TON STEINE SCHERBEN

Ach ja, die Scherben, immer wieder hört man sie gern. Die Auflösung der Scherben liegt jetzt schon mehr Jahre zurück, als mancher Ox-Leser alt ist. Und dennoch wird ihre Musik gehört, neu entdeckt und geliebt. Die SCHERBEN haben es durch ihre knapp 15jährige Karriere geschafft, sich langfristig ins kulturelle Gedächtnis dieses Landes einzubrennen. Deutschsprachige Rockmusik wäre ohne die Vorarbeit der SCHERBEN in ihrer heutigen Form undenkbar. Wie bei kaum einer anderen Band umgibt ihre Songs die Aura der Zeitlosigkeit. Textlich in der Frühzeit Themen eher allgemein auf den Punkt bringend bzw. später dann ins mythisch-verklärte abdriftend, das Ganze in einem musikalisch – ob rau oder verspielt – immer am Rock angelehnten Kleid. Die Lieder der SCHERBEN kann man sich immer und immer wieder anhören.

Die Scherben bleiben jedenfalls im Gespräch: neben der bereits angesprochenen SCHERBEN-Biographie "Keine Macht für Niemand" (u.a. von Kai Sichtermann) und dem Film "Der Traum ist aus", der bereits letztes Jahr in einigen Programmkinos lief, wird derzeit in Bremen ein Theaterstück aufgeführt, dass sich an Motiven der Scherben-Biographie und dem Leben Rio Reisers orientiert.

Doch das "Revival" treibt auch äußerst unschöne Blüten: Am 1. September 2001 fand in Leipzig einer dieser unseligen Nazi-Aufmärsche statt, an denen sich geschätzte 1.200 national-fehlgeleitete beteiligten, darunter bekannte Größen wie Christian Worch, Thomas Wulff, Steffen Hupka und der Querschläger Horst Mahler. Neben Plakaten mit bekannten Mottos wie "Unsere Großväter waren keine Mörder!" und "Blut und Boden schützen!" stand die Ehrung der Waffen-SS im Vordergrund, weswegen die Veranstaltung nach kurzer Zeit auch aufgelöst wurde. Bei dieser Demonstration wurden leider auch Songs der SCHERBEN gespielt, z.B. "Allein machen sie dich ein" als es zu einer Einkesselung kam. Man könnte sich jetzt endlos über eine derartige Dreistigkeit aufregen, ausgerechnet die SCHERBEN als Sprachrohr der Rechten zu missbrauchen. Ich schwanke da zwischen Ungläubigkeit, Aufregung und einem guten Maß an amüsierter Verwunderung. Demnächst auch LANDSER auf einer Antifa-Demo? Es soll ja Leute geben, die die ONKELZ als total unpolitische Band abtun (u.a. die ONKELZ selber) – warum nicht deren Songs nehmen? Mitbrüllen kann man ja optimal. Oder doch lieber der Rückgriff auf Klassiker: "Deutschland den (besseren, weil linken, hähä) Deutschen"? Was würden unsere braunen Mitbürger dazu sagen?

Zum Interview: Es ist immer noch ein lauer Septembertag und ich sitze in einem Berliner Cafe Funky K. Götzner und Kai Sichtermann gegenüber, mit denen ich mich über die SCHERBEN unterhalte. Gerade ging es darum, ob Rockmusik noch politische Inhalte transportieren können und wie es zu NEUES GLAS AUS ALTEN SCHERBEN kam (bei denen Funky trommelt, siehe letztes Ox), jetzt brennen mir immer noch ein paar Fragen auf der Seele, die ich im Folgenden den Herren stelle – lest selbst.

Ich komme ja von einem Punkrock/Hardcore-Fanzine und mich würde interessieren, ob es von dieser Seite mal anerkennende Worte für euch gab. Die SCHERBEN haben ja zum Beispiel zusammen mit den MC5 gespielt oder als Erste ihr eigenes Label gehabt.

Kai: Also, ohne da jetzt was zitieren zu können, gab es auf jeden Fall Anerkennung. Als Punkrock erstmal da war, wurde in den Zeitschriften auf jeden Fall bemerkt, dass die SCHERBEN die Vorläufer waren.
Funky: Gerade unsere erste Platte hat ja einen sehr rohen Sound.
Kai: Da haben wir die erste Seite in einem Hinterhof mit einer Revox-Maschine aufgenommen und die Live-Seite mit ein paar Mikrofonen und auch nur einer Revox-Maschine. Da konnte man nicht mehr groß abmischen, das musste man so nehmen, wie es war.

Ich war auch überrascht, als ich gelesen habe, dass ihr u.a. von SLIME gecovert wurdet.

