Brasilien

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Ein Reisebericht

Mit seinen 186 Millionen Einwohnern und einer Fläche von 8,5 Millionen qkm (etwa 24-mal so groß wie Deutschland) zählt Brasilien zu den fünf flächenmäßig größten Staaten der Welt. Ökonomisch betrachtet wird es als zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt bezeichnet. In der internationalen Politik hat es den Status des Entwicklungslandes bereits hinter sich gelassen und wird als Schwellenland betitelt. Es ist auch gar nicht so abwegig, Brasilien als den „schlafenden Riesen“ zu bezeichnen, welcher, sollte er einmal erwachen, die so genannte Erste Welt vor einige (in erster Linie wirtschaftliche) Probleme stellen könnte. Die europäische Zuckerindustrie, die vor allem von Deutschland und Frankreich dominiert wird, ist bereits seit Monaten am Zittern, nachdem die Subventionierung der europäischen Zuckerproduktion in die Kritik geraten ist und in Zukunft billig importierter brasilianischer Zucker die Aldi-Regale zieren wird. Wer innerhalb Brasiliens von diesen Veränderungen profitieren wird, ist bereits abzusehen: Brasilien weist zusammen mit den afrikanischen Staaten Namibia, Botswana und Sierra Leone die höchste Einkommenskonzentration der Welt auf. Die Gewinneffekte der globalisierten Wirtschaft werden also in die Hände der kleinen Gruppe der Besitzenden fließen, die sich durch Steuerhinterziehung und gewaltsame Verteidigung ihrer Interessen und Besitztümer hervortut und keineswegs zu einem sozialen Ausgleich innerhalb der Gesellschaft beiträgt. In dem folgenden Artikel wird genauer auf aktuelle politische Entwicklungen in Brasilien eingegangen. In diesem Zusammenhang werden vor allem die Regierung der Arbeiterpartei PT und die sozialen Missstände betrachtet. Außerdem wird ein Blick auf die aktuellen Entwicklungen der brasilianischen Punk- und Hardcore-Szene geworfen.

Punk und Hardcore in Brasilien
Brasilianischer Punk und Hardcore treten in Deutschland nur als Randerscheinung auf, was bei der Fülle an Bands, die dieses Land zu bieten hat, schwer nachvollziehbar ist. Allein in São Paulo ist die musikalische Bandbreite so enorm, dass es unmöglich erscheint, einen annähernd exakten Überblick über die Geschehnisse der hiesigen Szene zu bekommen. Die Spaltung der Szene in ihre einzelnen musikalischen Segmente kann man fast als Geschenk betrachten, da wohl kein Konzertort, der in irgendeiner Weise einem Undergroundstatus entspricht, geeignet wäre, die Massen aufzunehmen, die bei einem gemeinsamen Happening zusammenströmen würden.
Besonders in der Hardcore-Szene, die zu einem großen Teil von Oldschool und Straight Edge Vegan Mosh Hardcore bestimmt wird, finden sich verstärkt im D.I.Y.-Stil aktive Personen. Aus eben jenen Kreisen waren in den letzten Jahren mehrere Bands in Europa auf Tour, was vor allem auf die Kontakte von Liberation Records aus São Paulo zurückzuführen ist. Bei den tourenden Bands handelte es sich unter anderem um INFECT, I SHOT CYRUS, CHILDREN OF GAIA, COLIGERE (mehr Emo als Oldschool) und POINT OF NO RETURN, einige Jahre zuvor aber auch Anarcho- und Crust/Grind-Bands wie ROT und ABUSO SONORO sowie später AÇÃO DIRETA, SICK TERROR und weitere. Nicht zu vergessen natürlich COLERA und OLHO SÊCO mit ihrem Punkopa-Frontmann Fabio. Eine der wichtigsten und einflussreichsten brasilianische Hardcore-Band der 80er Jahre sind natürlich die immer noch aktiven RATOS DE PORÃO. Deren Sänger João Gordo ist nicht nur in der Hardcore-Szene ein Begriff. Dank seiner Tätigkeit bei MTV Brasil ist er zu einem landesweit bekannten Moderator geworden, was bekanntlich vor allem in D.I.Y.-Kreisen nicht nur auf Freude und Zustimmung stößt. Erst vor wenigen Monaten ist nach Beendigung seines vorherigen Programms seine neue Sendung „Gordo Freakshow“ angelaufen, in der er belanglose Interviews mit belanglosen Prominenten durchführt, sowie einigen Bands wie kürzlich den „Anarchopunkern“ von AÇÃO DIRETA eine musikalische Liveplattform bietet.

