenn nicht die größte Szene in Europa. Es gibt viele kleine D.I.Y.-Läden, viele Punk- und Hardcore-freundliche linke Jugendzentren und größere Veranstaltungsorte, die größere Punk- oder Hardcore-Shows veranstalten. Sie ist definitiv vielfältiger als die polnische Szene. Für jedes Hardcore-Punk-Genre gibt es immer ein Publikum oder einen Ort, um aufzutreten. Jede Band, die durch Europa tourt, will nicht nur deswegen in Deutschland spielen, weil es mitten in Europa liegt, sondern weil es eine solche Szenestruktur gibt. Es bedeutet auch, dass fast jede beliebige Band auf ihrer Tour hier spielen wird, so dass die Menge an Shows und Punkrock einen langsam beinahe überwältigt. In Berlin kann man jeden Tag auf ein Konzert gehen, manchmal sind es auch mehrere am Tag. Es ist schwer, alles wahrzunehmen, sogar nahezu unmöglich. Die Leute werden ziemlich wählerisch, welche Band sie sehen oder welche Location sie besuchen wollen. Seitdem ich hierhergezogen bin, habe ich auch angefangen, mir selbst Grenzen zu setzen, was ich sehen möchte oder wie viele Shows pro Woche ich maximal besuchen kann. Dieses Überangebot macht die Menschen müde oder sorgt vielleicht auch dafür, dass sie nicht voll und ganz zu schätzen wissen, dass das Engagement anderer für das Schaffen von Räumen für die Punk- und Hardcore-Kultur diese so aktiv und lebendig machen. Diese Vielfalt bedingt also eine natürliche Abgrenzung, und sie ist hier deutlich sichtbarer als in Polen. Ein anderer Grund ist, dass sich vielleicht Menschen als Teil einer solchen aktiven Szene nur für ein Subgenre, eine gewisse Mode oder eine bestimmte Art von Veranstaltungsorten interessieren.

Ist das in Polen auch so?

Ja, das beobachte ich auch in Polen, aber in Deutschland ist es viel präsenter. Natürlich gibt es auch eine Spaltung durch politische Diskussionen, Konflikte etc. Das kann auch in Polen passieren, aber ich würde sagen, dass dies meistens auf persönliche Probleme zwischen den Menschen zurückzuführen ist. In Deutschland sind es mehr politische Gründe, die zu Aufspaltungen in der Szene führen. Als ich nach Deutschland kam, war ich immer wieder beeindruckt, wie die Szene hier organisiert ist, und wie Antirassismus, Antifaschismus oder progressive radikale Politik integraler Bestandteil der gesamten Szenenstruktur sind, und wie eng sie mit der politischen Autonomenszene verbunden ist. Aber um auf die Szene in Polen zurückzukommen. Sie ist nicht mehr so riesig wie in den Achtziger oder Neunziger Jahren, aber sie ist immer noch stark, mit vielen engagierten Leuten. Es gibt für Bands viele Möglichkeiten in ganz Polen aufzutreten, nicht nur in den größten Städten. Es wird jedoch zunehmend schwieriger, eine Show zu buchen oder eine lokale Band zu finden, die in kleineren Städten auftritt. Viele Leute sind in die Großstädte gegangen und es kommen nicht so viele Jüngere nach, die ihren Platz einnehmen würden. Aber es gibt viele aktive Bands in den verschiedensten Genres, etwa INKWIZYCJA, CYMEON X, GOVERNMENT FLU, EL BANDA, ANTIDOTUM, WLOCHATY, CASTET, CALM THE FIRE, WIEZE FABRYK, THE DOG, HEATSEEKER, MORUS, VICIOUSxREALITY, BRIGHT LIGHT, SUICIDEBYCOP, um nur einige zu nennen. Es gibt auch noch einige klassische Achtziger-Jahre-Bands, die immer noch gut sind wie DEZERTER, MOSKWA, TZN XENNA oder KARCER. Und es existiert eine ganze Reihe von Plattenlabels, einige Zines wie Pasazer oder Chaos w mojej gowie oder Wygraa Nowezycie, Konzertveranstalter und einige gute Festivals wie das Ultra Chaos Piknik, das DIY HC Punk Fest, das Nacjonalizm Nie Dziekuje Fest, das Ferment Fest, das Nacjonalizm Nie Dziekujekuje Fest und einige mehr.

Obwohl es sich bei Polen um einen direkten Nachbar von Deutschland handelt, es von Berlin näher nach Stettin als nach Hamburg oder Hannover ist, scheint es in dieser Hinsicht nicht viel Austausch zwischen den beiden Ländern zu geben. Berlin mag eine Ausnahme sein, doch insgesamt sind hier jede Menge US-Bands auf Tour, aber ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine polnische Band gesehen habe. Warum ist das so?

