PHANTOM LIMBS

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Mehr Kurt Weill als DURAN DURAN

Die PHANTOM LIMBS sind eine sehr außergewöhnliche Band. Selbst nach intensivem Nachdenken und Herumschleichen vor der Plattensammlung fällt mir nicht eine Band ein, die so klingt wie der Fünfer aus San Francisco. Schon auf ihrem 2001 erschienenen Debütalbum „Aplied Ignorance“ konnten die PHANTOM LIMBS mit düsteren, noisigen und vertrackten Songs begeistern, aber erst das im letzten Jahr in den USA von Alternative Tentacles und in Europa von Transsolar Records veröffentlichte Album „Displacement“ konnte – nicht nur durch den viel klareren und dadurch noch intensiveren Sound – das Potential dieser genialen Band wirklich offenbaren. Ein Sänger, der mit seiner – zugegeben etwas gewöhnungsbedürftigen – Stimme unterschiedlichste Emotionen übermitteln kann und ein wahnsinniges, scheinbar völlig jeder Kontrolle entzogenes Keyboard prägen den einzigartigen Punkrock der PHANTOM LIMBS, der eben düster, aber nicht peinlich pseudo-böse und eher unkonventionell, aber trotzdem höchst eingängig ist. Ich schickte den Jungs ein paar Fragen, die Keyboarder Stevenson und Sänger Hopeless prompt beantworteten. Letzterer ist übrigens für einen Großteil des Artworks der Band verantwortlich, das man auf seiner Website reversibleeye.com mal näher begutachten sollte.

Zuerst die Basics, bitte.

Hopeless:
„Bis auf Jason ‚Jumanji‘ Miller stammen wir alle aus Los Angeles, sind aber vor einiger Zeit nach San Francisco bzw. Oakland gezogen. Stevenson, unser Bassist Skot und der Schlagzeuger Mike haben mich gefragt, ob ich in ihrer neu gegründeten Band singen will. Ich wollte.“
Stevenson: „Unseren Gitarristen Jason haben wir kennen gelernt, als wir gerade unseren Gitarristen gefeuert hatten und das Dach in unserem Haus leckte. Einer der Dachdecker, die der Vermieter angeheuert hatte, war Jason. Wir haben uns unterhalten, eine Menge Gemeinsamkeiten festgestellt, und obwohl er unsere Couch völlig mit Teer versaut hat, haben wir ihn direkt als neuen Gitarristen verpflichtet.“

Habt ihr vorher schon in Bands gespielt? Eventuell in welchen, die es wert sind, dass man sich ihrer erinnert?

Hopeless:
„Ich war bei BOY SCOUTS OF ANNIHILATION und VALLEY FEVER, außerdem Bandleader und Organist bei einem kleinen Zirkus namens ‚Circus Ridiculous‘. Skot spielte bei ANAL KITTIES und Mike bei THE GODS. Er ist zudem noch Mitglied von SCURVEY DOGS. Jumanji hat in Ohio und Pittsburgh in einigen Bands gespielt.“
Stevenson: „Ich spiele derzeit noch zusammen mit Skot bei BLACK ICE und war mal bei FACTORY OF ANGST und den ELECTROCUTION BOYS. Zu einigen dieser Bands lassen sich auf unserer Website auch Links finden, falls mehr Interesse besteht.“

Was sind eure musikalischen Einflüsse?

Hopeless:
„Wir mögen Punk, Deathrock, Industrial, No Wave, Postpunk, aber auch klassische Musik. Stevenson hat als Kind Klavierunterricht bekommen, auch das ist ein großer Einfluss.“
Stevenson: „Tatsächlich habe ich als Jugendlicher das klassische Klavierspiel gelernt. Mein Geschmack ist breit gefächert: Neben den ganzen großartigen Deathrock-, Punk- und Postpunk-Bands der späten 70er und frühen 80er mag ich auch Hank Williams, Sinatra, Edith Piaf oder Serge Gainsbourg. Mike und Jason hören Metal, Skot mag Barbershop Raga. All dieses Zeug findet sich in unserem Songwriting wieder.“

Apropos Deathrock – so wird auch immer wieder gerne eure Musik kategorisiert. Könnt ihr damit leben?

