KARIES

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Dadaistische Märchen aus dem NDW-Wunderland

KARIES veröffentlichen über This Charming Man Records mit „Alice“ nun ihr drittes Album. Das ist jenes, dem man immer unterstellt, besonders wegweisend zu sein. Das und die in der Szene kursierende Anregung, dass ein gutes Punk-Album nicht länger als dreißig Minuten dauern darf, wird bei einer autonomen Band wie KARIES sicherlich kein Thema sein. Wir befragten Sänger und Bassist Max Nosek zum neuen Werk, das zwar einerseits die Eigenheiten der Post-Punk-Band bewahrt hat, aber auch deutlich emanzipierter und vor allem abwechslungsreicher klingt.

Da die Bandmitglieder – Max Nosek (bs, voc), Jan Rumpela (gt), Benjamin Schröter (gt, voc) und Kevin Kuhn (dr) – mittlerweile über ganz Deutschland verteilt leben und noch dazu in diversen anderen Bands aktiv sind, wurde das Album größtenteils über Home-Demos, aber auch bei Proben oder beim Soundcheck über einen Zeitraum von insgesamt eineinhalb Jahren geschrieben. Aufgenommen wurde dann im Studio von Max Rieger (DIE NERVEN, ALL DIESE GEWALT) in Leipzig. Bedenken, dass das Ergebnis dann zu sehr nach den stilistisch ähnlichen DIE NERVEN klingen könnte, hatten KARIES nicht: „Die Frage hat keine Rolle gespielt. Es war ja schließlich Rieger selbst, der mit seinen Entscheidungen in der Produktion dafür gesorgt hat, dass sich ,Fake‘ und ,Alice‘ nicht unbedingt wie von derselben Band anhören.“


Auf dem Cover zum Album „Seid umschlungen, Millionen“ war noch eine graue Hauswand, die KARIES aus dem Fenster von Max’ Mutter fotografierten. Das Artwork von „Alice“ wurde nun von Levin Stadler (LEVIN GOES LIGHTLY) gestaltet und wirkt im Gegensatz dazu schon fast euphorisch bunt. Dabei ließ die Band dem Designer vollkommen freie Hand, gab ihm lediglich die Musik als Inspirationsquelle. „Levin hat die Musik bekommen und kam selbst mit Vorschlägen, die uns gefallen haben. Die Idee für das Cover ging also von ihm aus. Ja, im Vergleich zur ersten Platte ist es sehr bunt – was aber angesichts dessen Tristesse auch nicht schwer ist.“

Der Albumtitel „Alice“ weckt zwei offensichtliche Assoziationen. Zum einen denkt man an die Dame aus dem Song „Living next door to Alice“ – gefolgt von einer Art Zwangshandlung, eskalierend in peinliches Gebrülle des Nonsens „Who the fuck is Alice?“ – oder an die Protagonistin aus dem skurrilen Kinderbuch „Alice im Wunderland“ des britischen Schriftstellers Lewis Carroll. Max tendiert zu Letzterem: „Ich denke an ,Alice im Wunderland‘. Wie die Platte geworden ist, hat uns selbst überrascht. ,Alice‘ transportiert für mich etwas Offenes und Spielerisches, samt der morbiden Atmosphäre. Als Arbeitstitel haben wir es schon vor Beginn der Aufnahmen verwendet, und nachdem das Album fertig war, kam es mir vor wie eine Reihe von Kurzgeschichten, eine Märchensammlung.“

Irgendwas hat sich verändert bei KARIES, schon beim ersten Durchlauf springt das dem Hörer förmlich an. Tatsächlich hat Max eine Erklärung dafür und bestätigt die Vermutung von Änderungen im Kreativprozess: „Beim Songwriting gab es an vielen Stellen eine bewusste Verdichtung, so dass Parts nur halb so lang als gewöhnlich bei uns sind, und sich innerhalb der Stücke nicht wiederholen. Am meisten Einfluss hatte die Produktion. Die ging dieses Mal von unseren Home-Demos aus, anstatt alles live einzuspielen. Der Vibe auf ,Alice‘ war schon bei den frühen Demos da. Den ersten Song hatte Benny alleine zu Hause aufgenommen, da war auch noch ein Synthie drin. Und Max Rieger meinte von Anfang an, er würde gerne mehr von dem Flair der Demos erhalten.“

Die Lieder sind dieses Mal in Bezug auf Schnelligkeit und Aufbau sehr unterschiedlich, was „Alice“ zum besten Album von KARIES bisher macht und einen schönen Kontrast zum repetitiven Ansatz schafft. Wir wollen von Max wissen, ob das ein bewusster Versuch war, um das Einschleichen von Gleichförmigkeit zu verhindern und treffen damit komplett ins Schwarze: „Auf jeden Fall. Kay Werner sagte bei euch im Ox über das letztes Album: ,It’s a thin line between hypnotisch und nervig‘, was dessen Schwäche auf den Punkt bringt.“