Polnische Bands kommen regelmäßig nach Deutschland, aber sie spielen meist kleine Kellershows. Es ist nicht wirklich üblich, Bands aus Polen auf irgendeinem Festival in Deutschland zu sehen. Berlin kann manchmal eine Ausnahme sein. Viele Bands aus Deutschland besuchen und spielen in Polen. Es gibt immer Bands aus Deutschland im Line-up großer Festivals. Die deutsche Szene scheint doch sehr US-orientiert zu sein und Hardcore-Fans und Punks sind sehr auf alte oder neue US-Bands fokussiert. Natürlich gibt es immer viele großartige Bands, die interessant sind, und da es so viele Shows gibt, wollen sich die Leute lieber die größeren Namen oder Bands aus ihrer bevorzugten Subszene ansehen. Kleinere D.I.Y.-Veranstalter sind normalerweise offener für Bands aus Polen oder anderen Ländern Mittel- und Osteuropas, aber auch hier verlieren solche Bands, wenn zur selben Zeit coole US- oder UK-Bands auf Tournee sind. Für größere Locations ist es einfach finanziell zu riskant. Außerdem ist die polnische Punk-Community in Deutschland nicht so groß wie etwa in Großbritannien, wo es häufig vorkommt, dass das Konzert einer polnischen Band gut besucht ist. Selbst in Berlin sind Auftritte polnischer Kultbands selten ausverkauft, denn es gibt nicht mehr so viele polnische Punx, die hier leben, vor allem nicht solche, die zu Konzerten gehen. Auch wenn es in Berlin eine große polnische Gemeinde gibt, gibt es eher weniger Veranstaltungen mit Musik aus Polen, egal welcher Art. Es gibt offenbar nicht so viel Bedarf an polnischer Musik, Kultur oder Sprache wie in Großbritannien, weil eben Polen nur eine Autostunde von Berlin entfernt ist. Natürlich würde ich mir einen größeren kulturellen Austausch zwischen der Szene in Deutschland und Polen wünschen. Gerade jetzt wäre es wichtig, da die rechten Politiker wieder versuchen, die Bevölkerung zu spalten. Wir stehen schließlich über dieser nationalistischen Rhetorik, also sollten wir versuchen, es besser zu machen und unsere Szenen integrativer und offener gestalten.

Da sprichst du ein wichtiges Thema an. In letzter Zeit gibt es beunruhigende Nachrichten über die politische Lage in Polen mit der Regierungsmehrheit der PiS-Partei und Jaroslaw Kaczynski, der im Hintergrund die Fäden zieht. Wie schlimm ist es?

Es ist schlimm und es wird immer schlimmer. Schritt für Schritt verwandelt die derzeitige Regierung Polen in einen autoritären, nicht-demokratischen Staat. Ich habe den Eindruck, dass die meisten Menschen in Deutschland keine Ahnung haben, was hinter ihrer Ostgrenze wirklich vor sich geht. Aber ich muss chronologisch vorgehen, um die Situation zu erklären. Die derzeit führende politische Partei „Recht und Gerechtigkeit“, kurz PiS, war bereits von 2005 bis 2007 an der Macht, als die Zwillingsbrüder Lech und Jaroslaw Kaczynski Präsident und Ministerpräsident waren. In dieser Phase konnten sie nicht viele Erfolge verzeichnen und Premierminister Jaroslaw Kaczynski unterzeichnete nach zwei Jahren den Rücktritt der Regierung. Für die nächsten Jahre war die zentral-liberale PO, eine Bürgerplattform, wieder an der Macht. In Folgezeit gab es mehrere Korruptionsskandale und problematische Entwicklungen wie etwa die Privatisierung und es wurde deutlich, dass starke Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik existierten. Das wurde zur Munition für die Kritiker von rechts. Der Wendepunkt kam dann mit dem Unfalltod des Präsidenten Lech Kaczynski und seiner Frau, zusammen mit 94 weiteren wichtigen Persönlichkeiten des polnischen Parlaments und der polnischen Armee, und zwar aus dem ganzen politischen Spektrum. Es war eine Delegation, die sich auf dem Weg zu Feierlichkeiten anlässlich des Massakers von Katyn befand, als ihr Flugzeug in Smolensk, Russland abstürzte. Das Massaker von Katyn, bei dem im Jahr 1940 über 22.000 polnische Soldaten inklusive Generäle und Offiziere vom NKWD, dem Innenministerium der UdSSR, ermordet wurden, ist für die polnische Gesellschaft von großer Bedeutung und die Diskussion ist emotional sehr aufgeladen – nicht nur, weil es ein so tragisches Ereignis war, sondern auch, weil die Sowjetunion nie wirklich die Verantwortung für dieses Massaker übernommen hatte und man stattdessen offiziell erklärte, es sei ein Verbrechen der Gestapo gewesen. So waren Ort und Kontext dieses Unglücks in Smolensk wie geschaffen für die Entstehung vieler Verschwörungstheorien, etwa dass die russische Regierung Hand in Hand mit dem polnischen Premierminister Tusk die Ermordung des polnischen Präsidenten organisiert hätte. Die Situation wurde durch die anti-russische Stimmung in der polnischen Gesellschaft und die allgemeine Kritik an der zentral/liberalen Partei aufgeheizt. In der Folgezeit wurde um diesen Unfall eine Art Kult aufgebaut mit monatlichen religiösen Veranstaltungen, der Errichtung von Denkmälern in ganz Polen und so weiter. Die Verknüpfung von Politik und Religion mit diesem tiefen emotionalen nationalen Trauma war ein guter Weg, um sich die absolute Macht zu sichern.

