HAYMARKET RIOT

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Wandeln auf den Pfaden der Geschichte

Am 1. Mai 1866 organisierten Arbeiterverbände einen Streik für den Acht-Stunden-Arbeitstag in Chicago, Illinois, USA. Am 3. Mai kam es zu einem Zwischenfall, in dessen Verlauf es eine Schießerei und einen Schwerverwundeten gab, als die Polizei einzuschreiten versuchte. Die Gewalttätigkeiten entwickelten sich am 4. Mai weiter, als eine Protestkundgebung am Haymarket Square aufgelöst wurde. Die Polizei versuchte die Masse zu zerstreuen, als jemand eine Bombe warf und zwölf Leute tötete. Ein Handvoll Anarchisten wurde festgenommen und ohne zwingende Beweise zum Tode verurteilt. Soweit zu den Ereignissen, die als „haymarket riot“ in die Geschichte der Stadt Chicago eingingen. Seit ihrer Gründung im Jahr 1999 macht sich eine Band daran, diesen Begriff mit einer neuen Konnotation zu belegen. Und mit ihrem zweiten Album „Mog“, das in diesem Frühjahr erschien, haben sie – meiner bescheidenen Meinung nach – zumindest einen Meilenstein im Universum meines CD-Regals gesetzt. Vergleiche mit FUGAZI tauchen immer wieder auf, können also kaum unangebracht sein, und HAYMARKET RIOT befinden sich musikalisch mindestens auf Augenhöhe. Am Rande ihres Konzerts in der Münsteraner Baracke verzog ich mich mit Kevin J. Frank (Gitarre, Gesang) und Fred Popolo (Bass, Gesang) in den Bandbus, während ein paar Meter weiter der Soundcheck des Local Supports meine Aufnahmen empfindlich störte ...

Ihr seid bereits das dritte Mal in Europa, innerhalb von nur zwei Jahren. Andere Bands aus Übersee haben Probleme, das ein einziges Mal zu schaffen ...

Kevin:
„Wir hatten das Glück, die richtigen Leute zu treffen, unseren Booker zum Beispiel. Wir haben eben sehr gute Beziehungen hier drüben. Für uns persönlich ist es in Europa sogar meistens besser gelaufen, von ein paar sehr erfolgreichen Shows in den USA mal abgesehen. Wir sind jetzt an einem heiklen Punkt. Wir werden älter und haben andere Verantwortung in unserem Leben zu übernehmen. Wenn wir nun entscheiden, auf Tour zu gehen, müssen wir uns vorher genau Gedanken machen, wo wir wahrscheinlich eine gute Tour spielen werden. Und im Moment ist das eben Europa.“

Und was sind eurer Meinung nach die größten Unterschiede zwischen den Staaten und Europa, was das Touren angeht?

Kevin:
„Wir haben bemerkt, dass die Unterstützung für kleinere Bands wesentlich besser ist. Wenn du hier in einem Club ankommst, bekommst du üblicherweise was zu Essen, man besorgt dir einen Platz zum Schlafen und macht dir am nächsten Tag Frühstück. In den Staaten ist das anders. Du kommst an, baust auf, und bist ziemlich auf dich allein gestellt. Wenn du in der Gegend niemanden kennst, schläfst du halt im Motel. Und außerdem spielen dort viel zu viele Bands gleichzeitig. Der Markt ist übersättigt, und die Leute haben keine Lust mehr. Deshalb ist es schwierig, in den USA zu touren.“

Wir kennen Chicago als eine musikalisch sehr lebendige Stadt, die ein paar wirklich wegweisende Bands hervorgebracht hat. Wie bekommt man das mit, wenn man dort lebt?

Fred:
„Zuerst mal: Das Leben ist dort, wie überall sonst auch, mitunter sehr stressig. Wir arbeiten acht bis zehn Stunden, und danach müssen wir noch etwas Zeit finden, um zu proben, Songs zu schreiben ...“
Kevin: „Wir sind schon ziemlich herumgekommen, und dadurch haben wir erst erkannt, dass es eine Menge Bands aus unserer Ecke gibt, denen große Aufmerksamkeit zuteil wird. Wenn wir nur zuhause wären, würden wir das wahrscheinlich gar nicht mitbekommen.“
Fred: „Wenn wir sagen, dass wir aus Chicago sind, hören wir häufig Sachen wie ‚Oh, Chicago!‘, oder ‚der spezielle Chicago-Sound‘. Das ist für uns sehr interessant zu beobachten und zeigt uns, welchen Stellenwert die Stadt eigentlich hat.“

Eine Hälfte der Band ist Fan des Baseballteams Chicago White Sox, die andere Fan der Cubs. Gibt es da Probleme?

