VORWÄRTS

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Jungs mit Mofas

„Nimmst du noch ein Bier?“ – Wenn die Tonaufnahme eines mehrstündigen Gesprächs mit dieser Frage endet, war das Interview vorab schon ein Erfolg. Die Schweizer VORWÄRTS zeigen, dass sie nach Jahren fast nichts von ihrer sympathischen Art eingebüßt haben. Heute sind sie zwar nicht mehr die ländlichen Mofapunks von einst, ihrer Einstellung und ihrem Sound sind sie aber treu geblieben. Vom frischen Wind in der Band, Schlamperei im Studio und dem Soundtrack zu einem Punk-Spielfilm erzählen Sänger Udi und Rhythmusgitarrist Bibä an einem geselligen kalten Dezemberabend.

Ein Songtitel auf dem neuen Album „Rock’n’Roll Hearts“ trägt den Titel „21st century punks“. Was heißt das?

Udi:
Die Idee dahinter ist, dass wir als alte Punks im 21. Jahrhundert angekommen sind und immer noch Punkmusik machen. Wir sind überzeugt davon, es macht Spaß, deshalb sind wir noch heute Punks. Der Text ist zusammen mit einem englischen Freund entstanden.

Kann man im 21. Jahrhundert noch Punk sein?

Udi:
Haha, wieso nicht? Für mich ist es in erster Linie eine Haltung, der D.I.Y.-Gedanke gehört beispielsweise dazu: Die Szene, die Vernetzung, die Aktivitäten. Einer veranstaltet Konzerte, eine andere gestaltet coole Plattencover und jemand hat eine Band. Dann gehört für mich dazu auch das Motto: „Don’t follow any leaders“. Es ist wichtig, an sich selbst zu glauben und individuell zu sein. Das Rotzige, das Freche, das gehört zum Punk.

Bibä: Ja, man muss sich wehren! Heute haben wir ja wieder die gleiche Situation wie damals Ende der Siebziger Jahre. Alles flacht ab. Steig in den Zug: Was siehst du? Alle Leute starren ihr Mobiltelefon an. Niemand redet miteinander. Das ist wieder so eine Art Mainstream, die mir Angst macht.

Wie schwierig ist es, sich nicht von diesem Mainstream vereinnahmen zu lassen? Ihr seid nicht mehr 18 und unabhängig, sondern habt teilweise Familie und geht einer regulären Arbeit nach.

Udi:
Klar ist es jetzt anders als mit 18 oder 20. Jetzt hast du Verpflichtungen, vielleicht sogar ein Haus und Kinder. Für mich ist die Band und ihr Umfeld eine Energiequelle. Es macht mir Spaß und Freude.

Bibä: Ja, natürlich. Du kannst trotzdem immer wieder „anstupfen“. Wenn ich damit aufhören würde, würde ich untergehen. Manchmal kommt das schlecht, manchmal ganz schlecht an.

Was meinst du damit?

Bibä:
Wenn ich beispielsweise auf der Arbeit gewisse Vorbilder und Lebenshaltungen hinterfrage oder andere Meinungen kundtue, als der Mainstream.

Wie würdet ihr eigentlich euren Sound beschreiben?

Udi:
Tja ... Rock’n’Roll.

Bibä: Das ist schwierig. Mir sind Melodien wichtig. Wenn ich die Gitarre in die Hand nehme, möchte ich eine Melodie damit spielen. Das Lustige ist ja, dass bei uns jeder sein eigenes Ding macht. Aus dieser Grundstruktur entsteht eine Mixtur.

Das heißt, bei VORWÄRTS gibt es keinen Songschreiber im eigentlichen Sinne?

Bibä:
Nein, das funktioniert nicht. Stell dir vor, wie beschissen es ist, wenn dir jemand sagt, was du zu spielen habest. Das wäre Quatsch.

Udi: Jeder bringt sich ein. Sehr häufig ist es so, dass Bibä eine Grundidee mitbringt. Er klimpert uns das vor, und die anderen bringen sich ein. So entsteht dann unser Sound, den man durchaus mit Powerpop oder 77er-Punk umschreiben kann. Wir sind etwas ältere Jungs, die bereits Musik machten und hörten, als es Punk noch gar nicht gab. Diese Einflüsse aus den Siebziger Jahren hallen bis heute nach. Für mich sind beispielsweise UFO eine Inspirationsquelle.

