DIE HANDHABUNG DER UNGEWSISSHEIT

Tikus O.

Sozialkritische Romane sind seit den Zeiten Heinrich Bölls aus der Mode gekommen. Damals legte man gerne den Finger in Wunden, prangerte an, fertigte Gesellschaftsstudien an, das war Volkssport. Tikus O.s Roman geht in diese Richtung, bleibt aber als stiller Beobachter im Hintergrund, gewährt einen beinahe wissenschaftlichen Einblick in die Biografien von drei Menschen am Rande der Gesellschaft.

So schickt er die junge Soziologin Selina in den Ring. Diese lernt den ehemaligen Musiker Ludwin kennen, in dessen Leben wenig rund lief. Der 64-Jährige blickt auf den Scherbenhaufen seiner kleinbürgerlichen Existenz: Traum von Rock’n’Roll-Karriere geplatzt, Job als Orchestermusiker verloren, Job in Fabrik nach Arbeitsunfall weg, rechte Hand nach Arbeitsunfall amputiert, Ehe geschieden, Ehefrau umgebracht, Kind im Heim.

Alles ging den Bach runter, der Mann musste sich bereits von vielem verabschieden. Selina lädt Ludwin zu einer Befragung in ihr Institut, um mehr über seinen Werdegang zu erfahren, natürlich aus wissenschaftlichem Interesse.

Ein langes Gespräch folgt, aber sie erfährt nur die halbe Geschichte. Als Ludwin nicht zum zweiten Interviewtermin erscheint, ermittelt die Forscherin auf eigene Faust, und stößt auf eine schreckliche Geschichte, eine Vita, die immer neue, furchtbare Schläge verkraften musste.

Schließlich lernt sie dann noch Ludwins Sohn kennen, der bereits in jungen Jahren eine ähnlich verquaste Lebensgeschichte vorzuweisen hat. Das erschütternde Fazit aus dem Roman ist, dass solche Verliererbiografien nur aus wissenschaftlicher Sicht interessant zu sein scheinen und dass das Pinkeln im Stehen tödlich enden kann.