Kai: Von ABWÄRTS auch...
Funky: Ich habe in München jemand getroffen, der hatte so ca. 100 Coverversionen gesammelt, von Schlager bis Punk. Das dürften jetzt sicher noch mehr sein.
Kai: Ich habe jetzt auch schon in verschiedenen Städten wie Mannheim, Düsseldorf und auch Berlin gesehen, dass es dort Abende gibt, wo Bands nur SCHERBEN- und Rio-Songs spielen. Das ist ganz kurios. Leider bin ich da nie rechtzeitig vor Ort gewesen.

Ihr habt ja beide auch in Fresenhagen gewohnt, in den 80er Jahren der Mittelpunkt der deutschen Musikszene. Wie lange?

Kai: Funky etwas länger, weil ich den Umzug nicht mitgemacht habe. Ich kam 1977 und blieb bis 1984."
Funky: Ich hab elf Jahre da gewohnt.

Hat sich das denn als lebenswertes Konzept herausgestellt?

Funky: So richtig funktioniert hat´s nicht immer, aber mit den Mitteln, die wir zur Verfügung hatten, hat es irgendwie geklappt. Im Nachhinein ist es für mich eine unheimlich schöne Zeit gewesen, trotz der ganzen negativen Sachen, die da abgelaufen sind. Es war halt nicht das Paradies, das wir erhofft hatten, haha.
Kai: Der Misha Schöneberg, ein langjähriger Freund der SCHERBEN, hat im Interview für das Buch gesagt, man müsste analysieren, warum der Traum so kläglich gescheitert ist. Ich glaube aber nicht, dass er gescheitert ist. Wir haben versucht, das Beste daraus zu machen. Sicher gab es große Probleme und man hätte alles noch besser machen können, aber allein die Tatsache, dass wir es versucht haben, verdient Anerkennung. Zehn Jahre Gruppenleben auf dem Land war für mich ein unheimlich guter Lebensschub.
Funky: Klar, es gab Gruppen wie EMBRYO, die was ähnliches gemacht haben und auch ihre einzigartige Geschichte haben. Aber unsere Geschichte lief nun mal so. Da ist bis jetzt noch keiner ins Paradies marschiert. Es gehören einfach sehr viele Schritte dazu, um ins Paradies zu kommen. Für mich ist das eher eine Vision, das kann man nicht auf eine Generation reduzieren oder auf die, die das erfunden haben. In den zehn Jahren ist uns das klar geworden.

Es ist also schon ein utopischer Traum gewesen.

Funky: Natürlich war das eine Utopie, genauso gilt das für Lieder wie "Schritt für Schritt ins Paradies" oder "Der Traum ist aus". Utopien waren immer Menschheitsträume und irgendwer hat auch immer etwas damit erreicht. Es heißt doch so schön: Tausend Schritte beginnen mit dem ersten. Diese Schritte, die hast du gemacht, dafür hast du gelebt. Jeder, der eine Utopie hat, macht diese ersten Schritte auch.

Macht denn in Fresenhagen gerade jemand weitere Schritte?

Kai: Keine Ahnung, ich war schon seit Jahren nicht mehr da.
Funky: Es muss ja nicht in Fresenhagen sein, das trägt man im Herzen, unabhängig von bestimmten Orten.

Was passiert denn da gerade?

Kai: Soviel ich weiß, hat das die Frau von Rios Bruder gekauft und das soll jetzt so eine kulturelle Begegnungsstätte sein. Man kann sich da, glaube ich, auch einmieten und einmal im Jahr – zum Todestag von Rio – findet da ein großes Fest statt.

Wieso habt ihr da nichts mehr mit zu tun?

Kai: Weil viele Emotionen an diesen Ort gebunden sind, und wenn ich da mal hinfahre, dann wenn nicht so viele Leute da sind.
Funky: Nächstes Jahr fahre ich doch mal hin – mit Wohnwagen und Kind. Das soll sehr nett gewesen sein dieses Jahr, ein ganz tolles Fest im kleinen Kreis. Leute haben da ihre Zelte aufgebaut und die Stimmung muss ganz toll gewesen sein. Hätte mir sicher auch gut gefallen.

Der Film deutet ja an, dass Rios Zimmer immer noch im gleichen Zustand sein soll, wie damals.

Funky: Das hoffen wir. Es stand eine Zeit lang leer und seine Gitarre haben sie auf dem Flohmarkt wiedergefunden. Da ist viel weggekommen. Aber jetzt ist das Haus geschützt, denn es wohnt dort jemand, der nach dem Rechten sieht.

Klingt wie ein wenig nach Jim Morrison, wo die Leute alljährlich zu seinem Grab pilgern, so eine Art Star-Tourismus

Kai: Ich stehe diesem Tourismus auch eher kritisch gegenüber, ebenso wie der Glorifizierung Rios und dem Rummel um seine Person. Aber wenn die Familie das gerne möchte, steht mir auch nicht zu, das zu kritisieren. Ich selber habe damit jedenfalls Schwierigkeiten. Es gibt in Deutschland, so weit ich weiß, auch nur zwei Prominente, die privat und nicht auf einem Friedhof beerdigt sind. Franz-Josef Strauß und Rio Reiser, haha.