Bibä: Damit kannst du mich jagen, haha! „Doctor doctor“ ist der einzige Song, der was taugt.

Udi: Nein, UFO haben ein paar gute Sachen! Das fließt unbewusst ins Songwriting ein bei mir. Wie man diesen Sound schlussendlich umschreibt, spielt keine Rolle.

Bibä: Für mich ist Keith Richards ein absolutes Vorbild. Wie er Gitarre spielt, ist göttlich.

Ihr habt letzten Sommer an einem Nachmittag beim Bullingerplatzfest in Zürich gespielt. Bei diesem Fest sind auch viele Familien anwesend. Wie war das für euch?

Bibä:
Ich fand’s witzig. Es hat Spaß gemacht. Natürlich kamen die ersten Lärmreklamationen bereits beim Soundcheck. Da hat’s ja viele Kinder.

Udi: Wir haben in erster Linie da gespielt, weil ich in der Nähe wohne. Es ist natürlich etwas anderes, als in einem Club zu spielen vor Leuten, die wegen dir da sind. Aber so hat mich mein kleiner Sohn auch mal spielen sehen. Wenn ich wählen könnte, würde ich allerdings im Club spielen.

Bibä: Ja, aber es ist gut, anderes zu sehen. Sonst wirst du einseitig! Abwechslung ist wichtig. Ich freue mich auf jeden Gig. Solange der Sound gut ist und die Leute Spaß haben, passt das.

Das klingt idealistisch ...

Bibä:
Unter den genannten Bedingungen ist es mir wirklich egal, ob wir vor 10.000 oder vor zehn Leuten spielen. Vor zehn Leuten bin ich auf jeden Fall entspannter, haha.

Udi: Ja, aber da hättest du doch Freude, wenn du vor so vielen Leuten spielen könntest. Wir hätten nichts dagegen, wenn wir mit COCK SPARRER oder THE BOYS auf Tour gehen könnten.

Ihr habt zehn Jahre an eurem neuen Album „Rock’n’Roll Hearts“ gearbeitet. Wieso hat das so lange gedauert?

Udi:
Nächste Frage. Haha!

Bibä: Tja, wir haben’s verschlampt, versemmelt.

Udi: Wir haben’s aufgenommen. Und dann wieder ergänzt, und wieder ergänzt, und noch einmal dieses und noch einmal jenes drüber gespielt. Nur schon der Aufnahmeprozess hat ewig gedauert.

Mit Verlaub, das klingt nicht nach Punk!

Udi:
Das stimmt, das stimmt! Haha!

Bibä: Das darf nicht wieder passieren. Die erste EP „Vorwärts“ haben wir 1983 im Proberaum während eines Wochenendes aufgenommen. Für „Rock’n’Roll Hearts“ waren wir in der komfortablen Situation, dass wir in dem Studio von einem Freund immer wieder daran herumschrauben konnten. Die Kosten sind nicht explodiert. So wurde das eine fast unendliche Geschichte.

Udi: Beim Abmischen ging diese Geschichte weiter. Auch beim Design und der Auswahl des Presswerks haben wir geschlampt. Schlussendlich haben unsere neuen Bandmitglieder Mäny, Drums/Vocals, und Gene, Bass, eine enorme Dynamik entfacht. Sie sind seit zwei, drei Jahren im Boot. Seitdem läuft’s gut. Mäny ist auch einiges jünger als wir, also Ende dreißig. Mit den Aufnahmen haben die beide allerdings nichts zu tun. Die Sachen wurden früher geschrieben und eingespielt. Das ist für sie natürlich nur halb befriedigend.

Bibä: Ja, das gibt schon etwas Druck. Ich find’s geil. Außerdem mit dabei ist übrigens seit jeher Reverend Reverb an der Leadgitarre.

Was ändert sich mit dem neuen Personal?

Bibä:
Sie haben auch das Bedürfnis, Gas zu geben. Auch bei den Konzerten. Das erhöht den Druck auf uns alte Säcke.