Neben den in Europa aufgetretenen Bands brodelt es vor Ort in São Paulo allerdings gewaltig, denn eine Fülle weiterer Formationen bringt die Kids bei den Konzerten zum Toben. Besonders hervorzuheben seien an dieser Stelle die beiden Bands LIVE BY THE FIST (xcausticx.com/livebythefist) und GOOD INTENTIONS (goodxintentions.com.br), deren Mitglieder Fabio (LBTF, Gitarre) und André (GI, Vocals) im Verlaufe dieses Artikels noch des Öfteren zu Wort kommen werden.
Die seit 1999 existierende Oldschool-Hardcore-Band GOOD INTENTIONS liefert absolut energiegeladene Shows, von denen ein Ausschnitt auf meiner Webseite (schandmaulrecords.de) angeschaut werden kann. Dieser knapp einminütige Liveclip bietet einen guten Eindruck von den Shows, wie sie in São Paulo stattfinden. Wer mehr von der Band hören möchte, sollte sich nach ihrer bei 78Life Records (São Paulo) veröffentlichten CD „Até o Fim“ umsehen. Derzeit bereiten sie ihr zweites Album vor, nachdem vor der erwähnten CD bereits eine Demo-CD („Friends And Lies“) und eine Split-CD mit den Argentiniern von RECONCILE („Buscando Metas Comunes“) erschienen ist. Wie von den meisten südamerikanischen Bands sind die vor Ort produzierten Tonträger meist digitaler Art. „Vinyl“, so André von GOOD INTENTIONS, „ist ein bisher nicht wahr gewordener Traum.“

Wie bereits erwähnt sind LIVE BY THE FIST (gegründet 2003) neben GOOD INTENTIONS eine der weiteren Knallerbands, die Brasilien derzeit zu bieten hat. Wie es in der Hardcore-Szene weltweit so üblich ist, spielen natürlich auch hier Leute mit, die nebenbei in anderen Bands aktiv sind. So spielen Fabio (Gitarre) und Leonardo (Bass) noch in der ebenfalls empfehlenswerten Thrashhardcore-Band LARUSSO, Filype (Gitarre) ist außerdem Mitglied bei GOOD INTENTIONS, Sandro (einer der drei Sänger) ist vor wenigen Wochen bei CHILDREN OF GAIA eingestiegen, und Thiago (ebenfalls Sänger) ist Mitglied der neugegründeten Trashmetal-Band OUR DEAD FRIENDS, deren erste Songs bereits als download bereit stehen: myspace.com/ourdeadfriends.
Dass drei Sänger auf der Bühne bei richtigem Einsatz ein amüsantes und gleichzeitig druckvolles Programm bieten, können LIVE BY THE FIST durchaus beweisen. Von ihrer 2004 erschienenen ersten selbst betitelten Demo-CD sind leider nur wenige in Europa im Umlauf. Ihr in diesem Jahr auf dem bandeigenen Label Caustic Records erschienenes Debütalbum „No End In Sight“ wird dagegen in Kürze dank des spanischen Labels Conviction Records auch in Europa erhältlich sein. Das Album enthält neben den zehn regulären Tracks außerdem ein 20-minütiges Live-Video vom Represent Festival aus São Paulo. Darüber hinaus ist die Band mit vier Songs auf der 5-way-Split-CD „Voices 2“ vertreten, die vor kurzem von Liberation Records veröffentlicht wurde. Nachdem Marcos von Liberation in den letzten Jahren bereits diverse Kontakte nach Europa geknüpft und vielen brasilianischen Bands damit eine Tour in Europa ermöglicht hat, planen auch LIVE BY THE FIST diesen Schritt.
„Wir würden sehr gerne nach Europa, wenn möglich im Sommer 2006“ [in Brasilien dauert der Sommer von Dezember bis März, Anm. d. Verf.], meint Fabio, der bereits 2004 mit seinen Freunden von CHILDREN OF GAIA durch Europa getourt ist. „Aber da wir sieben Personen in der Band sind, ist es schwierig, einen gemeinsamen Termin zu finden, an dem alle Urlaub haben. Außerdem glaube ich auch nicht, dass alle von uns das Geld aufbringen können, um nach Europa zu fliegen. Wir konzentrieren uns im Moment darauf, hier in Brasilien zu spielen, was wir mit unseren vorherigen Bands nie verwirklichen konnten. Im Moment wäre ich glücklich genug, wenn wir viele Shows in Brasilien und vielleicht in anderen südamerikanischen Ländern spielen könnten.“