Hopeless:
„Deathrock bedeutet Moll-Akkorde. Wir mögen Moll-Akkorde. Punk ist normalerweise rau und energisch, das würde also auch passen. Du kannst es aber auch Postpunk nennen.“
Stevenson: „Es ist schon komisch. Als die Band anfing, habe ich Sachen wie Herb Albert, Dean Martin und Serge Gainsbourg gehört und sicherlich nicht daran gedacht, eine Deathrock- oder Punk-Band zu gründen. In Anbetracht dessen, zu was Punk geworden ist, würde ich uns lieber als Deathrock- und weniger als Punk-Band bezeichnet sehen, aber solange den Leuten die Musik gefällt, ist es mir egal, in welche Schublade sie uns stecken.“

Ein „phantom limb“ ist eine amputierte Extremität, die trotzdem noch gefühlt werden kann. Basiert der Bandname auf einer persönlichen Erfahrung?

Hopeless:
„Ja. Allerdings eher in einer metaphysischen als physischen Ebene: Wissen zu erlangen oder Möglichkeiten zu erkennen und dabei zu fühlen, dass sie kaum zu erreichen sind.“

Eure beiden Alben sind bei Alternative Tentacles erschienen, die europäische Pressung von „Displacement“ aber bei Transsolar Records. Wie kam es dazu?

Stevenson:
„Chris von Transsolar hat uns auf unseren beiden Shows in Berlin gesehen und war sehr angetan von unserer Musik. Da unser erstes Album in Europa sehr schwierig zu bekommen war, haben wir einen Lizenzvertrag mit Transsolar gemacht, so dass ‚Displacement‘ hoffentlich besser zu finden ist.“

Der Sound auf „Displacement“ ist um einiges cleaner als noch auf „Applied Ignorance“, der Gesang ist weniger verzerrt, und die Songs scheinen ausgefeilter zu sein. Trotzdem klingt die Platte noch durchgeknallter. Kontrollierter Wahnsinn?

Hopeless:
„Das erste Album war absichtlich so dicht und noisig geplant. Bei den Aufnahmen für ‚Displacement‘ haben wir uns dafür entschieden, ein besseres Studio aufzusuchen und einen Produzenten hinzuzuziehen, um ein eher akribisch aufgenommenes und gemischtes Album zu machen. Es war toll, mit Dan Rathbun zu arbeiten, und wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Beim nächsten Mal werden wir wahrscheinlich wieder was anderes ausprobieren. Wir wollen, dass alle unsere Platten anders klingen und für sich alleine stehen.“

Im Presseinfo zu „Displacement“ steht: „Don‘t expect today‘s glut of punks-with-keyboards playing 80s redux! THE PHANTOM LIMBS (...) [find] inspiration in Kurt Weill rather than DURAN DURAN & CULTURE CLUB.“ Das stammt zwar nicht von euch, aber habt ihr eine Abneigung gegen Bands wie EPOXIES, BRIEFS oder CRIPPLES?

Hopeless:
„Wenn man einige Beschreibungen unserer Musik liest, könnte man meinen, wir würden die 80er neu aufleben lassen, aber dem ist nicht so. Manche Menschen erwarten nach dem Lesen einer dieser Beschreibungen auch, wir würden wie Zappa oder MR. BUNGLE klingen, aber auch das stimmt nicht. Wir haben gradlinige und treibende Melodien, zwar mit dem ein oder anderen ungewohnten Break oder auch mal ein paar eher unkonventionelle Töne, aber nichts wirklich Exzentrisches. Was wir machen, ist nicht neu, es ist nur nicht wirklich bekannt in der Rockmusik.“
Stevenson: „Es gibt wirklich weit schlimmere Bands als die, glaub mir. Wir sind uns im Klaren darüber, dass wir nie einen Top-40-Hit landen werden, wir sind zufrieden mit unserem ‚Kultstatus‘ und sehen uns nicht im Konkurrenzkampf mit anderen Bands. Wenn wir auf einen Anruf von MTV warten würden, dann würden wir nicht solche durchgeknallten Songs schreiben. Ehrlich gesagt, würde ich mir aber eher DURAN DURAN als Frank Zappa anhören.“

Kurt Weills Arbeit wurde von den Nazis verbrannt. Im „Displacement“-Booklet gibt es ein Foto, dass euch dabei zeigt, wie ihr Bücher verbrennt. Wie sieht Weills oder auch Bertolt Brechts Einfluss auf eure Musik aus?