Udi: Es wäre cool, bald wieder ins Studio zu gehen mit den beiden. Wir haben neue Songs, von denen wir sehr überzeugt sind. Ich hoffe, dass es im Frühling 2018 soweit sein wird.

Bibä: Gib bitte kein Datum an, haha.

Ihr habt vor kurzem in Heilbronn gespielt. Wie sind eure Erfahrungen im Ausland?

Udi:
Die Deutschland-Gigs waren bisher immer gut. Neben Heilbronn haben wir beispielsweise in Ravensburg und Konstanz gespielt. Der Gig in Auggen, in so einer Kegelbahn, war auch toll. Für den kommenden Frühling sind übrigens Auftritte mit den EROTIC DEVICES in Leipzig, Dresden und Berlin geplant, aber noch nicht bestätigt.

Bibä: Im Ausland ist es ist immer spannend zu sehen, wie ein neues Publikum auf uns reagiert. Das ist auch die Herausforderung. In der Schweiz sind wir zwar auch nicht sehr bekannt, trotzdem können wir hier in uns bekannten Clubs spielen. Besonders gut ist das Galvanik in Zug.

Udi: Ja. Im Galvanik sind Technik und Sound vom Feinsten. Daneben sind das Kiff in Aarau und das Espace Noir in Saint-Imier super.

Mit welchen Bands tretet ihr auf?

Udi:
Beispielsweise mit THE SENILES aus Zürich. Befreundet sind wir auch mit den MOPED LADS aus Luzern. Es ist immer wieder schön, mit diesen Bands gemeinsam auf einer Bühne zu stehen. Vor Weihnachten haben wir mit den MOPED LADS und THE FAGS in Basel gespielt!

Apropos Basel. Ihr seid ja keine Basel-Städter. Ihr habt VORWÄRTS 1979 einem kleinen Dorf namens Rümlingen in Baselland gegründet. Das ländliche Klima und Punk: Wie ging das?

Udi:
Punk ufm Land? Haha.

Bibä: Also einerseits war es früher schwierig für uns, in der benachbarten Stadt Basel Auftrittsmöglichkeiten zu kriegen. Wir haben im AJZ gespielt, aber ansonsten war die Stadtszene isoliert. Aber es war uns egal.

Udi: Ja, und in Baselland kamen andererseits regelmäßig viele Leute auf die Konzerte. Es entstand auch eine Szene bei uns: NEGATIV aus Sissach und DAMENWAHL beispielsweise. Das waren kleine Bands.

Bibä: Aufgewachsen sind wir aber schon in fixen Strukturen, insofern war die Band zu Beginn eine Art Rebellion von Jungs mit Mofas.

Eine spezielle Geschichte war die Tour mit den LURKERS aus UK und George Dubose, dem Fotografen der RAMONES zwischen 1983 und 1996. Was steckte dahinter?

Udi:
Mit den LURKERS sind wird schon lange befreundet und haben immer wieder mal Konzerte mit ihnen gespielt in der Schweiz. So hatten wir auch 2016 die Idee einer gemeinsamen Tour mit ihnen. Lurker Grand, unser Freund, Labelchef von swisspunk.ch und Autor von Büchern wie „Die Not hat ein Ende“ und „Hot Love“, hat von diesen Plänen Wind bekommen und George Dubose als künstlerische Umrahmung vorgeschlagen. Dubose war einige Jahre der Fotograf der RAMONES. Zu Ehren der RAMONES und des anstehenden vierzigjährigen LURKERS-Jubiläums wollte Dubose, der in Köln lebt, seine Fotos zeigen. Die Idee: Fotos und Plakate der RAMONES während der Gigs ausstellen – aber nicht etwa zum Verkauf, sondern damit die Leute diese „stehlen“ können. Das fanden wir natürlich cool. Geplant waren vier Konzerte in der Schweiz.

Wie ist es gelaufen?

Udi:
Leider mussten VORWÄRTS nach dem ersten Konzert in Basel aus gesundheitlichen Gründen aussteigen. Das war ein riesiger Frust für alle. Reduziert weitermachen war kein Thema. Denn ersetzen kann man keinen von uns. Mit den LURKERS wollen wir sicher wieder etwas machen. Vielleicht einmal in England. Das wäre ein Traum, der in Erfüllung gehen würde.