Kevin:
„Haha! Oh ja, das ist eine ernste Sache. Du hast hier die beiden White-Sox-Fans im Van sitzen. Wir sind alle sehr bewandert in Baseball und machen uns gegenseitig über uns lustig, aber nicht in bösartiger Weise.“
Fred: „Wie unsere Band ist auch Chicago gespalten. Die South Side ist fest in der Hand der White-Sox-Fans und die North Side in der der Cubs-Fans.“

Gibt es eine ideelle Verknüpfung zwischen eurem Bandnamen und dem geschichtlichen Ereignis, das ihm zu Grunde liegt?

Kevin:
„Als wir angefangen haben, sind wir eine Liste mit möglichen Namen durchgegangen. Aber wir fanden HAYMARKET RIOT sehr angebracht, weil es zu unserem Sound passt, da wir alle aus Chicago stammen, und weil der Haymarket Riot einen wichtigen Teil der Geschichte der Stadt darstellt und für den Arbeiter-Ethos des späten 19. Jahrhunderts steht. Wir glauben von uns, dass wir auch einen starken Arbeiter-Ethos besitzen, denn wir kommen alle aus so einer Arbeiterumgebung, und wir alle haben diese spezielle Herangehensweise an unsere Arbeit. Vor diesem Hintergrund hat es schon Sinn gemacht, die Band so zu nennen.“

Euer Bandlogo zeigt zwei Schrauben. Ist das auch vor diesem Arbeiterhintergrund entstanden?

Kevin:
„Nein, dazu hat mich ein Unfall inspiriert, den ich vor zweieinhalb Jahren hatte. Ein Auto hat mich erwischt, und dabei wurde meine rechte Hand zertrümmert. Bei der Operation hat man mir zwei Schrauben eingesetzt. Ich musste eine Menge Physiotherapie machen und es hat lange gedauert, bis ich wieder zurück war. Es war lange Zeit unklar, ob ich je wieder Gitarre würde spielen können. Als ich das alles hinter mir hatte, bin ich auf die Idee mit dem Logo gekommen. Es ist für mich eine Art Statement für harte Arbeit.“
Fred: „Insofern passt das Logo eben auch zu unserem Arbeiterhintergrund.“

Ihr beide seid die letzten verbliebenen Gründungsmitglieder. Ihr habt viel mitgemacht, Besetzungswechsel, Unfälle, arbeitsbedingte Pausen ... Habt ihr jemals die Band in Frage gestellt?

Fred:
„Das war für uns nie ein Thema. Es hat uns im Gegenteil noch mehr angetrieben, obwohl wir natürlich zeitweise etwas kürzer treten mussten, um herauszufinden, wer möglicherweise die entstandenen Lücken schließen könnte. Aber wir kannten Chris Daly, unseren Gitarristen, und Brian Wnukowski, den Schlagzeuger, schon seit langer Zeit, deshalb lag es nahe, dass sie bei uns mitmachen. Ich glaube, das wird auch für eine lange Zeit unser Line-up bleiben, ich erwarte da keine Veränderungen, es sei denn, Kevin bricht sich auch noch die andere Hand.“
Kevin: „Ich habe bei der jetzigen Besetzung ein sehr gutes Gefühl. Scheinbar hat hier die Natur ihren Lauf genommen und die Dinge zusammengeführt.“

Lasst uns über „Mog“ reden, euer neues Album. Was sagt ihr selbst dazu?

Kevin:
„Ich liebe es. Klar, ich wäre blöd, wenn ich etwas anderes sagen würde, aber ich denke, bei all den Hindernissen, und unter den gegebenen Umständen, haben wir ausgezeichnete Arbeit geleistet. Ich liebe den Sound. Wir haben auf ‚Mog‘ mit Steve Albini gearbeitet, und das war sehr aufregend. Ich hatte keine besonderen Erwartungen, aber Steve ist nun mal ein Mensch, der in der Musikszene einen Namen hat. Ich war positiv überrascht, wie gut die Arbeit organisiert war. Steve ist sehr gut organisiert, und er hat sich sehr gut in das Projekt hineingearbeitet.“

Das Album ist in nur fünf Tagen aufgenommen worden. Eine Frage der Klangästhetik, oder habt ihr das auch Steve Albini zu verdanken?

