FALL

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Die zwei Gesichter des Mark E. Smith

Mein erstes FALL-Konzert besuchte ich am 13. April 1984 in der Hamburger Markthalle, während der „Perverted By Language“-Tour: THE FALL mit zwei Schlagzeugern, die Kleidung der Band alltäglich, die Bühnenshow langweilig, die Musik monoton und der Gesang in einem nuscheligen Manchester-Akzent. Dennoch hatte ich Feuer gefangen und quälte fortan meine Mitbewohner mit THE FALL. Anlässlich des Konzertes am 10.10.2004 in der Hamburger Fabrik ergab sich die Möglichkeit, mit Mastermind Mark E. Smith zu sprechen.

THE FALL kommen aus Manchester und sind vor allem das geistige Kind von Sänger Mark E. Smith, geboren am 5. März 1957 in Manchester und auch dort aufgewachsen. Nach der Schule arbeitete er in einer Fleischfabrik und als Zollgehilfe im Hafen. THE FALL gingen aus den 1976 gegründeten OUTSIDERS hervor – der Name geht zurück auf eine Erzählung von Albert Camus. Die Gründungsformation bestand aus Mark E. Smith, Gesang, Una Baines am Piano, Tony Friel, Bass, Martin Bramah, Gitarre, und einem gewissen Dave am Schlagzeug. Im Mai 1977 fand die Bühnenpremiere von THE FALL statt. Ob in Arbeitervereinen oder auf der Weihnachtsfeier im Supermarkt, die Band nahm von da ab alles mit, was sie an Auftritten bekommen konnte. Im selben Jahr wurde auch die erste EP „Bingo Master’s Breakout“ aufgenommen. Und es gab auch die ersten personellen Wechsel: Bassist Tony Friel ging und für ihn kam der 16-jährige Marc Riley (Bass, Gitarre, Keyboard). Allerdings blieb diese EP unveröffentlicht, da niemand THE FALL einen Vertrag anbot. Erst knapp ein Jahr später veröffentlichte Miles Copeland, der Bruder des POLICE-Schlagzeugers, diese EP auf seinem Label Step Forward. Copeland betrieb das Label damals zusammen mit Mark Perry von ALTERNATIVE TV und Macher des Fanzines Sniffin’ Glue. Bevor jedoch diese EP im August veröffentlicht wurde, nahmen THE FALL am 30. Mai 1978 eine BBC-Session für John Peel auf. Der im Oktober letzten Jahres verstorbene BBC-DJ zählte zweifelsohne zu den ganz großen Fans der Band. Er umschrieb die Platten von THE FALL sehr treffend mit „they are always different, they are always the same“. Immerhin gibt es von THE FALL 24 John Peel Sessions. Gerüchten zufolge sollen diese im Frühjahr komplett in einer CD-Box auf den Markt kommen.

Wie für so viele Bands der damaligen Zeit, war auch für Mark E. Smith ein Konzert der SEX PISTOLS 1976 der entscheidende Auslöser, eine Band zu gründen. THE FALL gehörten aber nie einer bestimmten Musikszene an. „Ich habe keine Verbindung zur Punkszene. Als wir begannen, gab es noch die BUZZCOCKS. In Manchester gab es immer viele verschiedene Musikszenen.“ THE FALL bemühten sich immer, den Erwartungen ihres Publikums nicht zu entsprechen. Damit verbunden war natürlich auch eine permanente Erfolglosigkeit. Mitte der 80er gab es dann mit „Mr. Pharmacist“ einen kleinen Hit – Platz 75 in den englischen Charts. Live wird dieser Song nach wie vor gerne gespielt, und im Internet findet man zu fast allen Konzerten auch die jeweiligen Playlists, wo dieses Stück immer wieder auftaucht. Darin geht es um Drogen – „Mr. Pharmacist, give me some pills“ –, und denen gegenüber war Herr Smith nie abgeneigt.

