ELLIOTT

Mit "False Cathedrals" haben sich ELLIOTT endgültig von ihren Hardcore-Wurzeln gelöst, um die gesamte Musikwelt mit einem wunderschönen, zutiefst emotionalen Rock-Album zu überraschen. Mit dem Sound des letzten Longplayers "U.S. Songs" (1998) hat das neue Werk freilich nur noch etwas am Rande zu tun. Ich sprach mit Sänger Chris Hidgon.

"False Cathedrals" wurde nach dem gleichnamigen Bild des New Yorker Künstlers Greg King benannt, das auch auf dem Cover des neuen ELLIOTT-Albums abgebildet ist. Für Chris Hidgon, den charismatischen Sänger von ELLIOTT, verkörpert der leicht religiös anmutende Titel aber noch wesentlich mehr, wie er gleich am Anfang unsere Gespräches erzählt: "Der Plattentitel spielt aus meiner Sicht auch auf die falschen Ideale an, mit denen wir permanent unsere Zeit verschwenden. Wir setzen viel zu oft falsche Prioritäten in unserem Leben." Zum Beispiel? "Wenn wir uns hauptsächlich mit Arbeit und unserer Karriere beschäftigen, obwohl uns unsere Freunde oder Familienmitglieder viel dringender brauchen würden." Eine religiöse, christliche Dimension beinhaltet "False Cathedrals" aber nicht, oder? "Nein, ich bin definitiv kein Heiliger", lacht Chris, "Ich habe auch so meine Fehler und setze oft falsche Prioritäten. Aber es stimmt schon, dass wir manchmal gerne religiöse Symbole verwenden, weil man mit Bildern dieser Art sehr gut arbeiten kann. Aber besonders religiös sind wir bestimmt nicht."

Und gibt es eine politische Dimension, was ein Song wie zum Beispiel "Calm Americans" eventuell vermuten lassen könnte? "Ja, in gewisser Weise schon, und zwar Kritik an der amerikanischen Gesellschaft und am Kapitalismus generell. Wenn man nicht produktiv genug ist und nicht viel Geld verdient, wird man von der Gesellschaft nicht geachtet, dabei sind doch ganz andere Dinge im Leben wesentlich wichtiger. Erfolg kann man nicht nur in finanzieller Hinsicht messen. Es gibt sehr viele verschiedene Arten von Erfolg." Da kann man ihm kaum widersprechen, weshalb wir nun auch lieber auf die musikalischen Veränderungen zu sprechen kommen, die sich seit "U.S. Songs" ergeben haben.

Früher konnte man ELLIOTT (und auch die Vorgängerband FALLING FORWARD) noch relativ einfach in die Post Hardcore- oder Emo-Schublade einordnen, was mit dem neuen Werk nicht mehr ganz so einfach ist. Chris sieht das sehr ähnlich: "Im Prinzip möchte ich uns einfach nur als Rock´n´Roll-Band bezeichnen, die sich kontinuierlich weiterentwickelt. Wir wollen unseren Sound stets mit neuen musikalischen Elementen anreichern, damit die ganze Sache nicht nur für die Hörer, sondern auch für uns persönlich spannend bleibt. Einfach neue Territorien erschließen, ohne die eigenen Wurzeln zu verleugnen." Was mich zu der Frage inspiriert, ob er sich immer noch mit der Hardcore-Szene verbunden fühlt. "Ja, natürlich", lautet die spontane Antwort. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern wird. Auch wenn man wächst und größer wird, sollte man die Vergangenheit nicht verleugnen. Manche Bands vergessen ihre Vergangenheit ja recht gerne und schließen die Türe hinter sich, wenn sie populär geworden sind. Ich möchte das auf jeden Fall anders handhaben, auch wenn wir poppiger und eingängiger geworden sind. Pop bedeutet für mich primär mehr Melodien, die im Ohr hängen bleiben. Wir lassen uns beim Schreiben von Songs treiben - wenn ein Stück ein Klavierarrangement verlangt, dann bekommt es auch ein Klavierarrangement. Jeder Song kriegt den Freiraum, den er benötigt."