Wie ging es weiter, wie muss man sich diese Verbindung von Politik und Religion vorstellen?

Die PiS-Partei ist eng mit Radio Maryja verbunden, einem ultra-konservativen katholischen Radiosender mit mafiöser Struktur, der wie ein Konzern mit vielen Unternehmen kooperiert. Diese Zusammenarbeit war eine gute Grundlage für den Aufbau dieser „Smolensk-Sekte“, wobei tragische Ereignisse als Waffe gegen ihre Gegner eingesetzt werden. Gleichzeitig entwickelten rechtsradikale Parteien, Organisationen, Publizisten mit großer Unterstützung der katholischen Kirche erfolgreich neue antiliberale Strategien. Das alles ist mit einem starken nationalistischen, völkischen Begriff der Nation verbunden, der für sich das Recht beansprucht zu entscheiden, wer diesem nationalistischen Ideal entspricht, auf der Grundlage von ethnischer Herkunft, Religion und politischer Agenda. Diese Verschiebung nach rechts, oder in vielen Fällen rechtsextrem, ist weit mehr als nur ein politischer Wechsel. Es ist ein tiefgreifende Wandel mit der stärksten ideologischen Unterfütterung seit der Installation des kommunistischen Apparats gleich nach dem Zweiten Weltkrieg. Und es ist weit mehr als nur der Versuch einer politischen Partei, Wahlen zu gewinnen. All das, dazu das Versprechen sozialer Wohltaten und die Enttäuschung durch die zentral-liberalen Kräfte der PO sorgten dafür, dass PiS-Kandidat Andrzej Duda zum Präsidenten gewählt wurde und die PiS schließlich bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit gewann. Die Wahlen fanden kurz nach der „Flüchtlingskrise“ in Südeuropa statt, und die Anti-Immigranten-Propaganda mit der Drohkulisse von Terroranschlägen spielte eine große Rolle in den Wahlprogrammen. Die PiS teilt sich die Macht mit der Kukiz 15-Bewegung und einigen offen nationalistischen, rechtsextremen Parlamentsabgeordneten. Wirklich traurig ist, dass der Gründer von Kukiz 15 in den Achtzigern Sänger in einer Punkband namens PIERSI war. Im jetzigen Parlament gibt es keinen einzigen Politiker der Linken mehr. Die Situation, die wir in Polen jetzt haben, ist, dass die PiS jetzt Gesetze erlassen kann, wie sie nur will, da sie die absolute Macht haben. Jaroslaw Kaczynski ist als Parteiführer der PiS derjenige, der alle Fäden in der Hand hält. Aber er ist weder Präsident noch Premierminister, so dass er sich in der bequemen Position befindet, im Zentrum der Macht und gleichzeitig hinter den Kulissen zu stehen. Ich würde sagen, dass dies ein kluger Schachzug für eine neue Art von autoritärer und absolut nicht transparenter Machtausübung ist. Bisher stand an der Front immer ein starker autoritärer Führer – aber das hier ist anders.

Wie meinst du das, „das hier ist anders“?

Es begann mit Änderungen beim Verfassungsgerichtshof, und es war klar, dass die führende Partei versuchte, die Kontrolle über die Rechtsprechung und das Verfassungssystem in Polen zu erlangen, um es so zu einem zentralistischen, regierungskontrollierten und nicht-demokratischen System umzubauen. Es gibt also keine wirklich unabhängige Institution mehr, die die Regierung kontrolliert und dafür sorgt, dass ihre Gesetze verfassungskonform sind. Der nächste Schritt in diese Richtung ist der Versuch des Justizministers Zbigniew Ziobro, die absolute Kontrolle über die Richter zu erlangen. Diese so genannte Justizreform versetzte die Menschen, die an einen demokratischen Staat glauben und den Rechtsstaat respektieren, in Alarmbereitschaft. Im Sommer 2016 kam es in vielen polnischen Städten zu großen Demonstrationen, bei denen Menschen gegen diese Reform protestierten. Diese Versuche, die Reform des Verfassungsgerichtshofs und die Justiz zu kontrollieren, führten zu einer Reaktion der EU, die darin eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit sieht, die in der Europäischen Union nicht akzeptabel ist. Im Moment gibt es eine ernsthafte Auseinandersetzung darüber, die EU droht Polen mit dem Verlust der Stimmrechte als EU-Mitgliedstaat, da das Gesetz gegen ihre demokratischen Standards verstößt.

Gibt es in dieser Hinsicht noch weitere Konflikte mit der EU?

