BEN SNAKEPIT

Das Leben ist eine Schlangengrube

Wir kennen es doch alle: Unterwirft man sein Leben nicht der kapitalistischen Wertschöpfungskette mit der Anhäufung materiellen Wohlstands und servil-geradlinigem Karrierestreben als oberster Maxime, sieht man sich von Seiten Außenstehender schnell mit dem Vorwurf der Lethargie, des Slackertums konfrontiert. Zum Beispiel als Punkrocker. Auch Ben White aka Ben Snakepit aus Austin, Texas kann ein Lied davon singen. Und Comics darüber zeichnen.

Denn Ben ist nicht nur Bassist der großartigen Melo-Punks J CHURCH, mit denen er durch die Welt tourt und Platten aufnimmt, er veröffentlicht seit fast sechs Jahren auch noch seine Tagebücher in Comicform – jeder einzelne Tag kondensiert in einen Drei-Panel-Strip, das Portrait eines Lebens zeichnend, wie es den meisten Lesern und Leserinnen dieser Postille so oder so ähnlich aus eigener Erfahrung bekannt vorkommen dürfte. Zwischen Dayjobs, Freunden, Bands, Konzerten, unzähligen Partys, mitunter etwas komplizierten Beziehungen und so nervenaufreibender wie hingebungsvoller Zine-Produktion jongliert Ben mit einer Menge Dinge mehr, als so mancher auf ihn herabsehender Normalbürger, und verbittet sich somit ganz entschieden das Slacker-Label.
Zutreffender scheint da das Zitat des Cartoonisten James Kochalka, auf dem Rückcover der über Gorsky Press erschienenen Kollektion „The Snake Pit Book“, eine nette kleine Schwarte, die Strips der Jahre 2001 bis 2003 versammelnd. Kochalka, selbst berühmt für seinen täglichen Diary-Strip „American Elf“, sagt dort über Bens Leben, wie es sich in den Comics darstellt: „‚Snake Pit‘ stands out for the foolishness of the protagonist’s life. The endless punk rock shows, drinking binges and rotating girlfriends make life seem both utterly meaningless and yet still there’s a power there ... or at least an energy of some kind. A life crudely lived, but with gusto, and crudely recorded as little comic strips.“ Attribute, mit denen Ben sehr gut leben kann, wie er betont: „Das Kochalka-Zitat trifft es ziemlich genau. Sicherlich nicht das schmeichelhafteste, was je über mich gesagt wurde, aber wenigstens ist er ehrlich. Viele Leute nennen mich einen Slacker, aber ich denke, ich kriege genauso viel auf die Reihe wie jeder andere auch. Klar, wenn du die Comics durchliest, sieht es manchmal so aus, als täte ich an manchen Tagen nichts. außer fernzusehen und auf Shows abzuhängen, aber was bitte machen denn alle anderen tagein tagaus so furchtbar Wichtiges? Außerdem denke ich schon, dass in meinem Leben so einiges außer Saufen, Gras rauchen und Partys passiert. Die größte Herausforderung dabei, das Ganze in Strip-Form zu bringen, ist die Kürze des von mir gewählten Formates – drei Panels pro Tag, das ist nicht wirklich viel Platz. Üblicherweise versuche ich also, die drei interessantesten Begebenheiten des jeweiligen Tages zu verarbeiten oder, wenn viele coole Sachen passiert sind, die drei coolsten davon auszuwählen.“
Dabei ist Ben vor allem sich selbst und den Fallstricken seiner Punkrocker-Existenz gegenüber gnadenlos ehrlich und verarbeitet auch Situationen, die ihn in einem weniger vorteilhaften Licht erscheinen lassen, meistens aber durch ihre aufrichtige Menschlichkeit bestechen oder einfach nur zum Brüllen komisch sind: Sei es, dass er sich im Pillenrausch die Hosen vollpisst, sich volltrunken im Liebeskummer die Seele aus dem Leib kotzt, peinlich berührt einen wichsenden Obdachlosen der Videothek, in der er arbeitet, verweisen muss oder wie er einen dicken Haufen in den geparkten Protz-Jeep eines Frat-Boys setzt.
Was die negative Darstellung der Leute aus seinem Umfeld angeht, zeigt sich Ben allerdings ungleich rücksichtsvoller. „Ich versuche, die persönlichen Angelegenheiten anderer, so weit es geht, aus den Strips herauszuhalten, es sei denn, sie betreffen mich direkt. Wenn mich meine Freundin betrügt, zum Beispiel. Aber dem Privatleben meiner Freunde gegenüber habe ich größten Respekt. Sollte irgendetwas besonders kontrovers sein, zeige ich den Beteiligten den betreffenden Strip und lasse mir ihr Einverständnis geben, bevor ich ihn veröffentliche.“