Hopeless:
„Das Foto ist nicht von Kurt Weill inspiriert. Wir lieben Weills Musik und den Kram, den er mit Brecht gemacht hat. Bisher habe ich aber noch nichts von Brecht gelesen.“
Stevenson: „Wir haben das Foto ursprünglich während der Aufnahmen zu ‚Applied Ignorance‘ gemacht, aber nicht für die Platte benutzt. Da es thematisch auch zu ‚Displacement‘ passt, haben wir es halt jetzt verwendet. Hopeless könnte dir seine Signifikanz besser erklären, aber er scheint heute nicht sehr gesprächig zu sein. Kurt Weill und speziell die ‚Dreigroschenoper‘ sind ein großer Einfluss für uns. Weill sagte, dass es keinen Unterschied zwischen seriöser Musik und Popmusik gibt, es gäbe nur schlechte oder gute Musik. Das hat uns gefallen. Mein Wissen über Brecht ist leider beschränkt auf seine Arbeit mit Weill. Viele Leute behaupten, dass Brechts beste Arbeiten – die ‚Dreigroschenoper‘ eingeschlossen – von seinen Geliebten geschrieben wurden, ohne dass sie als Urheber genannt wurden. Er war anscheinend ein ‚womanizer‘. Andere sagen wiederum, dass er lebenslang ein Anhänger Stalins war und dass er eine Party für die Nazis geschmissen hat, als sie an die Macht kamen. Er war also vielleicht auch nur ein Stück Scheiße, wer weiß ...“

Eure Musik hat schon etwas „Gruseliges“ an sich. Gerade Stevensons Keyboards erinnern an die Sounds, die John Carpenter für seine Filme komponiert hat. Könnt ihr euch für Horrorfilme begeistern?

Hopeless:
„Ich habe wenig Interesse an Horrorfilmen, Viele Menschen assoziieren Dissonanz und bestimmte Notenkombinationen mit Horrorfilmen, was wohl daran liegt, dass sie solche Sounds nur von dort kennen.“
Stevenson: „Wir mögen Horrorfilme, aber keiner von uns ist ein ‚Horror-Junkie‘. ‚Suspiria‘ ist mein Lieblingshorrorfilm und der Score ist großartig, aber ich denke nicht, dass Horrorfilm-Musik einen großen Einfluss auf uns hatte. Jedenfalls sind wir uns dessen nicht bewusst.“

Ihr habt eine Split-Single mit den FLESHIES gemacht. Ich hatte das Vergnügen, sie auf ihrer letzten Europatour zu sehen, und ihr Sänger Johnny No Moniker zeigt eine wirklich interessante Bühnenshow. Auch eurem Sänger Hopeless wird eine etwas „andere“ Art Bühnenshow nachgesagt.

Hopeless:
„Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten mit dem Publikum zu kommunizieren, als bloß aufzutreten. Ich denke, ich kann auch in Johnnys Sinne sagen, dass wir an einer wirklichen Erfahrung interessiert sind und nicht einfach nur losrocken wollen. Wir hoffen auf Spontaneität und Überraschung, irgendeine Form der Interaktion, auf einen Dialog, sei er physisch oder auch anders geartet. Manche Leute agieren auf der Bühne, als würden sie vor einem Spiegel proben. Ich will auf das reagieren, was um mich herum geschieht, will auf Individuen im Publikum reagieren, auf das, was sie tun und was sie fühlen.“

Ihr habt eine 7“ mit alten Tracks von ausverkauften Singles veröffentlicht, die einem Comic des deutschen Zeichners Michalke beiliegt. Wie kam es dazu?

Hopeless:
„Wir haben uns auf der Europatour getroffen und von da an nahmen die Dinge ihren Lauf. Wir waren mit seiner Arbeit zwar nicht vertraut, sind jetzt aber, nachdem wir sie gesehen haben, sehr begeistert.“
Stevenson: „Es war ein Vorschlag von Chris von Transsolar. Uns gefiel die Idee, und wir sind mit dem Ergebnis wirklich sehr glücklich.“

Ich habe euch leider auf eurer Europatour verpasst. Hat es euch gefallen und, viel wichtiger, kommt ihr noch mal zurück?

Stevenson:
„Es war wirklich großartig, in Europa zu spielen. Wir konnten endlich einen großen Teil der Menschen treffen, mit denen wir schon seit Jahren übers Internet kommunizieren. Leider hat uns unser Booker auf der letzten Tour hauptsächlich in besetzte Häuser gebucht. Es ist ermüdend, ständig in derselben Umgebung zu spielen. Wenn wir durch die USA touren, spielen wir an den unterschiedlichsten Orten. Das geht von kommerziellen Clubs über Keller und Hauspartys bis hin zu Shows unter freiem Himmel. Wir mögen Abwechslung und wollen auch für verschiedene Arten von Publikum spielen. Ich hoffe, wir kommen bereits im September wieder nach Europa.“