Dass eine Band wie KARIES sich überhaupt um Rückmeldungen schert, erscheint erst mal überraschend. Doch Max möchte schon wissen, wie die Band bei Kritikern und Fans ankommt: „Ich bin immer neugierig darauf, was andere in der Musik hören. Vor allem jetzt, da die Platte stilistisch andere Wege als ihre Vorgänger geht.“ Weniger nerven, eine andere Vorgehensweise und noch dazu ein sehr gelungener Spannungsbogen – alles auf der Habenseite zu verorten und ganz sicher kein Zufall, denn KARIES legen großen Wert auf das Schaffen von Atmosphäre und banal wirkende, aber folgenschwere Schritte wie die perfekte Abfolge der Songs: „Das ist uns sehr wichtig. Den Bruch zu den beiden Alben davor wollten wir eher behutsam als abrupt vermitteln. Die ersten zweieinhalb Stücke von ,Alice‘ hätten auch schon auf einem früheren Album sein können.“ Das resultiert schon fast in guter Laune, die man von den Vorgängeralben nicht gewohnt ist. Auf die Frage, was oder wer denn „Pebbo“ aus dem mit Abstand heitersten Song auf „Alice“ sei, antwortet Max nur knapp „eine Art Vitamin.“

Es gibt Bands, die leichter zu beschreiben sind, bei KARIES fällt schon das Definieren der Basis schwer. Max selbst skizziert den Sound der Band auch eher weitreichend: „Es ist Pop in dem Sinne, dass es stilistisch offen und zugänglich ist. Trotzdem bleibt es vom Aufbau her Gitarrenmusik, also Post-Punk et cetera. Dann fällt mir das Dadaistische von NDW ein.“ Neue Deutsche Welle, ein Faden, den wir gerne aufnehmen, denn „Alice“ erinnert tatsächlich stark an die Zeit, als NDW noch Untergrundmusik war, einen direkten Bezug zur Kunstszene hatte und mit schroffen deutschen Texten und den dazu passenden Rhythmen spielte. Eine Verbindung, die Max zumindest nicht komplett überrascht: „Ja, ich höre auf jeden Fall stilistische Überschneidungen. Ich kenne mich allerdings nicht genug mit NDW aus, um das näher zu benennen.“

Dennis Lyxzén hielt auf dem Taubertal Festival in diesem Jahr ein Plädoyer für mehr Frauen in Bands und sagte, dass Musik immer politisch sein sollte. Er definierte eine gesunde Gesellschaft als eine, in der sich möglichst viele Leute auf irgendeine Art künstlerisch betätigen (können). Das würde also bedeuten, dass auch eine Band wie KARIES politisch ist. „Was wäre überhaupt unpolitische Musik?“, will Max im Gegenzug wissen und spinnt die Aussage noch einen Schritt weiter: „Dies scheint mir eine Trennung von Politischem und individuell Privatem vorauszusetzen, die selbst politisch ist, oder besser: ideologisch. Musik ist auch dann politisch, wenn sie etwas nicht thematisiert. Aber vielleicht meint Dennis Lyxzén mit politisch auch eher konkrete Stellungnahmen wie sein Plädoyer? Was das anbelangt, würden wir jederzeit gegen Kampagnen wie BDS gegen Israel Stellung beziehen.“

In Bezug auf die eigene Musik mit KARIES hat Max ganz konkrete Vorstellungen: „Unsere Texte zitieren Aufforderungen und Unmöglichkeiten, die als solche in der Gesellschaft zirkulieren. Dass KARIES also in diesem Sinn dezidiert politisch gehört werden können, ist gewollt. Mir kommt die Paraphrase von Dennis Lyxzén in Form des Imperativs widersprüchlich zum Anliegen daher. Das klingt mir sehr gegenwärtig: Zum Beispiel Kreativität ist doch schon ein Muss überall, jeder geht dem anderen mit seiner Kreativität auf die Nerven. Und müssen die Leute nach Dennis Lyxzén Musik dann auch immer politisch hören? Von derlei Appellen ist es leider oft nicht weit, Musik von Bands, in denen Frauen spielen, vor allem wenn sie sich selbst als feministisch verstehen, paternalistisch auf Feminismus zu verkürzen.“

Im Herbst touren KARIES durch Deutschland, um ihr Album vorzustellen. Bei der Auswahl der Clubs vertraut die Band blind auf Franziska Seeger von Powerline, wir können euch wärmstens empfehlen, mal vorbeizuschauen.