Glaubt er, dass die Leute - und speziell die Hardcore-Fans - sehr überrascht sein werden, wenn sie sich das neue Album zum ersten Mal anhören? Immerhin klingt es wesentlich erwachsener, ausgereifter und ruhiger als noch der Vorgänger. "Ich hoffe, dass die Leute überrascht sein werden! Ich möchte den Hörern nicht immer das geben, was sie von uns erwarten - ich möchte mir in erster Linie als Künstler treu bleiben. Auf der anderen Seite möchte ich die Erwartungen natürlich auch nicht völlig enttäuschen. Grundsätzlich glaube ich aber, dass die Menschen mit uns und unserem Sound wachsen, weil auch sie älter werden und ihren Geschmack ändern." Die konkreten musikalischen Änderungen, die sich im Laufe der letzten beiden Jahren ergeben haben, beschreibt Chris folgendermaßen: "Das neue Album ist sicherlich ein konzentrierteres Stück Arbeit, für das wir uns viel mehr Zeit genommen haben. Wir sind in dieser Zeit erwachsener und weiser geworden, was man der Platte auch deutlich anhört. Sie ist nicht mehr so roh wie damals noch das letzte Album, sondern wesentlich ausgefeilter. Hinzu kommt, dass ich diesmal offenere, direktere Texte verfasst habe, was ich ganz bewusst getan habe. Das sind wohl die wichtigsten Hauptunterschiede."

Und was ist mit den dezenten Samples und elektronischen Spielereien, die für eine Band wie ELLIOTT doch eher ungewöhnlich sind, obwohl auch schon andere Combos dieser Liga (siehe FIRESIDE) auf die selbe Idee kommen? "Die Samples haben wir verwendet, um neue Klänge zu erforschen und unseren Sound um ein paar interessante Elemente zu erweitern. Je mehr Farben du für ein Gemälde zur Verfügung hast, desto bunter und schillernder wird das Bild auch am Schluss. Wir wollten einfach neue Wege beschreiten und andere Möglichkeiten ausloten." Was ihnen zweifellos auch gelungen ist, was auch am neuen, selbst eingerichteten Studio der Band liegt, das sich in einem uralten Gebäude in Louisville befindet: "Unser Schlagzeuger Kevin hat ein eigenes Studio eingerichtet, in dem wir sehr viel geprobt und experimentiert haben. Wir haben dort unsere Demos aufgenommen, was wir in Zukunft noch viel stärker betreiben wollen. Aufgenommen haben wir die neue Platte allerdings in einem anderen Studio in Los Angeles, wo wir über einen Monat lang 16 Stunden pro Tag gearbeitet haben. Danach waren wir ganz schön ausgelaugt und fertig." Die Mühe hat sich wirklich gelohnt, wie ich finde.

Welche Musik, die in den eigenen vier Wänden gehört wird, hatte eventuell Einfluss auf das neue Material? "Ich höre mir eigentlich fast alles an. Von jedem etwas sozusagen. Zur Zeit sehr viele von den neuen Rock-Bands wie zum Beispiel RADIOHEAD, FOO FIGHTERS oder DEFTONES. Aber auch alte D.C.-Sachen wie MINOR THREAT, FUGAZI und SHUDDER TO THINK." Und später, als er einen kurzen Blick auf seine Plattensammlung wirft, fügt er noch hinzu: "NICK DRAKE und TALK TALK finde ich auch ganz gut." Grundsätzlich scheinen alle Mitglieder von ELLIOTT einen verschiedenen Geschmack zu haben, der laut Chris in einem Art Schmelztiegel zusammenläuft: "Jeder bringt die verschiedensten Einflüsse von aussen ein, um diese mit unseren Fähigkeiten und unserem ureignen Sound zu kombinieren. Ich liebe es, Musik von anderen Künstlern zu hören."

Ich natürlich auch, speziell die neue ELLIOTT-Platte, auf der ich auch mit atmosphärischen, eher ruhigen "Blessed By Your Own Ghost" einen persönlichen Lieblingssong gefunden habe. Welches ist das Lieblingsstück von Chris? "Das ändert sich von Zeit zu Zeit. Am Anfang fand ich "Drive On To Me" am besten, weil das ein sehr eingängiger, typischer Rocksong ist. Aber momentan ist es wahrscheinlich auch "Blessed By Your Own Ghost". Ich bin schon ganz heiss darauf, endlich das neue Material live präsentieren zu dürfen. Wir werden den Songs in der Live-Umsetzung neues Leben einhauchen, so dass sich die Besucher bestimmt nicht langweilen werden." Man darf also auf die Europa-Tournee gespannt sein, die die Jungs im Januar/Februar auch nach Deutschland führen wird. "In dieser Jahreszeit soll es ja verdammt kalt bei euch sein", tönt es leicht besorgt aus dem Hörer. "Für uns ist es trotzdem eine gute Zeit zum Touren, weil im Winter nicht besonders viele Bands auf Achse sind - das ist ein Vorteil. Vorher werden wir ausführlich die Staaten beackern, um dann nach einer kleinen Weihnachtspause zu euch zu kommen." Es wird übrigens das erste Mal sein, dass ELLIOTT in Deutschland spielen werden und dabei sogar Frostbeulen in Kauf nehmen: "Ich war noch nie in Deutschland - ich freue mich wirklich darauf. Das wird eine ganz neue Erfahrung für uns."

