Wie der Punk im Schwabenland blieb

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Opa erzählt vom Krieg

Buch und Ausstellung zu „Wie der Punk nach Stuttgart kam“ bilden die Punk-Nullerjahre (1977-1983) im Schwabenland ab, im Biblebelt, dem Einzugsgebiet rund um die Kesselstadt, deren Einwohnerzahl rund fünfmal so groß ist wie die der Schlafstadt selber. Was aus logistischen Gründen – und einigen anderen, wie dem fehlenden Bezug des Autors und der Ausstellungsmacher zur nachfolgenden Szene, aufgrund des Generationswechsels – weniger erzählt wurde, waren die unmittelbaren Jahre „danach“, die mit der dritten Generation begannen.

Es waren die Jahre, in denen das Ländle endgültig aus der Provinzialität erwachte und sich zu einem der Epizentren der international vernetzten Punk- und Hardcore-Szene mauserte. Eine Entwicklung, die exemplarisch für andere bis dahin provinzielle oder kaum in Erscheinung getretene Regionen in der damaligen BRD steht und sich ähnlich in ganz Europa abspielte. Wer in den Jahren 1983/84 das erste Mal in Hautkontakt mit der Punk-Szene kam, wird sich unter Schmerzen an damalige Konzerte erinnern. Die Pioniere mit ihren übergroßen Badges und Punk-Klamotten vom Flohmarkt waren nahezu ausnahmslos verschwunden oder hatten sich bei den benieteten Lederjackenträgern der zweiten Generation eingereiht.


In nahezu jeder größeren Stadt gab es mindestens einen Laden, der Klamotten direkt aus England importierte, Haarfarbe, Schuhe, Nietengürtel inklusive. Konzerte waren dort, wo die meisten Scherben lagen, und selbst mit verschlossenen Augen am leicht säuerlichen Geruch von Körperflüssigkeiten mühelos erkennbar. Die zweite Generation hatte das mit dem „No Future“ oft allzu wörtlich genommen, was dazu führte, dass es heute einfacher ist, überlebende Punks zu finden, die von 1977 bis 1980 dabei waren, als solche, die mit der zweiten Welle auf den Punk kamen. In manche Konzertorte kam man nur, wenn man am Eingang über die Körper derjenigen stieg, die sich zu sehr auf die Bands gefreut hatten, um in ihrem Rausch dann vom eigentlichen Auftritt nichts mehr mitzubekommen.

Selbst kleinere Orte rund um die Landeshauptstadt hatten eine amtliche harte Drogenszene, der im Laufe der Jahre nicht wenige zum Opfer fielen. Wer in dieser Zeit das erste Mal auf Konzerte ging – so wie ich, weil zu dieser Zeit die Isolation des Dorflebens mit dem Erwerb eines Führerscheins endete –, fand das entweder toll oder suchte schnell wieder das Weite oder stellte selbst etwas auf die Beine, wenn Punk für ihn mehr bedeutete, als vergeblich auf den notorisch unpünktlichen Weltuntergang zu warten. Irgendwas musste man in der Zwischenzeit ja mit seiner überschüssigen Kreativität anfangen.

Stuttgart hat eine einzigartige wechselseitige Beziehung zum unmittelbaren Umland. Wenn im Kessel die Clubs sterben, verlagert sich das Geschehen in die Peripherie, in die kleinen Jugendhäuser oder die damals selbst in mittelgroßen Kleinstädten existierenden besetzten Häuser. 1983/84 häutete sich die Punk-Szene ein weiteres Mal. Im Kessel schlossen die ohnehin wenigen Läden. Übrig blieben für kurze Zeit das Maxim (DIE TOTEN HOSEN, SWANS, BLUT+EISEN, TARNFARBE, COCKS IN STAINED SATIN – exemplarisch stehen bei jedem Veranstaltungsort in Klammern dahinter die Bands, an deren Auftritt ich mich erinnern kann), bis es 1985 einem Neubau weichen musste, das Exil (später an anderer Stelle Casino) und die Röhre, die 1985 öffnete und als einziger Veranstaltungsort immerhin fast 28 Jahre ohne Unterbrechung durchhalten sollte. Alle anderen Orte, in denen bis dahin wenigstens gelegentlich Punk-Konzerte stattgefunden hatten, orientierten sich neu oder mussten aus verschiedensten Gründen schließen. Für kleinere Konzerte mit unter 300 Besuchern gab es im Feinstaubkessel in den Achtzigern keinen Platz mehr.