Ein weiterer Konfliktpunkt mit der EU ist der illegale Holzeinschlag im Bialowieza-Nationalpark. Das ist ein uraltes Waldgebiet, Europas letzter Urwald und Teil des Unesco-Kulturerbes. Die Entwaldung und Dezimierung des Waldbestandes führten zu täglichen Protesten von Umweltschützern, aber auch zu einer Reaktion der Europäischen Kommission, die Polen mit hohen Strafen drohte, wenn der Holzeinschlag nicht gestoppt wird. Polens Umweltminister Jan Szyszko ignoriert und verspottet in seiner Arroganz diesen Protest und versucht nicht, die Umweltzerstörung zu stoppen. Jan Szyszko ist selbst Jäger, und die Leute um ihn herum bekommen grünes Licht, um an vielen Stellen in Polen die Grenzen für die Jagd und den Holzeinschlag zu überschreiten. Der Wald nimmt 30% des Landes in Polen ein, und der Holzhandel ist einer der profitabelsten Wirtschaftszweige in Polen. Es gibt viel Geld zu verdienen für diese Leute, die Umweltschützer in der Öffentlichkeit als Satanisten bezeichnen und Ökologie als eine terroristische Ideologie.

Konfliktpotential hat auch die Diskussionen um Quoten für die Aufnahme von Geflüchteten.

Die vorhergehende Regierung hatte eingewilligt, 6.200 Geflüchtete aufzunehmen. Nach den Wahlen wiesen Ministerpräsidentin Beata Szydlo und Jaroslaw Kaczynski diese Vereinbarung offen zurück und erklärten, dass Polen keinen einzigen Geflüchteten aufnehmen werde. Dies wurde mit der üblichen Rhetorik über nationale Sicherheit, kulturelle und religiöse Unterschiede serviert. In Polen entstand nach dem Zweiten Weltkrieg eine sehr homogene, monokulturelle Gesellschaft. Und so ist es leicht, die Öffentlichkeit mit der „Bösartigkeit“ des im Westen verbreiteten „Multikulti“-Konzepts zu manipulieren, da die meisten Menschen keine Erfahrungen mit anderen Kulturen, Ethnien und Religionen gemacht haben. Kaczyñski ging sogar so weit zu sagen, dass Immigranten „alle möglichen Parasiten, die hier gefährlich sein könnten“, einschleppen würden. Jeder Terrorakt oder jede Begebenheit in Westeuropa wird von dieser Propaganda benutzt, und wir sind an einem Punkt, wo ein großer Teil der polnischen Gesellschaft gegen Migranten ist, vor allem aus dem Nahen Osten und Afrika. Für ein Land mit einer der größten Auswanderungsquote der letzten Jahrhunderte aufgrund der Kriege oder wirtschaftlicher Probleme ist das ein absoluter Widerspruch. Die EU versucht, Länder wie Polen und Ungarn unter Druck zu setzen, endlich mit der Aufnahme von Asylbewerbern zu beginnen. Das führt natürlich zu einer noch stärkeren anti-europäischen Rhetorik mit einem stark nationalistischen und offen rassistischen Diskurs. Die politische Rhetorik der Rechten in Polen ist aber auch ein Angriff auf Frauenrechte, Bildung oder Geschichte. In den letzten Monaten hat die polnische Regierung versucht, ein vollständiges Abtreibungsverbot durchzusetzen. Sie musste das wegen der größten Proteste seit der Solidarność-Bewegung Anfang der Achtziger Jahre für eine Weile aussetzen. Die Proteste wurden von Frauenorganisationen angeführt. Diese meist neuen, kaum etablierten Gruppen, die unter dem Einfluss der gegenwärtigen Regierung politisiert wurden, organisierten einen unglaublichen „Zarenprotest“, auch „Schwarzer Protest“ genannt. Danach gab es noch viele weitere Proteste für die Frauenrechte, dazu kamen etliche Solidaritätsbekundungen aus dem Ausland. Es ist auch noch eine Bildungsreform geplant. Das ging im September 2017 damit los, dass viele Lehrer entlassen werden. Diese neue Reform schafft ein ähnliches System, wie es in kommunistischen Zeiten in Polen üblich war. Patriotismus, Religion und dergleichen sollen wieder mehr im Mittelpunkt stehen.

Welche Rolle spielt in der Ideologie der PiS die Geschichte Polens?

Eine große Rolle. Polen hat eine sehr komplexe und blutige Historie. Die jüngste Vergangenheit wurde durch den Zweiten Weltkrieg und die sich daran anschließende 45 Jahre währende sowjetische Herrschaft bestimmt. Kein Land wurde im Zweiten Weltkrieg so in Mitleidenschaft gezogen wie Polen. Kein anderes Land hatte so hohe zivile Verluste zu beklagen. Auch wenn die polnischen Truppen im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle bei der Befreiung vieler westeuropäischer Länder spielten, wurde Polen von westlichen Alliierten der Kontrolle und Herrschaft der Sowjetunion überlassen. Es gibt ein so großes nationales Trauma und auch Misstrauen den westlichen Ländern sowie Russland gegenüber, dass es sehr einfach ist, diese Gefühle zu instrumentalisieren. Es gibt viel Interessantes in der Geschichte, aber wenn sie für aktuelle politische Zwecke verwendet wird, wird es hässlich. So geschehen mit der Feier anlässlich des Warschauer Aufstandes von 1944 – dem größten Akt des Widerstandes während des Zweiten Weltkrieges in Europa, ein für die Geschichte der Stadt und des ganzen Landes wichtiges und tragisches Ereignis, bei dem mehr als 150.000 Menschen, vor allem Zivilisten, getötet und 90% der Stadt zerstört wurden. Seit Kriegsende wurde der Jahrestag in Warschau gefeiert, aber die PiS hob das Gedenken auf ein anderes Level, mit viel größeren Feiern, einer Museumseröffnung etc. – bis zu dem Punkt, an dem es zu einer Art popkulturellen Zirkus mit Andenkenverkauf verkam. Unzählige Publikationen, Filme, Artikel oder sogar Lieder und Platten sind zu diesem Thema erschienen. Es war viel Geld im Spiel. Jüngere Generationen erhielten dadurch eine starke Lektion in Patriotismus.