Themawechsel: Welche Hoffnungen investieren ELLIOTT eigentlich in die neue Scheibe? Die Erwartungen dürften ja schließlich ziemlich groß sein, wenn man bedenkt, dass "U.S. Songs" angeblich das erfolgreichste Album in der gesamten Geschichte von Revelation Records ist. "Ich bin mir gar nicht sicher, ob es tatsächlich das erfolgreichste Album in der Geschichte von Revelation Records ist", zweifelt Chris, "Aber es ist sicherlich die Platte, die sich am meisten seit TEXAS IS THE REASON in den letzten Jahren verkauft hat. Es ist wirklich gut gelaufen für uns, was auch darin liegt, dass Revelation eine Menge treuer Fans haben, die sich alle Releases zulegen. Ob unsere Sachen natürlich typische Revelation-Veröffentlichung sind, weiss ich nicht. Und ob jeder Käufer unsere Sachen dann auch gut findet, weiss ich ebenfalls nicht. Aber ich hoffe, dass wir viele neue Leute erreichen werden und somit auch das Label ein wenig pushen können."

Womit wir bei der obligatorischen Frage wären, ob sich ELLIOTT jemals einen Vertrag mit einem Major-Label vorstellen könnten. "Sag niemals nie", gibt sich Chris diplomatisch. "Momentan käme so etwas für mich allerdings nicht in Frage, weil wir mit unserem Label sehr zufrieden sind. Außerdem gefallen mir die Geschäftspraktiken der Majors zur Zeit wirklich nicht besonders. Realistisch betrachtet geht es bei den großen Firmen doch nur ums Geld und ums Business. Wenn du keinen Hit auf dem ersten Album für sie ablieferst, wirst du gefeuert - so sieht es doch aus! Sie kümmern sich nicht um die Musik selbst, sondern nur um den kommerziellen Erfolg - Top 40 oder nicht." Eine gesunde Einstellung, die der gute Chris hier an den Tag legt. "Weisst du", fährt er fort, "wir wollen lieber langsam in einer Independent-Umgebung wachsen. Ich wäre ja gerne naiv, was die Major Labels betrifft, aber man muss auch der Realität ins Auge blicken." Und was hält er dann von der ganzen MP3-Kontroverse, die die unterschiedlichsten Meinungen ans Tageslicht bringt? Die großen Plattenfirmen jammern, dass sie deshalb bald am Hungertuch nagen werden. Große Bands wie METALLICA jammern ebenfalls, während andere bekannte Truppen wie zum Beispiel LIMP BIZKIT die ganze Sache aktiv unterstützen. "Puh, eine schwierige Frage", stöhnt Chris. "Ich fange nämlich jetzt erst langsam an, mich für dieses Thema zu interessieren. Wir haben bislang auch nur eine bescheidene Homepage, die aber bald durch eine neue Seite ersetzt werden soll. Aber grundsätzlich finde ich, dass das Internet eine feine Sache ist, so lange die klassischen Formen der Kommunikation wie zum Beispiel das Schreiben von Briefen dadurch nicht verdrängt werden. Die ganze Napster-Geschichte finde ich in Ordnung, so lange die Leute noch in die Shops gehen, um Platten zu kaufen. Oder wenigstens noch zu den Konzerten kommen. Das Tauschen oder Kopieren gibt es ja schon lange. Früher waren es Kassetten, heute sind es digitale Techniken, die es einem natürlich einfacher und bequemer machen. Als Künstler wünsche ich mir in erster Linie, dass die Menschen unsere Musik mögen. Und wenn sie die Musik mögen, dann werden sie auch die Band unterstützen. Langfristig gesehen glaube ich, dass die neue Technologie den Künstlern eher nutzen als schaden wird."

Und dann plaudert er noch ein wenig aus dem persönlichen Nähkästchen: "Meine Familie stammt aus dem klassischen Journalismus, der ja in gewisser Weise auch vom Internet betroffen ist. Da stellt sich natürlich auch die Frage, ob es irgendwann noch klassische Zeitungen geben wird, die auf Papier gedruckt sind. Werden wir eines Tages nur noch vor dem Bildschirm sitzen? Oder wird die Zeitung erhalten bleiben? Wir werden sehen..." Und ich werde auf jeden Fall ELLIOTT sehen, wenn sie im Februar in München spielen. Man sieht sich.