Dass auch die europäische Hardcore-Szene noch etwas an interkulturellem Verständnis aufzuholen hat, zeigen die Erfahrungen, die einige brasilianische Bands in Europa machen mussten. Auch wenn sie eher amüsant als wirklich problematisch sind. Demnach waren diverse Bandmitglieder verwundert über das Essen, das ihnen insbesondere zum Frühstück angeboten wurde. Während in Brasilien gerne Snacks und vor allem süße Sachen wie Kuchen oder Kekse zum Frühstück gegessen werden (auch Kartoffelchips in Stickform auf Brötchen gelegt sind der Renner), konnten sie mit dem reichhaltigen europäischen Morgenmahl, das einige Konzertveranstalter mit großem Aufwand für sie zubereitet hatten, wenig anfangen. Viele gemüsige Kostbarkeiten, die ich um jeden Preis gerne verschlungen hätte, wurden von den Bandmitgliedern abseits liegen gelassen. Vor allem Salate zum Frühstück (zum Beispiel ein Sandwich mit Salat und Tomaten), ließen so einige von ihnen erschaudern. Direkt darauf angesprochen wollte, Fabio natürlich aus Höflichkeitsgründen nur indirekt dazu Stellung nehmen. Nachdem er mit Humor von seinen deutschen Frühstückserlebnissen berichtet hat, fügt er für den „offiziellen“ Teil des Interviews hinzu: „Es war großartig! Hehehe ... Es gibt viel mehr Möglichkeiten für vegane Ernährung, auch wenn die Preise recht hoch waren. Es scheint mir, als wären die Konzepte der vegetarischen und der veganen Ernährung viel verbreiteter in Europa und die Leute schauen dich auch nicht so verwundert an, wenn du sagst, dass du vegan bist ...“

Einer der besten Konzertorte für D.I.Y.-Hardcore-Shows in São Paulo liegt im Stadtteil Jabaquara. Dort veranstaltet in einer angemieteten Halle unter anderem das Verdurada-Kollektiv (verdurada.org) Konzerte, bei denen in der Regel etwa sechs Bands auftreten. Des Öfteren wird hier auch die brasilianische Version des Solikonzerts veranstaltet: Jeder Besucher wird aufgefordert, neben dem regulären Eintritt ein Kilo nichtverderblicher Lebensmittel mitzubringen (Reis, Bohnen, Mehl, Nudeln etc.). Eine Praxis, die sich jedoch nicht nur in der HC-Szene wieder findet, sondern die auch in vielen anderen gesellschaftlichen Kreisen verbreitet ist. Die Spenden werden anschließend einem sozialen Projekt zur Verfügung gestellt.
In der Regel werden bei den Verdurada-Konzerten keine alkoholischen Getränke ausgeschenkt. Dies liegt zum einen daran, dass der Anteil an Straight Edgern in der Hardcore-Szene São Paulos sehr hoch ist. Des weiteren ist aber auch bei den übrigen Konzertbesuchern die Nachfrage nach Alkohol eher gering. Bei den Konzerten gibt es regelmäßig veganes Essen, meist in Form von Burgern und Kuchen. Bei einigen Shows wird nach dem Ende der letzten Band kostenloses Essen zur Verfügung gestellt. Hier kommen in der Regel 200 bis 500 Zuschauer zusammen, in einigen Fällen auch mehr. Die Konzerte beginnen nachmittags, zum einen aufgrund der für europäische Verhältnisse hohen Anzahl von auftretenden Bands, aber auch begründet durch die Tatsache, dass das Konzert vor Mitternacht beendet werden muss.
„Die Mehrheit der Leute, die ich innerhalb der Punk/Hardcore-Gemeinschaft kenne“, erklärt Fabio (LBTF), „bevorzugt frühe Konzerte. Wenn sie oder ich Konzerte organisieren, dann entscheiden wir uns gewöhnlich für frühe Uhrzeiten. Auch aufgrund der öffentlichen Verkehrsmittel, von denen die meisten nur bis Mitternacht fahren, ist es besser, die Konzerte früh zu beenden. São Paulo ist eine große Stadt. Es ist nicht besonders cool, hier zu Fuß nach Hause zu laufen.“