Wie sieht es heute denn mit dem Kontakt zwischen den SCHERBEN untereinander aus?

Kai: Bis auf Lanrue habe ich zu allen gute Kontakte, der ist ja jetzt in Portugal. Durch die Entfernung und auch durch ein paar andere kleine Unstimmigkeiten ist die Kommunikation im Moment nicht so besonders.
Funky: Das gleiche gilt für mich.

Den Film habt ihr ja sicher gesehen – wie fandet ihr ihn?

Kai: Ich fand ihn in jedem Fall sehenswert. Für mich vor allem, weil da die anderen Bands zu sehen waren, die auch handgemachte Musik mit deutschen Texten machen, keine Computermusik. Das hat mir sehr gut gefallen.

Seid ihr mit der Bandauswahl auch zufrieden? Ein paar haben doch sicher gefehlt.

Kai: Ehrlich gesagt, kenne ich mich nicht gut genug aus auf dem deutschen Markt, um zu sagen, wer da fehlen könnte.
Funky: Es ist ja schwer, so einen Film zu machen. Das ist erstmal eine Doku, wo es um eine spezielle Geschichte geht. Eine, an der ganz viele Leute beteiligt sind. Schade ist zum Beispiel, dass Lanrue nicht in Erscheinung tritt, der ein ganz wichtiger Faktor gewesen wäre. Aber da kann der Filmemacher nichts dafür – Britta hat dazu was im Film gesagt. Es gibt ja zig Filme über geschichtliche Ereignisse und egal wie man so einen Film gestaltet, da werden immer Fragen offen bleiben. Klar, hätte man noch mehr Gruppen reinbringen können. SLIME waren nicht drin, die hätten da super reingepasst, oder die GOLDENEN ZITRONEN. Gut an dem Film war, dass wir über ihn Kontakt mit DAS DEPARTMENT aufgenommen haben und im Herbst mit ihnen auf der Bühne stehen werden. Mit dem STERNE-Sänger haben wir was gemacht, mit dem von ECHT auch und dem von IN EXTREMO. Wir laden viele Leute ein, mit uns zu spielen und ich hätte auch Lust, mal was mit TOCOTRONIC zu machen. Mit DAS DEPARTMENT ist da natürlich ein Generationensprung. Früher hieß es von manchem Punker: Hey, ihr Hippies. Heute sind die selber älter geworden. Wir sind für alles offen und freuen uns, neue Leute kennen zu lernen...

Stimmt es eigentlich, dass Rios späterer Hit "König von Deutschland" noch aus der SCHERBEN-Zeit stammt?

Funky: Genau. Das war auf einem Demotape, das wir für Plattenfirmen aufgenommen haben, um einen Deal zu bekommen und einen Vorschuss, mit dem wir schon mal einen Teil unserer Schulden hätten tilgen können. Das kam aber alles nicht zustande. Die haben einfach nicht angebissen, obwohl wir ständig auf Tour waren und auch immer gut Platten verkauft haben. Die kannten nur "Macht kaputt, was euch kaputt macht"...
Kai: ...da sind wir immer in die Polit-Ecke gedrängt worden...
Funky: ...natürlich auch durch unser Publikum. Da haben wir als Band auch immer drunter gelitten. Wir sind immer in die linke Ecke gesteckt worden. Das war manchmal sehr schwer, weil wir keine Politfreaks sind, die Gitarre spielen. Wir sind immer Musiker mit dem Anspruch gewesen, gute Rockmusik und Songs zu machen und das gut rüberzubringen. Erst jetzt, wo Rio nicht mehr da ist, kapieren die Leute das so langsam, das war damals nicht möglich. Dieses radikale Image ist immer noch bei vielen Leuten im Kopf.

Es stand ja auch so im Buch, dass ihr euch nicht als Politiker verstanden habt, die Musik machen, sondern als Musiker, die auch politische Texte machen.

Funky: Sicher, Politik ist ein Teilaspekt einer menschlichen Person, eines Künstlers. Oder besteht dein Leben zu 100% aus Politik?

Nee.

Funky:
Genau, das haben manche Leute nicht kapiert. Weil sie denken, wir müssten immer dafür zuständig sein. Das haben wir ja auch zum Teil gemacht. Wir haben ja auch versucht, alternatives Leben zu verwirklichen, mit all unseren Unfähigkeiten und Fähigkeiten. Das ist uns ja schon untereinander nicht gelungen...

Danke fürs Interview und noch alles Gute.