Not macht bekanntlich erfinderisch, so fand man sich bei kommerziellen Veranstaltern wie am Böblinger Bahnhof im Krokodil (YOUTH BRIGADE, BLUT + EISEN, GBH, K.G.B.) wieder, einer gekachelten Kneipe mit Spielautomatenflair, die ausschließlich vom ehemaligen TRIEBTÄTER-Bassisten gebucht wurde, bis er mit seinem Label und seiner Agentur in Konkurs ging. Wesentlich wichtiger als kommerzielle Lokalitäten waren die Leute und Orte, die Konzerte mit Bands machten, die neu auf den Plan traten. Bands, die nicht stocksteif auf der Bühne standen, um auf die Griffbretter ihrer Instrumente zu starren, mit Sängern, die sich krampfhaft an ihren Mikrofonständern festhielten. Das waren kleinere Läden, die oft bis unter den Rand voll mit Leuten waren, die für eine bis dahin kaum bekannte Band aus Italien Hunderte Kilometer fuhren oder einer anderen Band aus Holland die gesamte Tour über folgten. Für einige Bands gondelte man dann eben zweieinhalb Stunden bis nach Freiburg in das AZ (das irgendwann abbrannte), um dort im großen Gewölbekeller auf einem besetzten Gelände bis in die Morgenstunden zwischen leeren Bierdosen und jeder Menge saugfähigem Streu Bands zu lauschen, für die die Jüngeren unter euch heute ohne zu zögern töten würden. Ich kann euch wenigstens teilweise beruhigen, nicht alles, was heute glänzt, war damals wirklich gut – aber doch einiges.

Viele dieser schwäbischen Epizentren rund um die Landeshauptstadt, die das Fundament für eine Punk/Hardcore-Szene legten, deren Strukturen und Auswirkungen bis heute ihre Spuren hinterlassen haben, enden auf „-ingen“. Das interessante Detail aber ist, dass diese Phase auch in anderen Teilen Europas fernab der einstigen frühen Punk-Hochburgen stattfand und Orte auf die Karte malte, in denen man vorher maximal seinen Hund begraben hätte. Die mittels handgeschriebenem Brief oder Wählscheibentelefon, maximal Fax selbstorganisierten Touren führten durch Orte wie das Epplehaus in Tübingen (CHEETAH CHROME MOTHERFUCKERS, MDC, NEGAZIONE, BLUT + EISEN, INDIGESTI, RAZZIA, EA80, B.G.K. , SPERMBIRDS, WALTER ELF, INFERNO, MOTTEK, COMBAT NOT CONFORM, PORNO PATROL, TOXOPLASMA, ARTLESS und und und), das bis heute existiert und immer noch lebendig ist, auch wenn die Zeiten der bis zum Anschlag gefüllten Konzerte leider vorbei sind. Es ist eines der wenigen Jugendhäuser, das so etwas wie einen zweiten und dritten Frühling erleben konnte, während andere für immer verschwanden oder mit dem Wechsel der Sozialarbeiterbelegschaft in ewigen konzertfreien Regelbetrieb übergingen.