Die Regierung Lula, Korruption und Machtverteilung in Brasilien
Derzeit erlebt die brasilianische Regierung ihre wohl schwerste Krise, seit dem Amtsantritt von Präsident Luiz Inácio da Silva, genannt „Lula“ („Tintenfisch“) am 01.01.2003. Kurz nach dem Machtwechsel von der konservativen PSDB (Sozialdemokraten) unter Präsident Fernando Henrique Cardoso, genannt „FHC“, zur sozialistischen Arbeiterpartei PT schrieb Die Zeit noch: „Brasilien, die viertgrößte Demokratie der Welt und das wirtschaftliche Schwergewicht der südlichen Hemisphäre, hat gerade bewiesen, dass eine Wahl in Lateinamerika keineswegs nur die gezinkte Machtübergabe von einem Korruptokraten an einen anderen sein muss.“
Dabei begann bereits kurz nach dem Regierungswechsel das, was erst am 6. Juni 2005 durch ein Interview in der Tageszeitung Folha de São Paulo als Korruptionsskandal sondergleichen bekannt wurde und in den folgenden Monaten die brasilianischen Medien mit immer neuen Aufdeckungen dominierte. Sondergleichen nicht etwa, weil es bis dahin keine auffällige Korruption in Brasilien gegeben hatte. Die permanente Selbstbedienung der wohlhabenden Oberschicht ist in Brasilien eher ein offenes Geheimnis. Vielmehr hatte die neue (und nach der Diktatur zum ersten Mal linke) Regierung, und insbesondere Präsident Lula, die Hoffnungen vieler Brasilianer aus der Unterschicht auf mehr soziale Gerechtigkeit genährt, sie nun stattdessen aber bitter enttäuscht.
Auf die Frage, ob er den derzeitigen Korruptionsskandal als „neue Dimension“ betrachte, erwidert Fabio (LBTF): „Eine neue Dimension ist das nicht. Im Grunde ist es sogar eine sehr alte Dimension und, wie ich glaube, ein endloser Kampf. Es gibt ständig Korruptionsskandale. Okay, dieses Mal ist es wirklich extrem groß. Bereits unser erster vom Volk gewählter Präsident nach dem Ende der Diktatur [Die Diktatur endete 1985, die ersten direkten Präsidentschaftswahlen fanden 1989 statt, Anm. d. Verf.] wurde wegen Korruption des Amtes enthoben. Ich glaube, das ist eine gesamte Mentalität in Brasilien, die sich verändern sollte, und ich habe diesbezüglich wirklich keine sehr optimistische Einstellung.“