Trotz einer Therapie sitzt er jetzt allerdings Bier trinkend vor mir, und seiner Stimme nach zu urteilen, hat er schon einiges intus. Gibt es eine tiefere Verbindung zum Stück „Mr. Pharmacist“? „Nein, es ist einfach ein guter Song. Im Ernst, es ist gut für die Gruppe, ihn zu spielen, für das Timing. Wir spielen nicht viele alte Songs, die Hälfte der Songs sind neu. Ich höre die alten Songs nicht mehr. Sie interessieren mich nicht mehr. Aber das mit dem Internet, das ist echt eine verrückte Sache: Jeder weiß mehr als du selbst. Das passiert mir häufiger, wildfremde Menschen tauchen auf und erzählen mir plötzlich Dinge über mich, von denen ich gar nichts weiß, haha.“

Sobald jemand allerdings die Band für sich entdeckte und vereinnahmen wollte, setzte sich Mark E. Smith zur Wehr und legte sich mit dem Publikum an. Ich erinnere mich noch, dass Mark E. Smith 1984 einen großen Teil des Konzertes über mit dem Rücken zum Publikum stand. Erst viele Jahre und einige Konzerte später habe ich ihn mal während eines FALL-Konzerts Anfang der 90er lächeln sehen. „Ich bin oft nervös, wenn ich arbeite. Ich versuche mich zu konzentrieren. Ich rauche und trinke dabei auch nicht.“ Auf dem dritten Album „Totale’s Turns“, einem Live-Album, gibt es gleich zu Beginn diese berühmte Ansage: „The difference between us and you is that we have brains“. Oft legte Mark E. Smith auch während des Konzertes eine Pause ein, um einen seiner Vorträge zu halten. THE FALL waren also nie eine Band nur für Punks, Studenten, oder wenn auch immer: „Das ist richtig. Wir haben immer versucht, solche Gruppen wieder loszuwerden, wie auch diese ganzen 80er-Jahre-Typen. Und so Typen wie dich, wollen wir auch loswerden, haha.“

1979 veröffentlichte man das Debütalbum „Live At The Witch Trails“, das in nur zwei Tagen aufgenommen wurde. Das Layout war nicht sonderlich ansprechend gestaltet, wenn man hier überhaupt von einem Layout sprechen kann. Filzstiftzeichnungen, krakelige Bemerkungen, ausgerissene Zeitungsfetzen, bis heute hat sich das Erscheinungsbild auf den Platten kaum geändert. Nichts war da, was ihre Musik unterstützt hätte, außer den Texten, und die sind nicht immer leicht zu verstehen. „Ja, besonders in Großbritannien. Das ist wirklich sehr merkwürdig, denn gerade die Menschen in Deutschland oder in Belgien verstehen die Texte besser als die Briten. Das stimmt wirklich, scheinbar hören sie genauer zu. Und das ist sehr wichtig, um zu verstehen, was ich sage.“

Auf vielen FALL-Platten tauchten und tauchen auch immer wieder deutschsprachige Wortfetzen und Songs wie „Hotel Bloedel“, „Bremen Nacht“ oder „Das Katerer“ auf, in denen meist Tourerlebnisse verarbeitet wurden. So bezieht sich „Hotel Bloedel“ auf Erfahrungen in einem Nürnberger Hotel. Spricht Mark E. Smith eigentlich Deutsch? Immerhin gibt es jetzt durch Elena, seine derzeitige deutschsprachige Lebensgefährtin und Keyboarderin von THE FALL, einen konkreten Bezug. „Ich habe tatsächlich einmal Deutsch gesprochen, in den 80ern, aber inzwischen habe ich alles wieder vergessen. Ich werde eben alt und senil, haha. Je mehr du unterwegs bist und umher reist, desto wichtiger ist es, Sprachen zu lernen. Wenn du das nicht versuchst, kannst du dir viel Ärger einhandeln.“

Inzwischen haben THE FALL mehr als drei Dutzend Schallplatten und unzählige Singles herausgebracht. Aber schon damals war im Plattenladen das Fach von THE FALL recht groß. Zu den offiziellen Alben wurden von diversen Labels unzählige Re-Releases, Live-Alben und Compilations auf den Markt geworfen – aktuelles Beispiel das Album „Interim“ mit Live- und Demo-Tracks. „Ja, ja, das ist ein Problem. Ich weiß, was du meinst, die 28 Label, haha. Aber daran kann ich nichts ändern. Ich habe diese Verträge unterschrieben. Die Label sind berechtigt, das zu tun. Aber zur Zeit habe ich nur ein Label. Aber ich mache mir darüber keine Sorgen. Als ich noch ein Kind war, haben sie über hundert Jimi Hendrix LPs rausgebracht, so als ob er schon seit den 50ern unzählige Platten aufgenommen hätte. Du weißt, was ich meine. Aber an sich können die Leute schon unterscheiden, was echt ist und was eine Kompilation, sie sind nicht blöd.“