Nicht weniger wichtig war die Villa Roller in Waiblingen (NOMEANSNO, NEUROTIC ARSEHOLES, SQUANDERED MESSAGE, NAUSEA, CONCRETE SOX, FALSE PROPHETS, FUGAZI), die zudem wichtige Übungsräume und ein kleines Studio beherbergte, um die es dann irgendwann still und leise wurde. Der Sindelfinger Pavillon hielt die Farben der reinen Punkrock-Fahne hoch (FAMILY 5, ABWÄRTS, FROHLIX, HASS, NOISE ANNOYS, RUBBERMAIDS, SCHLIESSMUSKEL, MOLOTOW SODA, CROWDS), während in der Röhre (BAD BRAINS, EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, TOY DOLLS, GWAR) eher Bands spielten, die den Jugendhäusern rein von der Größe her entwachsen waren. Eine Fahrt nach Nagold zur Konzertgruppe von Ute und Olga in das Jugendhaus (SPERMBIRDS, FUGAZI, MILITANT MOTHERS, CRASH BOX, HOSTAGES OF AYATOLLAH, SKEEZICKS, WALTER ELF, EVERYTHING FALLS APART, TOXIC REASONS und hundert andere) lohnte sich selbst im tiefsten Winter, auch weil Armin dort immer seinen X-Mist-Bauchladen aufschlug, was Porto sparte, und man bekam ungeschminkte Tipps und Kritik zu einzelnen Tonträgern gratis obendrauf. Außerdem war hier, ebenso wie in Tübingen, fast immer die gesamte Reisegruppe aus München und Augsburg anzutreffen, aus der später mit dem Trust das erste überregionale Fanzine der Republik entstand.

Zum Hammerschlag in Schorndorf (CHUMBAWAMBA, ACCÜSED, IDIOTS, GODFLESH, THE EX, SPERMBIRDS, DROWNING ROSES, ANGRY RED PLANET, MUCKY PUP, RAZZIA, BEASTS OF BOURBON) mit Matzi als Bookerin verfuhren wir uns wesentlich öfter, als auf Anhieb den richtigen Weg zu finden. In der Göppinger Remise war neben vielen Bands (CHRIST ON PARADE, RUDOLF’S RACHE, YOUTH OF TODAY, LETHAL AGGRESSION, SAINT VITUS) auch das einzigartige Schauspiel zu bewundern, wie viele Plattenkisten in den gebrauchten Porsche von Markus Staiger passten. Nebenan war das Haus der Jugend (R.A.F.GIER, KASSIERER, RAZZIA), da erinnere ich mich gut an den Abend mit mehrfachen Tränengasunterbrechungen, starken Knieschmerzen nach nicht gefangenem Stagedive und den Skinhead, der weinte, weil ihm zwei freundliche, aber nachdrückliche Punks seine Gesinnungsaufnäher von der Bomberjacke abtrennten. An das Konzerthaus Heidenheim (HELL’S KITCHEN, MILITANT MOTHERS) sollte ich mich wahrscheinlich auch erinnern, aber da klafft eine Lücke.

In Schwäbisch Gmünd stand das Spasshaus (ROSE ROSE, SO MUCH HATE, LUDICHRIST, HDQ), ein selbstverwaltetes Jugendhaus, von dem es in Schwabistan weit mehr und sehr früh unzählige gab. In Geislingen spielte unter anderem nahezu die komplette erste Grind- und UK-Hardcore-Riege im Jugendhaus Maikäferhäusle (NAPALM DEATH, HERESY, EXTREME NOISE TERROR, RIPCORD, LÄRM, FEAR OF GOD, KAFKA PROSESS), weitab von jeder Großstadtszenerie. Manche davon spielten gefühlt alle drei Monate dort, außerdem gab es auch hier unzählige kleine Plattenstände und eine Menge begeisterungsfähiger Leute, die ihren Arsch hochbekamen. Dort ausliegende Flyer veranlassten einen zu Fahrten auf irgendeinen Schulhofparkplatz auf der Schwäbischen Alb, um sich dort die WALTER ELF bei einem Open Air anzusehen, oder zu einem Grillplatz mitten im Wald, wo zwei Bands spielten, deren Strom von einem Dieselgenerator erzeugt wurde, um sich kurz danach wieder aus dem Staub zu machen. Auch die Geislinger Rätschenmühle hatte oft interessante Bands im Programm.