Präsident Lula selbst stammt aus der Unterschicht Nordostbrasiliens, dem so genannten Armenhaus des Landes, und musste bereits im Kindesalter als Straßenverkäufer zum Lebensunterhalt seiner Familie beitragen. Später, als Metallarbeiter, engagierte er sich in der Gewerkschaftsbewegung und wurde zu einer Leitfigur der Unterprivilegierten gegen die Ausbeutung durch die herrschende Klasse. Während man genau überlegen sollte, ob derartiges Vokabular wie „herrschende Klasse“ im mitteleuropäischen Kontext angebracht ist, so kann man es für Brasilien getrost anwenden. Seit der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 haben sich die Großgrundbesitzer und später die Großindustriellen erfolgreich an der Spitze von Wirtschaft und Politik installiert und mit ihrer Politik soziale Unterschiede geschaffen, wie man sie weltweit nur selten findet (siehe oben). Dem enormen Reichtum der Oberschicht steht die Masse der Armen, sowohl in den Städten als auch auf dem Land gegenüber. Dazwischen liegt eine im Vergleich zur Größe des Landes nicht sehr umfangreiche urbane Mittelklasse. Aus dieser stammt auch die Mehrheit der Hardcore-Szene, während die Unterschicht ihr Sprachrohr eher im HipHop findet.
Während die einen gerade genug Geld aufbringen können, um sich mit den Grundnahrungsmitteln Reis und Bohnen zu versorgen, fliegen einige andere mit Hubschraubern zur Arbeit, um dem Verkehrschaos in den Metropolen wie São Paulo oder Rio de Janeiro zu entkommen. Selbst in den Kreisen der Mittelschicht ist die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel teilweise verpönt, da man sich ungern in unmittelbarer Nähe eines nicht nach Rosenwasser duftenden Arbeiters oder Arbeitslosen aufhält. In dieser groben Aufteilung sind nicht die unteren 30 Prozent der Gesellschaft (circa 52 Millionen Personen) enthalten, die der brasilianischen Getulio Vargas-Stiftung zufolge von einem monatlichen Einkommen unterhalb eines halben Mindestlohns von ungefähr 36 Euro leben müssen.
Eine Studie der Food And Agriculture Organization (FAO) aus dem Jahr 2000 belegt, dass Brasilien nicht an einem Mangel an Nahrungsmitteln leide, sondern vielmehr an einem Verteilungsproblem. Demnach stünden in Brasilien pro Kopf täglich 2.960 Kalorien zur Verfügung, während ebenfalls im Schnitt lediglich 1.659 konsumiert würden, was etwa 250 Kalorien unterhalb der offiziellen Empfehlung liegt. Gleichzeitig leiden etwa 20 Prozent der Bevölkerung aufgrund von Fehlernährung an Übergewicht.
Die oberen 10 Prozent der Brasilianer verdienen etwa 30-mal soviel wie die 40 Prozent der Ärmsten. Zu dieser Unterschicht zählen auch die über 5 Millionen landlosen Familien. Die Landverteilung ist ein seit Generationen existierendes Problem, das nicht unerheblich zu den ungleichen Lebensbedingungen beiträgt. Während die Sklaverei offiziell abgeschafft wurde, gibt es auch heute noch zahlreiche Fälle von extremer Ausbeutung der Arbeitskraft durch Großgrundbesitzer, die Landarbeiter auf ihrem Grundbesitz beschäftigen, statt des vereinbarten Lohnes jedoch nur eine karge Bleibe und etwas Nahrung als Gegenleistung erbringen. Vor allem im Norden und Nordosten des Landes, hält diese gesellschaftliche Gruppe die Zügel straff in der Hand. Im Gespräch mit einer Journalistin aus São Paulo erzählte mir diese von einem Auftrag, der sie vor zwei Jahren in die Nähe der nordostbrasilianischen Stadt Recife brachte, wo sie an einem Essen mit Angehörigen der lokalen Oberschicht teilnahm. Nach dem Genuss diverser alkoholischer Getränke konnten sich diese nicht mehr zurückhalten, von ihren „Heldentaten“ zu erzählen. Demnach brüstete sich ein Mitglied einer einflussreichen Familie öffentlich, mehrere Jahre zuvor einen Mann erschossen zu haben, der ihn versehentlich angerempelt hatte. Juristisch belangt wurde er dafür jedoch nicht. Diese Geschichte passt sehr gut mit den Erzählungen eines Bürgermeisters der Arbeiterpartei PT in einer Vorortgemeinde von Belém (Stadt im Nordosten) überein, den ich vor zwei Jahren kennen gelernt habe. Seit dieser sich für soziale Belange der Bevölkerung und für den Umweltschutz einsetzt, geht er aus Angst vor einem Angriff auf seine Person laut eigenem Bekunden nicht mehr alleine auf die Straße.
Mit derartigen Geschichten kann man in Brasilien niemanden schocken, die Brasilianer wissen, in welchem Land sie leben: „Wir hören ständig Geschichten von reichen und bekannten Personen, die grausame Verbrechen begehen und damit durchkommen“, sagt Fabio (LBTF). „Es scheint, als sei es im Nordosten Brasiliens noch schlimmer. Dort existiert eine Art ‚zweite Regierung‘, die in einigen Regionen die Macht ausübt und um die Justiz einfach immer herumkommt. Die meisten dieser machtvollen, einflussreichen und finanzstarken Personen sind Großgrundbesitzer. Das ist ein Grund dafür, weshalb die Landlosenbewegung MST so wichtig ist, und weshalb die Oberschicht sie so gerne verschwinden sehen würde. Wenn man diesen Leuten ihre unwahrscheinlich großen Ländereien wegnähme, bedeutete das für sie auch einen Machtverlust. Die Klassenunterschiede zählen zu den größten Problemen in Brasilien. Die Reichen zahlen wenig Steuern und werden kaum vor Gericht gestellt, während die Armen und die Mittelklasse viel mehr zahlen müssen und bei Gesetzesübertretungen juristisch belangt werden. Sollte das so weitergehen, wird das Ganze wohl irgendwann explodieren.“ Und mit einem Grinsen fügt er hinzu: „Zu dem Zeitpunkt lebe ich dann hoffentlich bereits in Deutschland.“