Als selbsternannter Band-Diktator beschäftigte Mark E. Smith in den letzten 28 Jahren mittlerweile 49 Musikerinnen und Musiker. Wie er sagt, um die musikalische Bandbreite zu erweitern. Hat er eigentlich noch Kontakt zu ehemaligen Bandmitgliedern? „Nein. Die aktuelle Besetzung, das sind übrigens auch schon Ex-Mitglieder, sie wissen es nur noch nicht, haha.“ Mark E. Smith war jedenfalls schon immer sehr produktiv. Wie macht er das? Wo nimmt er die Kraft her? „Ich mache das eigentlich die ganze Zeit ... Ich denke, es gibt eine Menge Leute, die einfach zu langsam sind. Und Plattenfirmen mögen es nicht, wenn du zu langsam bist. Am besten mehr als eine Platte pro Jahr, das ist es auch, was ich versuche durchzuziehen.“ Wo er schon so lange im Geschäft ist, ist Älterwerden da ein Thema für ihn, und wie geht er damit um? „Das ist kein Problem. Aber ich habe mir vor drei Monaten die Hüfte gebrochen. Ein Oberschenkelhalsbruch. Das war richtiger Mist. Es sind eigentlich immer nur solche Dinge, die einen runterziehen, sonst geht es mir gut. Es hat sich eigentlich nichts geändert, ich trinke nur mehr als zuvor, haha.“

Und was passiert neben der Musik? Es ist so gut wie nichts über sein Privatleben bekannt. Leben tut er immer noch in Salford. „Ja, das ist richtig. Seit etwa zehn Jahren lebe ich im selben Haus. Davor drei Jahre in Schottland. Nein, das Haus habe ich sogar schon seit über fünfzehn Jahren. Ich muss nicht viel ausgehen, ich habe gerne meine Ruhe. Es gibt in meinem Haus nur einen Stuhl. Besucher bleiben nie lange, haha. Sie brauchen fünf Minuten, dann gehen sie wieder. Das betrifft aber nur meine Familie, nur sie darf fünf Minuten bleiben. Ich bin einfach ein sehr beschäftigter Mensch.“

Wäre es für Mark E. Smith denn denkbar mal etwas anderes zu machen? Immerhin gab es ja schon einige Spoken-Word-Auftritte. „Du meinst, etwas anderes als meinen Job? Ja, das könnte ich jederzeit. Ich würde alles mögliche machen. Bei den von dir angesprochenen Auftritten habe meine eigene Prosa gelesen. Sie handelt von all dem Zeug, das ich in der Sun entdecke.“ Es gibt von ihm auch Artikel in verschiedenen Magazinen. „Ja, aber ich habe daran das Interesse verloren. Ich könnte wieder einige Sachen schreiben, aber ich will nicht. Ich mag es nicht, den Job zu wechseln. Vor drei Jahren erhielt ich das Angebot, ein Buch zu schreiben, aber das kann ich nicht tun. Nicht so wie z. B. Henry Rollins. Das will ich nicht, so wie die ganzen Typen, die jetzt plötzlich anfangen, Bücher zu schreiben ... Das Schreiben von Kolumnen ist scheinbar die letzte Zufluchtsstätte für alte Rocker. Manchmal verspüre ich zwar das Bedürfnis, einfach Schluss zu machen, aber dafür ist noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen. Dieses schwächer werden, das beunruhigt mich aber wirklich. Aber es ist mir einfach zu wichtig, THE FALL zu machen.“

Die Welt braucht also THE FALL. An sich gilt Mark E. Smith ja als sehr übellaunig, und gegenüber Journalisten wurde er öfters schon mal handgreiflich. Aber stattdessen sitzen wir hier im Backstageraum der Fabrik bierselig zusammen, und Mark E. Smith ist umgänglich, freundlich und hilfsbereit. Später am Abend beim Konzert steht er wieder auf der Bühne, wie man ihn kennt: ernst und hoch konzentriert, kein Lachen, kein Bier und keine Zigaretten.