Wurde das alles kritiklos hingenommen?

Es erhoben viele Veteranen des Aufstands Einspruch gegen die politische Linie der Partei und gegen den Missbrauch ihrer Symbole für aktuelle politische Absichten. Ihre Reden wurden daher nicht oft für die nationalistische Rhetorik verwendet. Ein inzwischen hundertjähriger Veteran des Warschauer Aufstands, General Scibor-Rylski, sagte am letzten Jahrestag des Warschauer Aufstandes: „Als Polen müssen wir jedem mit Respekt begegnen – ungeachtet der Einstellung, Nationalität oder religiösen Überzeugung.“ Kein Wunder, dass die Rechte beschlossen hat, lieber andere Helden des Zweiten Weltkriegs zu feiern. In den letzten Jahren wird die öffentliche Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Armia Krajowa, die größte Untergrundarmee im besetzten Europa im Zweiten Weltkrieg, die den Warschauer Aufstand anführte, sondern auf die sogenannten „Verstoßenen Soldaten“ gelenkt. Sie waren polnische Partisanen, die sowohl gegen die Nazis als auch gegen die sowjetischen Kommunisten kämpften und ihren Kampf nach dem Krieg gegen das kommunistische Regime in Polen fortsetzten. Kontrovers ist dabei, dass viele von ihnen mit der NSZ-Untergrundarmee, National Army Forces, oder anderen Gruppierungen mit rechtsextremer, nationalistischer und antisemitischer Agenda verbunden waren. Es gibt viele dokumentierte Fälle von Verbrechen an Zivilisten, darunter Fälle ethnischer Säuberung, und diese Mörder werden heute als Helden dargestellt. Die gegenwärtige politische Ideologie der polnischen Rechten ist von ihnen und ihrem vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelten Konzept des Nationalstaats beeinflusst. Dass die polnischen Rechtsextremisten zu Beginn des Zweiten Weltkrieg nicht zu Nazi-Deutschland übergelaufen sind und Polen, außer durch eine Besatzungsmacht wie die deutsche, nie ein nationalistisches oder faschistisches Regime erlebt hat, macht die gegenwärtige Situation noch komplizierter.

Und wozu hat das letztendlich geführt?

All das hat zu einer dem Nationalismus, Faschismus gegenüber aufgeschlossenen Atmosphäre geführt, in der extreme Ansichten zunächst debattiert und dann allgemein akzeptiert und etabliert werden. Rechtsradikale Fußball-Hooligans wurden politisiert und bei nationalistischen oder rechtsgerichteten Kundgebungen eingesetzt. Nationalistische Märsche wurden immer größer und häufiger, es gab mehr Proteste an den Universitäten, vor Museen, Kinos oder Theatern, um Kunst zu verhindern und zu zensieren, die ideologisch nicht genehm, antireligiös oder blasphemisch erschienen. Zugleich hat rassistische oder nationalistisch motivierte Gewalt explosionsartig zugenommen, wird von den Behörden jedoch meist ignoriert. Integraler Bestandteil der rechtsgerichteten oder nationalistischen Politik ist die Konfrontation und das Spiel mit den Ängsten der Menschen und ihrem Mangel an Bildung und Information. Das ist auch der Grund, warum die Kampagne gegen Asylsuchende so erfolgreich war. Aber dazu kommt auch, dass es so einfach ist, andere Länder als diejenigen hinzustellen, die permanent gegen polnische „nationale Interessen“ handeln. Oder sieh dir die Propaganda gegen Länder wie Schweden, Belgien oder Deutschland an. Diese werden wegen ihrer Pro-Migrations-Politik zur Gefahr stilisiert, weil es dort angeblich „No-Go-Areas“ gibt, die von radikalen Muslimen mit Hilfe der Scharia kontrolliert werden. Das ist alles dient dazu, die Leute in Angst zu versetzen und die Macht im Land zu behalten, aber gleichzeitig isoliert es Polen immer mehr. Aktuell scheint Ungarn das einzige Land in Europa zu sein, das Polen noch ernst nimmt, und es gibt andauernde Konflikte mit der EU oder einzelnen Ländern wie Frankreich und Deutschland. Die polnische Regierung freute sich über die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. Diese Freude beruht darauf, dass die USA ein wichtiger Verbündeter Polens sind, so dass man glaubt, sich nicht weiter um den Rest Europas scheren müssen. Vielleicht kommt es bloß daher, dass die US-Truppen in der Vergangenheit nie in Polen einmarschiert sind. Die polnische Regierung war sich auch sicher, dass Marine Le Pen mit Front National die Wahl in Frankreich gewinnen und es die politische Landschaft in Europa zum Guten verändern würde. Konflikte mit den westlichen Nachbarn gewinnen ansonsten immer mehr an Bedeutung.