Vor dem Hintergrund der beschriebenen gesellschaftlichen Verhältnisse ist es leicht nachvollziehbar, weshalb der Wahlerfolg des ehemaligen Gewerkschaftsführers Lula von der Masse der Unterschicht als Sieg über die herrschende Klasse empfunden wurde. Bereits vor dem Wahlausgang hatten diverse internationale Investoren Bedenken geäußert und die brasilianische Wirtschaft ins Schwanken gebracht. Lula entpuppte sich jedoch, sehr zur Verärgerung vieler seiner Anhänger, als treuer Reformer und bemühte sich redlich, die Auflagen des Internationalen Währungsfonds zu erfüllen. Sehr zur Freude der Investoren, die nicht umhin kamen, seine Wirtschaftspolitik zu loben. Lulas ehemalige Gefolgsleute von der Landlosenbewegung MST sehen sich jedoch um den Erfolg betrogen, der ihnen von ihrem Hoffnungsträger versprochen wurde.
Die MST (von Noam Chomsky auf dem Weltsozialforum 2002 als „wichtigste und aufregendste Volksbewegung der Welt“ bezeichnet) ist das bekannteste Sprachrohr der landlosen Familien, und bemüht sich seit über 20 Jahren um eine gerechte Landverteilung. Aufgrund der mangelnden politischen Partizipation der Landarbeiterfamilien ist jedoch nur ein Bruchteil der Landlosen in der MST organisiert. Ihre Gegner, die Großgrundbesitzer, scheuen vor Gewalt nicht zurück. So kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Landlosen, die als politische Maßnahme unter anderem die Besetzung brachliegender Ländereien durchführen, und den von den Landherren engagierten bewaffneten Gruppen. Aber auch die staatliche Gewalt ist nicht sehr zimperlich, wenn es um die Bekämpfung der MST geht. So töteten Angehörige der Militärpolizei am 17. April 1996 19 Mitglieder der MST im Osten des nördlichen Bundesstaates Amazonien. Obwohl die Bilder des Massakers international bekannt wurden, kam es zu keiner angemessenen Verurteilung. 40 Militärpolizisten wurden nach einem langwierigen Verfahren im Juni 2002 freigesprochen, zwei Offiziere erhielten Haftstrafen, wurden jedoch bis zum Abschluss des Revisionsverfahrens auf freien Fuß gesetzt.

Mehr soziale Gerechtigkeit, eine gleichmäßigere Einkommensverteilung und vor allem eine nachhaltige Bekämpfung des Hungers waren einige der Versprechen, mit denen Lula seine Präsidentschaft antrat. Letzteres sollte vor allem durch das Programm „Fome Zero“ („Null Hunger“) erreicht werden, von dem circa 44 Millionen unter äußerster Armut lebende Brasilianer profitieren sollten. „Wenn am Ende meiner Amtszeit alle Brasilianer dreimal am Tag essen können, dann habe ich die Mission meines Lebens erfüllt“, verkündete Lula im Januar 2003 auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre. Die Verteilung von Lebensmittelkarten an die Familien stellt nur einen Teil des Programms dar. Würde diese Maßnahme alleine stehen, hätte man „Fome Zero“ bereits vor seinem Beginn als Farce bezeichnen können, da eine Armenfütterung nicht zur Beseitigung der Ursachen sozialer und ökonomischer Ungleichheiten beiträgt, sondern die bestehende Situation der Abhängigkeit vielmehr zementiert. Im Rahmen von „Fome Zero“ spielen aber auch strukturpolitische Maßnahmen eine Rolle. Dazu zählen neben Arbeitsbeschaffung und Agrarreform auch die besonders in den von Dürre geplagten Regionen des Nordostens durchgeführten Brunnenbohrungen. Bei einer 2004 in Berlin stattgefundenen „Konferenz zur Rolle Brasiliens in der internationalen Politik“ berichtete eine Vertreterin der brasilianischen Regierung von den ersten Erfolgen und den spontan aufgetretenen Ergänzungen, die in das „Fome Zero“-Programm eingeflossen sind. Nachdem die Frauen einiger Regionen nicht mehr acht Stunden pro Tag zur Beschaffung von Trinkwasser unterwegs waren, sondern dieses aus dem neu gebohrten Brunnen erhielten, stieg die Schwangerschaftsrate in den entsprechenden Regionen merklich an. Aus diesem Grunde wurde das Programm um einige Familienplanungsaspekte erweitert.
Die Umsetzung des „Fome Zero“-Programms geht jedoch sehr schleppend voran. Besonders die Aspekte der Nachhaltigkeit jenseits der Verteilung von Lebensmittelkarten lassen auf sich warten. Viele Brasilianer sehen das Programm bereits als gescheitert an, was vor allem auf die mangelhafte finanzielle Ausstattung zurückgeführt wird. Hinzu kommt, dass auch Familien der Mittelschicht sich einzelne Aspekte des Programms erfolgreich angeeignet haben, und auf Kosten der tatsächlich Bedürftigen Gelder abgreifen, die zur Armutsbekämpfung bestimmt sind.