Ein etwas spezielles Highlight eurer Karriere ist der Soundtrack zu dem aktuellen Schweizer Neo-Punk-Kinofilm „Lasst die Alten sterben“, zu dem VORWÄRTS ihren Langzeithit „TV Generation“ aus dem Jahre 1983 beigesteuert haben. Wie ist es, den eigenen Song im Kino zu hören?

Bibä:
Absolut geil. Der Song wurde neu gemastert und kam mit einer unglaublichen Power aus den Lautsprechern. Ich dachte mir, meine Güte, bist wirklich du das?

Udi: Es ist relativ banal abgelaufen: Die Filmfirma hat uns gefragt, ob wir den Song beisteuern möchten. Wir haben zugesagt.

Gefällt euch der Film?

Bibä:
Ich find ihn geil. Wirklich. Es ist eine Mischung aus Komödie und Selbstfindungstrip. Auch wir mussten uns damals, Ende der Siebziger Jahre, erst finden. Es ist eine Rebellion. Das läuft immer nach dem selben Muster ab. Wichtig ist, dass du dich findest. Der Film spielt zwar heute, die Situation entspricht aber durchaus der Situation in unserer Jugend.

Der Soundtrack wurde nun gepresst. Lauter alte Schweizer Punk-Songs ...

Udi:
Als Lurker Grand von diesem Schweizer Punk-Film gehört hat, rief er mich an und schlug vor, den Soundtrack zu veröffentlichen. So haben es die Songs von MOTHER’S RUIN, SPERMA, VORWÄRTS und anderen, die im Film vorkommen, auf Vinyl geschafft. VORWÄRTS sind die einzige noch aktive Band auf dem Sampler.

Euer Song läuft in einer Szene, als die Polizei ein Altersheim stürmt, in dem die Punks randalieren. Es ist die Actionszene schlechthin. Wusstet ihr, wo ihr vorkommt?

Udi:
All die beteiligten Bands wurden zur Filmpremiere in Zürich eingeladen und saßen im Publikum. Niemand wusste, wo der eigene Song jeweils kommt. Als es gegen Ende des Filmes endlich soweit war, war’s sehr spaßig.

Bibä: Ich find’s super.

 


Lasst die Alten sterben

(Schweiz 2017, Drehbuch und Regie: Juri Steinhart)

Der Teenager Kevin hat einen stinknormalen, langweiligen Alltag: Party, Freunde, Pornos, Onanie, Social Media, Konsum und Smartphone. Seine Eltern sind zerstritten und führen ein linksliberales, heuchlerisches und spießiges Leben. Nach einer Partynacht erscheint Kevin ein imaginärer Punk, der ihn fortan begleitet und ihn aufbegehren lässt. So kann das nicht weitergehen, denkt sich Kevin. Die Kunsthochschule lässt er sausen, dafür besetzt er ein leerstehendes Haus und gründet eine Kommune. Die Geschichte nimmt ihren Lauf, wobei Komplikationen, Eifersucht und Streit vorprogrammiert sind und die Situation regelmäßig eskaliert. Als sein Vater, der geläuterte ehemalige Punk aus den Achtziger Jahren, in die Kommune eintritt, scheint das Chaos perfekt.

Kevins Problem: Punk sein und Häuser besetzen ist nicht genug. Er braucht ein Feindbild, etwas, wogegen er protestieren kann. Ironischerweise ist es sein Vater, der ihn auf die Idee bringt: Der Gegner sind die alten Menschen! Sie leben auf großem Fuß, sie haben die Umwelt in den vergangenen Jahrzehnten kaputtgemacht und sie steuern im Cockpit der Macht die Welt in Richtung Abgrund.

Der Film thematisiert auf originelle Art und Weise die soziale Ohnmacht gegen den Konsum(zwang). Doch ein Kinobesuch lohnt sich allein schon wegen des Soundtracks. Er ist eine Reminiszenz an die frühen Schweizer Punkbands und fügt sich nahtlos ins lustig-tragische Klima des Films ein. In den Schweizer Kinos ist der Film im Herbst 2017 angelaufen. In Deutschland und Österreich sind Aufführungen in Planung.