Fred:
„Wir hätten schon noch ein größeres Budget gehabt, aber es war für uns keine vernünftige Option, für drei Wochen ins Studio zu gehen. Wir mussten es in dieser Zeit schaffen. Das großartige an Steve ist, dass er wusste, dass es in fünf Tagen geschafft werden musste, also hat er dafür gesorgt, dass es klappt. Das war es, was Kevin gerade gesagt hat: Er kann Dinge gut am Laufen halten.“

Ohne Steve habt ihr scheinbar kein besonders gutes Zeitmanagement. Zwischen euren Alben liegen immer ein paar Jahre ...

Fred:
„Damals und heute lag das aber nie daran, dass wir nicht gut zusammengearbeitet hätten. Wir waren eben immer sehr beschäftigt, haben ständig für irgendwelche Tourneen geprobt. Wir haben eben erst jetzt ein wenig Zeit gefunden, uns wieder neuen Songs zu widmen.“

Euer Kontrakt mit Thick Records lief über zwei Alben, „Mog“ war das zweite. Was kommt jetzt?

Fred:
„Keine Ahnung. Wir werden ein Album aufnehmen, aber wir machen uns keine Gedanken um Labels. Schließlich haben wir mit Divot Records unser eigenes. Wir halten uns das offen. Wir tun, was wir wollen, freilich ohne jemandem dabei auf den Schlips zu treten. Bisher waren unsere Releases Splits zwischen Divot und Thick. Zak, der Thick Records macht, ist ein guter Freund von uns und schon von Beginn an dabei. Deshalb war es für uns bisher überhaupt keine Frage, dass er die Alben macht. Für uns war alles bestens, wir hatten die volle Kontrolle über alles. Außerdem ist es sehr zeitaufwendig, ein Label zu führen, und wir sitzen nun mal nicht nur zuhause rum und glotzen TV ...“
Kevin: „Wenn es sich für beide Seiten lohnt, machen wir auch mit Zak weiter, wir haben ja ein ausgezeichnetes Verhältnis zu ihm. Die Tür steht immer offen, und wenn es nötig ist, gehen wir hindurch. Im Moment konzentrieren wir uns auf andere Dinge. Wir müssen das Line-up festigen – Brian, unser Schlagzeuger, ist ja erst seit Mai dabei. Wir spielen diese Tour zu Ende, schreiben neue Songs, und dann erst sehen wir, was passiert.“

Zum Schluss noch was fürs Herz: Jemand hat mal gesagt, jetzt, wo FUGAZI im Mutterschaftsurlaub sind, ist es gut, dass es HAYMARKET RIOT gibt. Was sagt ihr dazu?

Fred:
„Ja, das kennen wir. Seit Jahren machen wir diese Vergleiche durch, dabei finde ich überhaupt nicht, dass wir wie FUGAZI klingen. Bis auf die eine Gemeinsamkeit, dass wir zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug haben. Ich weiß nicht, Kevin, sind wir die neuen FUGAZI?“
Kevin: „Wenn das heißt, das wir jeden Abend vor 1.500 Leuten spielen, dann bitte! Ich fühle mich durch solche Vergleiche sehr geehrt. FUGAZI und die ganzen Leute drum herum haben seit den frühen 80ern großartige Dinge geleistet, deshalb nehme ich solche Aussagen als Kompliment. Musikalisch gesehen machen wir unterschiedliche Sachen – wir legen ein anderes Verhalten an den Tag. Es gibt da ein paar Sachen, die wir tun, die FUGAZI niemals machen würden, und umgekehrt, aber für den Außenstehenden ist das sicher sehr schwer zu unterscheiden. Wenn man uns also in das gleiche Genre sortiert, dann kann ich das schon verstehen. Und ich werde lieber mit FUGAZI verglichen, als – wie bereits geschehen – mit so einer beschissenen Band wie STYX.“
Kevin, Fred, vielen Dank für das Interview.