Mit Sicherheit wären die Finanzen zur Verwirklichung von „Fome Zero“ um einiges höher ausgefallen, hätte man die Summen hinzugefügt, die bei dem eingangs erwähnten Korruptionsskandal die Besitzer gewechselt haben. Demnach zahlte die Arbeiterpartei seit ihrem Regierungsantritt monatlich jeweils circa 10.000 Euro an Abgeordnete ihrer Koalitionspartner, um deren Unterstützung für die Regierungspolitik zu sichern. In dem in der Folha de São Paulo abdruckten Interview, berichtete der Abgeordnete Roberto Jefferson, Vorsitzender der Koalitionspartei PTB, von eben jenen Praktiken, wies jedoch eine eigene Beteiligung zurück. Diese hatte er offensichtlich auch gar nicht nötig, war er doch bereits einige Wochen zuvor als mutmaßlicher Kopf eines Korruptionsnetzes in staatlichen Einrichtungen bekannt geworden, der unter anderem von der staatlichen Post monatlich 130.000 Euro erhalten haben soll. Wenige Wochen nach Veröffentlichung des Korruptionsnetzes wurde bekannt, dass es sich bei der Summe der monatlichen Zahlungen um Millionenbeträge (gemessen in Euro) gehandelt hatte. Da täglich neue Informationen bekannt gegeben werden, ist der aktuelle Stand bei Veröffentlichung dieses Artikels wohl bereits ein anderer und die Summe höchstwahrscheinlich weiter gestiegen. André von GOOD INTENTIONS nimmt das Ganze gelassen: „Ehrlich gesagt glaube ich, dass so etwas nicht nur in Brasilien vorkommt, sondern generell in Ländern der Dritten Welt. Jedoch zurzeit kommen viele dieser Dinge in Brasilien ans Tageslicht. Was dort passiert, ist ein Interessenspiel. Es werden einige Personen öffentlich geoutet, um andere zu schützen.“

Gesellschaftliche Unterschiede in der Justiz und die Zustände in den Haftanstalten
„Für die Armen gibt es das Gesetz, für die Reichen die Rechtswissenschaft.“ Mit diesem in Brasilien geläufigen Satz wurde am 30. Juni 2005 der Staatsanwalt im Mordfall Manfred und Marísia von Richthofen zitiert, nachdem die in den Mordfall verwickelte und geständige Tochter Suzane von Richthofen drei Jahre nach der Tat aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Bei einer Verurteilung drohen der aus einer wohlhabenden Familie der oberen Mittelschicht stammenden Studentin 24 bis 62 Jahre Haft. Anders sieht es dagegen für diejenigen Insassen der Jugendhaftanstalten (Febem) aus, die aus weniger betuchten Familien stammen und kaum Möglichkeiten haben, den Zuständen der brasilianischen Gefängnisse zu entkommen. Allein in der Febem im Stadtteil Tatuapé (São Paulo) kam es bis Mai dieses Jahres zu dreizehn Aufständen (im Schnitt alle elf Tage einer), die in der Regel von Spezialtruppen der Polizei beendet wurden. Insgesamt fanden in den ersten sechs Monaten des Jahres 23 Aufstände in verschiedenen Febem-Einrichtungen statt, womit die Gesamtzahl von 28 des kompletten vergangenen Jahres bereits fast erreicht wurde. Mit 21 Geiselnahmen und offiziell fünfzig verletzten Insassen spiegelt der letzte Aufstand in der Febem Tatuapé im Mai 2005 eine durchschnittliche Rebellion ohne Todesopfer wider. In zahlreichen weiteren Aufständen der letzten Jahre kamen in verschiedenen Gefängnissen des Landes knapp hundert Personen ums Leben. Der Großteil starb während Auseinandersetzungen unter den Insassen, Einsätzen der Polizei oder verbrannte. In einigen Fällen wurden Insassen sogar geköpft und ihre Köpfe auf Stangen aufgespießt.
„Die Febem-Einrichtungen stellen ein gescheitertes System dar“, darin sind sich Fabio (LBTF) und André (GI) einig. Beide bezeichnen die Jugendgefängnisse als „Schule für Kriminelle“, in der die Kinder und Jugendlichen mit ihrem Frust und ihren Aggressionen allein gelassen werden. Schlimmer sogar, in der sie an die Kriminalität noch näher herangeführt werden. „Kinder, die wegen Lebensmitteldiebstahls gefasst wurden oder Drogen genommen haben“, so André, „sind mit Jugendlichen und Quasi-Erwachsenen zusammen eingesperrt, die wegen Drogenhandels oder Totschlags einsitzen. Diese haben einen enormen Einfluss auf die Kleineren. Der Aufstand in Tatuapé ist vergleichbar mit dem, der vor einem Jahr in Jabaquara [Stadtteil im Süden São Paulos, Anm. d. Verf.] stattgefunden hat. Dort allerdings wurde die Febem-Einrichtung aufgrund des Umfangs der Zerstörung geschlossen.