Immer wieder wird seitens der polnischen Regierung stark gegen Deutschland polemisiert. Wie wertest du das?

In den letzten Monaten wurde die Kampagne gegen Deutschland zunehmend ausgeweitet. Zuerst war es der Vorwurf deutscher Hegemonie in der EU, dann dass deutsche Unternehmen die Kontrolle über einige Teile der polnischen Industrie und Medien übernehmen würden. Dann wurde die „deutsche Erinnerungspolitik“ als Versuch des modernen Deutschland bezeichnet, sich von den Verbrechen des Dritten Reichs und dem Völkermord reinzuwaschen und die Schuld bei anderen Ländern wie Polen zu suchen. Als sichere Beweise für diese Verschwörungstheorie gelten deutsche Filme und Medien, in denen gezeigt werde, wie die polnische Untergrundarmee Kriegsverbrechen begeht. Auch sei in Publikationen oder Geschichtsdokus, etwa vom ZDF, immer die Rede von „polnischen Konzentrationslagern“. Mit diesem Begriff würde ein Geschichtsbild in die Welt gesetzt, das suggeriert, dass Polen und nicht Deutschland den Holocaust begangen habe. „Polnische Konzentrationslager“ ist gewiss nicht der beste Begriff, um die Konzentrationslager im besetzten Polen zu beschreiben, und das sollte dringend korrigiert werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber das ist eher ein sprachliches Problem als der Versuch, die Geschichte umzudeuten oder den Holocaust zu leugnen. Aber es ist klar, dass Fälle wie diese überinterpretiert, vereinfacht und überstrapaziert werden, um die antideutschen Ressentiments weiter zu verstärken. Es scheint nur der Hintergrund dafür zu sein, dass die polnische Regierung den Rahmen der Feierlichkeiten zum letzten Jahrestag des Warschauer Aufstandes nutzten, um offiziell Kriegsentschädigungen von Deutschland einzufordern. Das kann nicht nur auf politischer Ebene Ausgangspunkt für einen ernsthaften Konflikt zwischen Polen und Deutschland sein. Es kann sich auch auf beide Seiten sehr negativ auswirken und die Vorurteile dem Nachbarn gegenüber schüren. Es könnte sogar ein Türöffner sein, um neue Diskussionen über die deutsch-polnische Grenze oder gar die Nachkriegsordnung in Gang zu setzen. Das ignoriert völlig die jahrzehntelangen Bemühungen um bessere Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern, die 1965 von den polnischen Bischöfen initiiert wurden, als sie ihren deutschen Kollegen einen offenen Brief der Versöhnung schickten, indem es hieß: „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung.“

Und wie hat sich das Verhältnis zu Russland entwickelt?

Interessanterweise gibt jetzt mehr antideutsche Propaganda als antirussische. Es gab niemanden, der von Russland Reparationszahlungen verlangte. Dies ist nicht verwunderlich, da die Agenda der führenden politische Partei in Polen durchaus der Politik Putins in die Hände spielt– die Destabilisierung der EU, die Isolierung Polens und sogar die Schwächung der polnischen Armee. Es gibt einige dokumentierte Kontakte des polnischen Verteidigungsministers Macierewicz mit wichtigen Persönlichkeiten der russischen Rüstungsindustrie und wichtigen Vertrauten Putins. Der Autor eines Buchs, in dem er diese Verbindungen aufdeckte, sieht sich mit nun ernsthaften juristischen Problemen konfrontiert und ihm wird sogar mit Gefängnis gedroht.

Verstärkt geraten auch Nichtregierungsorganisationen und Medien in den Fokus von Angriffen der Regierung.

Es gibt eine Menge neuer Gesetze in Polen, die Angriffe auf NGOs sind und Versuche, die vollständige Kontrolle über die Medien zu erlangen unter dem Vorwand, sie von der Einflussnahme ausländischer Investoren zu befreien, was als „Repolnisierung der Medien“ bezeichnet wird. Es scheint so, als ob Polen sich in die Richtung von Ländern wie Russland oder Weißrussland bewegt. Zur Zeit ist in Polen alles möglich. Ich hoffe, dass der progressivere Teil der polnischen Gesellschaft einen Weg findet, diese Regierung loszuwerden. Polen ist im Moment sehr gespalten, es ist wie zwei völlig verschiedene Länder in einem. Vielerorts werden sich die Leute dieser Situation bewusst, werden aktiv, protestieren, werden kreativ, die Kultur erlebt einen Aufschwung und wird kritischer. Das polnische Theater ist wieder sehr einflussreich, interessant und radikal, so wie es früher schon mal war oder vielleicht sogar wie die Punk-Szene in den Achtziger oder Neunziger Jahren. Wie dem auch sei, es scheint immer noch nicht auszureichen, verglichen mit der Stärke der Ideologie der Rechten, die ihren Kampf an vielen Fronten führt, mit starkem Führungspersonal und Sozialprogrammen, um die Wähler zu kaufen – wie das „500+“-Programm: 500 polnische Zloty pro Monat für das zweite Kind für jede Familie –, und ihrer Fähigkeit, mit den Vorurteilen und Ängsten der Menschen zu spielen. Das sind nur ein paar Aspekte dessen, was in Polen im Moment vor sich geht – ich kann euch versichern, dass es noch so viel mehr zu berichten gibt. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich mich noch einmal so wie in den Achtziger Jahren fühlen würde, aber jetzt kommt es mir vor, als lebten wir wieder in vergleichbar düsteren Zeiten. Nur dass alles jetzt konservativer, nationalistischer und rassistischer ist.

