MARK ANDERSEN

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Ende letzten Jahres erschien im kleinen US-Verlag Soft Skull Press der 400 Seiten-Wälzer „Dance Of Days - Two Decades Of Punk In The Nation’s Capital“, geschrieben und zusammengestellt von Mark Andersen und Mark Jenkins. Ein faszinierendes und gelungenes Buch (was Dave Smalley, siehe Interview hier im Heft, etwas anders sieht) über die Punk- und Hardcore-Szene der US-Hauptstadt, die mit Bands wie den BAD BRAINS, MINOR THREAT, SOULSIDE, FUGAZI und zig anderen seit den späten Siebzigern nicht nur lokal, sondern weltweit erheblichen Einfluss ausgeübt hat, sowohl in musikalischer wie ideeller Hinsicht. Ich führte mit Mark Andersen per eMail dieses Interview.

Findest du es eigenartig, von einem deutschen Magazin über ein Buch interviewt zu werden, das sich mit einer lokalen Szene in den Staaten beschäftigt?

Ich finde das gar nicht eigenartig, eher inspirirend, eine Bestätigung für die Kraft des Punk-Undergrounds. Es ist ein riesiges Kompliment, dass Leute, die so weit weg von hier leben, an der Sache Interesse zeigen. Mark Jenkins und ich wurden stark von dem beeinflusst, was sich Ende der 70er und Anfang der 80er in Europa, speziell in England, in der Szene tat. Das wiederholt sich jetzt, der Spirit ist so stark, dass er alle Grenzen überwindet.

Wie kamst du auf die Idee mit dem Buch?

Als ich 1984 nach DC gezogen bin, wurde ich ein Teil der dortigen Punk-Szene, lernte etwas über ihre Geschichte und war so begeistert, dass ich mich entschloss, ein Buch darüber zu schreiben, damit die Geschichte weitergegeben werden kann. Da sich niemand freiwillig meldete, hab ich es halt selbst gemacht. Dass ich vorher noch nie ein Buch geschrieben hatte, war für mich nicht so wichtig, denn Punk hat mich gelehrt, an meine Fähigkeiten zu glauben. Ein Buch schreiben – warum nicht?

Wieviel Zeit habt ihr in die Interviews, Artikel etc. investiert und wie habt ihr euch die Arbeit aufgeteilt?

Seit 1986 habe ich sicherlich sieben Jahre lang Fanzines, Flyer, Live-Tapes, Videomatreial etc. ausgewertet und bei meinen Interviews mit über hundert Schlüsselfiguren aus der Szene ungefähr 500 Stunden Interviewmaterial auf Tape gebannt. Insgesamt waren es sicherlich einige 1000 Stunden Arbeit. Obwohl Mark Jenkins erst 1999 als Co-Autor in das Projekt einstieg, hatte er bereits schon länger Einfluss darauf, da ich ihn schon vorher für das Buch interviewt hatte und sehr angetan war von einigen Artikeln, die er in der Vegangenheit geschrieben hatte.

Wie waren die Reaktionen auf das Buch? Zum Beispiel enthüllt es ja einige unangenehme Fakten über die BAD BRAINS.

Wenn man berücksichtigt, dass der Inhalt des Buches natürlich vielen involvierten Personen am Herzen liegt und es niemals ein Buch geben wird, das die ganze Geschichte erzählen kann, waren die Reaktionen sehr positiv. Nicht jeder, über den wir geschrieben haben, mochte es, aber die meisten Menschen respektieren unsere Arbeit. Es ist nicht perfekt, es ist nicht DIE Geschichte der Szene von Washington, und wir wollen andere Leute ermutigen, ihre Seite der Geschichte zu erzählen. Ich hoffe aber, dass sie, wie wir, versuchen werden, ihre Hausaufgaben zu machen, und fair und genau zu sein. Was die BAD BRAINS angeht, habe ich bisher keine Reaktionen, auch von Leuten aus ihrem Umfeld, die ich kenne, bekommen, hoffe aber, dass auch sie das Buch respektieren. Ich will noch mal wiederholen, was schon durch das Buch eindeutig sein sollte: die BAD BRAINS waren für mich und die gesamte DC-Szene ein riesiger Einfluss, ohne sie hätte es eine solche gar nicht gegeben. Aber wie auch jeder andere im Buch erwähnte, sind auch sie nur Menschen mit Stärken und Schwächen. Wir wollten ein ehrliches Buch schreiben, auch wenn das vielleicht nicht immer angenehm ist, ansonsten wäre es sinnlos gewesen. Ich denke, man kann mehr aus seinen Fehlern lernen, als aus den Dingen, die man richtig gemacht hat. Mir war wichtig, dass auch einige meiner Fehler und Fehltritte darin erwähnt werden.