Der bekannteste Fall einer Gefängnisrebellion in São Paulo im Jahr 1992 wurde 2003 von dem brasilianischen Regisseur Hector Babenco in seinem äußerst sehenswerten Film „Carandiru“ verarbeitet. Bei diesem Aufstand und dem anschließenden Polizeieinsatz starben offiziell 111 Häftlinge. Menschenrechtler, die nach dem Aufstand Zugang zum Gefängnis fanden, sprachen dagegen von über 200 Toten. Das Gefängnis brannte teilweise ab. Erst zehn Jahre später wurde Carandiru endgültig geschlossen. Geplant ist nun, dort einen Jugendfreizeitpark zu errichten. Bis heute ist davon nichts zu sehen. Die Ruinen des Gefängnisses stehen noch immer.

São Paulo und Rio de Janeiro sind die zwei großen Metropolen, die in den letzten Jahrzehnten aufgrund der desaströsen Zustände auf dem Land und der boomenden Industrie in den Zentren Millionen von Brasilianer anzogen. Sehr zum Wohle der Industriellen bildeten sich zahlreiche Armensiedlungen (Favelas), die heute noch immer eine Masse billiger Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Die Zustände, die in Fernando Meirelles Film „Cidade de Deus“ (City Of God) beschrieben werden, stellen durchaus einen realen Blick auf die Wirklichkeit der brasilianischen Gesellschaft dar. Auch wenn die Kriminalität nicht verharmlost werden kann, so muss hinzugefügt werden, dass nicht alle Favelas ein Hort des Verbrechens sind. In vielen unterprivilegierten Stadtteilen haben soziale Projekte deutlich zu einer Verbesserung der Situation beigetragen.
Ein solches Beispiel ist das Projekt „Monte Azul“, das sich seit knapp 30 Jahren erfolgreich für die Entwicklung des gleichnamigen Stadtteils und seines Nachbarbezirks Peinha sowie des Bezirkes Monte Horizonte im Süden São Paulos einsetzt. So wurde nach langjährigen Verhandlungen mit der Stadtverwaltung im Jahr 2003 ein Kanalisationssystem in Monte Azul geschaffen, wodurch die hygienischen Zustände enorm verbessert werden konnten. Darüber hinaus wurde eine Gesundheitsstation gegründet, die den Einwohnern kostenlos zur Verfügung steht. Ferner konnten durch die Gründung einer Schreinerei Arbeitsplätze geschaffen werden und ein kulturelles Zentrum bietet verschiedene Kurse und Aktivitäten für Kinder und Jugendliche an, um sie von der Straße wegzuholen. Das Projekt wird unter anderem mit öffentlichen Geldern finanziert, lebt aber auch von Spenden und dem Einsatz der Volontäre, die sich dort in der Regel ein Jahr lang engagieren und im Gegenzug Essen und Unterkunft gestellt bekommen. Da erfahrungsgemäß der erste Schritt sehr groß ist, sich für ein Jahr bei einem unbekannten Projekt im Ausland zu bewerben, sei „Monte Azul“ allen Interessierten wärmstens empfohlen. Nicht zuletzt, weil dort regelmäßig junge Leute aus Deutschland mitarbeiten und auch das anfängliche Sprachproblem dementsprechend keine Hürde mehr darstellt. Ebenfalls der Zivildienst im Ausland („Anderer Dienst im Ausland“) kann hier absolviert werden. Weitere Informationen finden sich auf der Webseite monteazul.org.br. Anfragen können auch auf Deutsch an die Adresse international@monteazul.org.br gesandt werden.