Nun war Polen schon immer sehr konservativ und katholisch geprägt, zumindest in meiner Wahrnehmung. Nach dem, was ich höre und sehe und lese, hat sich diese Situation in letzter Zeit sogar verschärft. Besonders beunruhigend finde ich, dass jetzt angeblich viele junge Leute Teil dieser „konservativen Revolution“ sind. Trifft das zu?

Das ist alles wahr. Die katholische Kirche hat in Polen so viel Macht, umso mehr seit dem Ende des kommunistischen Systems. Die Kirche genießt dank der gegenwärtigen Regierung viele Vorteile und Privilegien. Dafür revanchiert sie sich durch massive politische Agitation in ihren Gotteshäusern und Medien. Von Zeit zu Zeit hört man von Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierung und dem Episkopat über den Umgang mit der Demokratie oder mit Geflüchteten, aber das ist meistens heiße Luft. Sie werden die Hand nicht beißen, die sie füttert. Die meiste Zeit wird uns was erzählt von nationaler katholischer Identität, Familienwerten, Heteronormativität, dem „Holocaust an ungeborenen Kindern“ und dass die Christen die am stärksten diskriminierte Gruppe in Europa seien. Es trifft auch zu, dass jüngere Menschen an dieser konservativen Revolution teilhaben, oder besser gesagt, an der Konterrevolution weißer heteronormativer Männer mit ausgeprägter nationaler Identität. Es gab eine ganze „leere“ Generation, die im Konsumrausch oder der Frustration eines durch finanzielle Verhältnisse begrenzten Konsumwunsches aufgewachsen ist. Sie hatten weder wirkliche Werte noch Ambitionen oder irgendwelche besonderen Interessen. Es gab auch kaum Perspektiven, außer für den Rest des Lebens hart zu schuften oder auswandern, um im Ausland Arbeit zu suchen, fernab ihrer Familien und Freunde. Diese Generation wurde zum Hauptziel der politischen Ideologie der Rechten, die mit ihrer Vorstellung von Identität und starken Werten wie Patriotismus und Nationalismus diese Leere füllten. Sie bieten dabei ein ganzes Bündel an Feindbildern, um die Frustration zu kanalisieren – Linke, Liberale, LGBT-Leute, Ausländer, Immigranten, Flüchtlinge, Farbige oder Eliten des liberalen Westens. Heute wählen oder unterstützen die meisten der Jüngeren rechtsgerichtete oder nationalistische Parteien und Organisationen. Es gibt viel mehr Gewalt, die sozialen Netzwerke sind voll von Hass und rassistischen Kommentaren. Es ist nahezu ein Trend in Polen, nationalistisch oder rechtsgerichtet zu sein. Die PiS arbeitet regelmäßig mit offen nationalistischen Organisationen zusammen, sie nehmen an denselben Aufmärschen teil, unterstützen andere extreme Gruppierungen finanziell. Nationalisten greifen Regierungsgegner bei Demos an. Der Verteidigungsminister baut paramilitärische Organisationen auf, um „die Nation zu verteidigen“. Es hat eine Diskussion über die Liberalisierung des Waffenrechts begonnen.

Wie wirkt sich diese Situation auf die Musikszene aus? Ist es schwieriger geworden, Ausstellungen zu veranstalten, für Veganismus, Frauenrechte, Gleichberechtigung der Geschlechter einzutreten, für ein Leben ohne Kirche und Gott oder das Recht auf Abtreibug für Frauen?