Auf der anderen Seite über den Kessel war über viele Jahre der Schlauch in Pforzheim (PANDEMONIUM, JINGO DE LUNCH, AUSBRUCH, VORKRIEGSPHASE, immer wieder RAZZIA, ZSD) ein Fels in der Brandung, auch wenn der Sound dort notorisch schlecht und der Pfosten vor der Bühne eine ständige Bedrohung für die Kauleiste war. Gegen Ende der Achtziger trat dann dank Robin noch die Leonberger Beatbaracke (BAD RELIGION, LES THUGS, LAZY COWGIRLS, SHEEP ON A TREE, 3000 YEN, VELLOCET) auf den Plan. Das für alle Zeiten vollste Konzert dort wird BAD RELIGION 1989 bleiben, zum einen weil die Beatbaracke wie die meisten der hier erwähnten Orte so nicht mehr existiert und zum anderen, weil man mehr Menschen in diese Räume einfach nicht zwängen konnte.

Was Bands anbelangt, die auch über die Grenzen des 7er-Postleitzahlenbereichs hinaus bekannt wurden, bleibt es in den Jahren 1984 bis 1990 überschaubar. NORMAHL hatten ihren dritten Frühling zu Zeiten der Wende, der CHAOS Z-Nachfolger FLIEHENDE STÜRME nahm ab 1986 langsam Fahrt auf, S.A.D. spielten wenigstens ab und an außerhalb der Stadtmauern, SCHLIMME KINDHEIT (eine der besten vergessenen Bands) leider nicht, dafür gab es immerhin zwei Bands, die auch über das deutschsprachige Gebiet hinaus bekannt wurden, die SKEEZICKS und letztendlich WIZO. Letztere spielten sich ab 1987/88 in den Jugendhäusern unermüdlich warm.

Späte Konzerttempel, aber ebenfalls unvergessen: Höfingen mit der Beatbox (EWINGS, SHEER TERROR), das Z in Filderstadt (FLIEHENDE STÜRME, SUBHUMANS) und das Jugendhaus Herrenberg (VERBAL ASSAULT, SNFU), die aber erst ab den Neunzigern richtig aufblühten, zu einer Zeit, als sich in Spätzlecity bereits wieder kleinere Locations zurückmeldeten, wie die Residenz, das OBW9, das Schlesinger (als Casino-Nachfolger) und die feuchten Keller der besetzten Häuser in der Hauptstätter- und der Neckarstraße, die entgegen der trotzigen Parolen leider doch nicht blieben.

Schmerzlich vermisst wird auch weiterhin das Limelight sowie das Che, die viel zum Motor-City-Rock-Image beigetragen haben, auch wenn dort eigentlich alles spielte, was es irgendwie dorthin verschlagen hatte. Jede der genannten Örtlichkeiten hatte ihre musikalischen Vorlieben, die unmittelbar mit denen der Veranstalter zusammenhingen, die dort arbeiteten oder den Schuppen für ihre Zwecke missbrauchten, und ohne die es nichts, aber auch gar nichts gegeben hätte. Alleine der Gedanke an einzelne Paarungen, die Müsgüb seinen Konzertbesuchern mitunter zumutete, lassen mich noch bis heute grinsen. Er hatte keine Probleme damit, vor eine Hatecore-Band wie SHEER TERROR eine Gruppe wie PSZYCHISZ TERÖR zu setzen, die all die harten Jungs raus in den Regen trieben, oder eine Straight-Edge-Kapelle mit RUDOLF’S RACHE zu kombinieren – als Zugabe gab es „Bite it you scum“ mit Polonaise durch das irritierte nüchterne Publikum. Er nennt das bis heute seinen „persönlichen musikalischen Bildungsauftrag“.

In der Summe waren sie für die Vielfalt verantwortlich, für den Aufbau von Strukturen, die weiterhin Bestand haben, wie die Fanzines, die daraus entstanden, ob das jetzt nun ein Trust oder eben das Ox ist, das du gerade in deinen Händen hältst, und die es ohne dieses selbstgeschaffene Umfeld so heute nicht geben würde, auch wenn sich Punk in der Zwischenzeit gut und gerne fünf bis zehn weitere Male gehäutet hat.