Erzähl unseren Lesern mal was über deine Person und deine Faszination am Punkrock.

Also, ich bin 42 Jahre alt, auf einer Farm in Montana aufgewachsen und arbeite momentan als unterbezahlter Anwalt in DC. Ich bin von Patti Smith und dem ganzen frühen britischen Punk beeinflusst, Bands wie SEX PISTOLS, CLASH, DAMNED usw. Mich fasziniert an diesem Lebensstil, dass man für Ehrlichkeit, selbständiges Denken und Wahrheit eintritt, verbunden mit dem Sinn für uneingeschränkte Möglichkeiten. Punk bedeutet: ‚Keep growing, stay real‘.

Was macht die DC-Szene so einzigartig?

Schwer zu sagen, dazu hat wahrscheinlich jeder eine eigene Meinung. Für mich persönlich war es die grundsätzliche Verpflichtung, mich in unterschiedlichen Lebensphasen weiter zu entwickeln und Punk nicht nur ausschließlich als rebellische Periode in der Jugend anzusehen. Ein Großteil der Schlüsselfiguren der DC-Szene ist länger dabeigeblieben, als bei jeder anderen, mir bekannten Szene, was geholfen hat, wirkliche Fortschritte zu erzielen, anstatt nur irgendwelchen Jugendidealen nachzujagen.

Denkst du, die DC-Szene ist ein Mikrokosmos innerhalb der gesamten Szene bzw. ein Vorbild?

An sich beides. Aber angesichts der Konsequenz, wie sie immer sich selbst und ihren Idealen treu geblieben ist, würde ich zu letzterem tendieren.

Hast du eine Erklärung dafür, warum gerade so viele Bands aus DC national und international so viel Respekt genießen?


Ich glaube, es ist eine Kombination aus der Hingabe für die Sache und den Dingen, die ich bereits oben angesprochen hatte. DC ist echt, es gibt ein Herz und eine Seele, das geht weit über den Verkauf von Merchandise hinaus.

Wie hat es sich ausgewirkt, dass Washington DC auch die Hauptstadt der USA ist? Sitzt man näher an den Schalthebeln der Macht, dadurch dass sicherlich die Eltern vieler Leute für die Regierung arbeiten?

Natürlich hat das einen Einfluss auf die Szene gehabt, was wir auch versucht haben, in dem Buch zu verdeutlichen. Der schmerzhafte Widerspruch dieser angeblichen Demokratie, wo Macht und Privilegien direkt neben Armut und Verzweiflung zu finden sind, ist hier deutlich zu sehen. Shaw, der Stadtteil, in dem ich arbeite und der nur ein paar Blocks vom Capitol und dem Weißen Haus entfernt ist, spiegelt ein fast komplett anderes DC wider, bestimmt von Gangs und Drogen als wichtigsten wirtschaftlichen Faktoren, wo sich die Leute vollkommen verlassen von der herrschenden Klasse vorkommen. Man muss schon völlig abgestumpft sein, wenn einen das nicht betroffen macht.
Diese Widersprüche sind noch viel erschreckender, wenn deine Eltern für Institutionen arbeiten, die den Notleidenden eigentlich helfen sollten, es aber nur selten tun. Diese Kluft zwischen einem bestimmten Ideal von DC und der Wirklichkeit kann einen sehr radikalisieren, so wie es bei mir der Fall war.

Denkst du, dass die Szene in DC heute immer noch so lebendig und wichtig ist, wie sie es in den 80ern war?

Schwer zu sagen. Es wird heute noch viel getan, was extrem wichtig ist – nicht nur in Bezug auf Musik. Und die beteiligten Leute versuchen dabei noch immer, bestimmte Punk-Ideale fortzuführen, auch in für sie neuen Bereichen wie etwa Kindererziehung oder Sozialarbeit.

Was tut sich momentan, welche Bands genießen im Moment einen besonderen lokalen Status?

Was Dischord betrifft, sind Q & NOT U eine wundervolle Band, ebenso wie THE DUSTERS, DISMEMBERMENT PLAN, DEL CIELO und QUIX-O-TIC. Sehr bedauerlich, dass sich BURNING AIRLINES aufgelöst haben. Im Anarcho-Bereich waren CRISPUS ATTUCKS ziemlich klasse, eine neue, sehr gute Band in diesem Bereich ist VIRGINIA BLACK LUNG. Ich bin mir aber sicher, dass es momentan noch jede Menge anderer großartiger Bands gibt.

Wie sieht es mit den „großen Namen“ aus?

FUGAZI sind natürlich nach wie vor eine sehr einflussreiche Band. Genauso wichtig sind Bands wie GIRLS AGAINST BOYS, BRATMOBILE oder LE TIGRE, auch wenn sie in anderen Städten zu Hause sind.