Die polnische Musikszene ist nicht so politisch und stark wie in den Achtziger und Neunziger Jahren, aber sie ist auf vielen Ebenen aktiv. Für die Regierung ist es vorerst nicht so wichtig, sich darum zu kümmern – noch nicht. Im Moment geht es mehr darum, die Kontrolle über kulturelle Orte, Theater und größere Mainstream-Festivals zu übernehmen. Aber es gibt auch eine Kampagne gegen „Satanismus“. Bands wie BEHEMOTH stehen vor immer größeren Schwierigkeiten, und Veranstaltungsorte, die sie buchen, bekommen Probleme. Es wird versucht, diese zu schließen und Promoter, die mit BEHEMOTH arbeiten, zu inhaftieren. Es ist Wahnsinn. Es gab einige Versuche von Nazis, Punk-Konzerte anzugreifen. Und das Krasseste: Nationalisten und Patrioten können versuchen, uns zu verklagen, wenn wir sie Nazis nennen, wie es einige nationalistische Organisationen auch bereits getan haben. Sie haben höhere Ziele, sie sind jetzt an realer Politik beteiligt und der erneuten Umwandlung des Systems, diesmal in einen katholischen, konservativen, nationalistischen Staat. Es gibt also keine direkte Konfrontation mit der Punk-Szene, wie in den späten Achtziger oder frühen Neunziger Jahren – noch nicht. Die feministische Bewegung ist in Polen sehr stark, und ihre Ideen sind bei den Frauen sehr beliebt, darunter auch viele junge Mädchen. Sie ist sehr mächtig, und die Demonstration der letzten Monate haben gezeigt, dass es für die polnische Regierung nicht so einfach ist, mit diesem Gegner umzugehen. In der Musikszene gibt es ein Duo namens SIKSA, das in letzter Zeit auch außerhalb der D.I.Y.-Punk-Szene große Popularität erlangte. Sie haben eine sehr starke Botschaft, sehr provokant und konfrontativ und viele sprechen derzeit über sie. Diese Ideen sind sichtbar, und die Punk-Szene ist immer noch ein wichtiger Teil davon. EL BANDA aus Warschau haben einen Song und einen Videoclip für die feministische Massendemonstration Czarny Protest, Schwarzer Protest, gemacht. Es gibt eine Reihe von Bands und Initiativen, die über Gleichstellung der Geschlechter oder Pro-Choice in der Szene reden.

Du lebst in Berlin. Kann man die Lage in Polen mit der Situation in Deutschland, dem Aufstieg der AfD und einer allgemein zunehmenden Feindseligkeit gegenüber Einwanderern vergleichen?

Nur bis zu einem gewissen Punkt. Diese Verschiebung können wir überall beobachten, aber ich denke, dass in Deutschland die Menschen aufgrund der jüngeren Geschichte wissen, wohin solche Ideologien führen. Die antifaschistische Bewegung ist definitiv stärker und militanter als in Polen, aber auch das politische Spektrum in Deutschland ist gegenüber rassistischen oder nationalistischen Ideologien aufmerksamer. Die deutsche Gesellschaft ist auch ethnisch gemischter. Von daher ist es für die Rechten schwieriger, ihre Propaganda-Lügen zu verbreiten, da hier Menschen mit unterschiedlicher Herkunft miteinander leben, so dass sie es besser wissen. Dennoch bin ich der Meinung, dass Länder wie Deutschland die Entwicklungen in Polen genau beobachten und aus den Fehlentwicklungen lernen sollten, die es dort in den letzten Jahren gab. Wenn man das Problem ignoriert oder noch schlimmer, im Namen des Pluralismus der Medien und der Presse rechtsradikalen Meinungen Raum gibt und diesen Abschaum zu öffentlichen Debatten und Diskussionen einlädt, macht man ihren Hass sichtbar, hilft mit, ihn zu verbreiteten und zu normalisieren. Auch die Gleichsetzung von Rechtsradikalen und der radikalen Linken trägt dazu bei. Das sehe ich auch in Deutschland. Dennoch glaube ich, eben weil Deutschland eine ganz andere Geschichte als Polen hat, dass das Bewusstsein für den Nazi-Völkermord immer noch sehr präsent ist und auch die demokratischen Strukturen stärker und älter sind als in Polen, so dass Deutschland eine der wichtigsten und stärksten Stimmen gegen den Nationalismus und die rechtsextremen Ideologien in Europa bleiben wird.

Möchtest du sonst noch etwas loswerden?

Vielen Dank für dieses Interview und das Interesse an Refuse Records sowie für die Lage in Polen. Ich schätze es wirklich sehr, wenn meine deutschen Freunde nach der Situation dort fragen, weil ich das Gefühl habe, dass die meisten Leute nicht viel darüber wissen. Sie sind über die Entwicklungen in den USA unter Trumps Präsidentschaft besser informiert als über die bei den Nachbarn im Osten. Ich halte es für wichtig, in dieser Hinsicht auf dem Laufenden zu bleiben und nicht zu ignorieren, was in Polen vor sich geht. Es kann auch Auswirkungen auf Deutschland und andere Länder haben. Diesmal nicht mehr so positiv wie in der Vergangenheit, siehe: Widerstand im Zweiten Weltkrieg oder die Solidarnocz-Bewegung. Und was das Label an sich betrifft, jetzt neu bei Refuse Records erschienen ist die PRIMITIVE LIFE-7“, SxE/HC aus Berlin. Als Nächstes kommen WASTE-7“, APPRAISE NEW-7“, einige Neuauflagen, SCRAPS, NATIONS ON FIRE, STEP FORWARD. Auf Warsaw Pact haben wir vor kurzem die MOSKWA-7“ und die DEUTER-LP gemacht. Wir arbeiten an der SIEKIERA-„Demo 84“-LP, der MOSKWA-„Demo 84“-LP und Live-Aufnahmen vom Jarocin Festival.