Zwar hat Ben auch schon längere Arbeiten publiziert, scheint jedoch in den Diary-Strips das für ihn perfekte Medium gefunden zu haben. „Ich habe schon ein paar umfangreichere Sachen gemacht und arbeite im Moment auch an etwas Längerem, aber das geht echt im Schneckentempo voran. Ich probiere gerne viele verschiedene Dinge aus, habe aber festgestellt, dass mir fiktive Geschichten nicht sonderlich liegen. Das wahre Leben ist doch sowieso viel interessanter. Hinzu kommt, dass es für mich die beste Therapie ist, Comics über mein Leben zu machen. Ich werde wohl nie zum Seelenklempner müssen, denn meine Comics helfen mir echt, den Überblick zu behalten und mein Leben zu reflektieren, mich nicht über Kleinigkeiten aufzuregen und so. Das ist es auch, was mich anspornt, weiterzumachen, wenn ich mal die Schnauze voll habe. Ich meine, ich mache das jetzt seit fast sechs Jahren und habe nicht einen Tag ausgelassen. Das allein gibt mir den Willen, weiterzumachen. Ich habe noch nie in meinem Leben irgendwas so lange durchgezogen. Da würde ich mir echt dämlich vorkommen, wenn ich aufhören würde.“
Was „Snake Pit“ so charmant macht, ist, neben dem Suchtfaktor, den nahezu alle fortlaufenden gutgemachten Autobio-Comics mit sich zu bringen scheinen, vor allem die lakonische Narration, die sich im trügerisch simplen Zeichenstil widerspiegelt. Was auf den ersten Blick aussieht, als wäre es mehr oder weniger dahingekritzelt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen hier und da als kleines Juwel in Sachen ausgeklügelten Seitendesigns, bei dem die Hintergründe der einzelnen Panels sich zu einem, die gesamte Seite einbindendem Motiv vereinen. Sicher, Ben Snakepit ist kein Charles Burns, Adrian Tomine oder Daniel Clowes, was die künstlerischen Fertigkeiten angeht. Doch um zeichnerische Makellosigkeit geht es ihm auch gar nicht. Der Reiz seines Cartoonings liegt vielmehr in der Spontaneität und der naiven Rohheit seines Strichs. „Ich tusche direkt auf Papier – keine Vorzeichnungen, kein Bleistift. Wenn ich irgendetwas versaue, lasse ich es entweder einfach so oder arbeite es irgendwie in den Strip mit ein. Richtig fiese Schnitzer korrigiere ich aber auch schon mal mit Deckweiß. Ich arbeite größtenteils spontan, plane allerdings die subtilen Stilelemente, wie eben jene sich verbindenden Panel-Hintergründe im Voraus und haue das dann einfach so raus, wie es eben kommt.“
Diese Mischung aus Planung und Improvisation sowie eine Affinität für nur vordergründige Simplizität verbindet Ben auch mit seinen Vorbildern. „Künstlerisch bin ich stark von Scott Dikkers beeinflusst, der früher ein Comic-Tagebuch namens ‚Jim’s Journal‘ gemacht hat und von dem ich die Idee geklaut habe. Seine Geschichten waren allerdings fiktiv. Dann sind da noch James Kochalka, John Porcellino und Missy Kulik. Außerdem bin ich natürlich beeinflusst von Punk in allen Variationen – ob eher klassischer Stoff wie die MISFITS oder Neueres wie die OBSERVERS – und ziehe eine Menge Inspiration aus Künstlern wie Woody Guthrie und Abbie Hoffman. Am meisten inspirieren mich allerdings wohl Gras und Plattenhören, traurig aber wahr, haha. Ich stehe seit meinem dreizehnten Lebensjahr auf Comics und Punk, ohne dass es je einen Zeitpunkt gegeben hat, an dem ich mir bewusst sagte: Das ist es, was ich auch machen will! Ist einfach irgendwie passiert. Ich muss allerdings gestehen, dass ich nicht mehr so richtig auf dem Laufenden bin, was Underground-Comics und -Zines angeht. Von dem, was ich gelesen habe, war ich neben Missy Kulik vor allem von Clutch McBastard, Cristy Road und Abby Denson beeindruckt. In Sachen Musik bin ich da schon besser informiert. Von den neueren Bands mag ich vor allem THIS IS MY FIST, FLAMINGO 50, THE ERGS und TOYS THAT KILL. Da gibt es noch eine Menge mehr, aber das sind meine momentanen Top 4.“
Angesichts der Entwicklung der „Snake Pit“-Strips vom selbst zusammengetackerten Zine, zum mittlerweile vom Independent-Verlag Young American Comics vierteljährlich vertriebenen Underground-Kult-Titel, ganz zu schweigen von der bereits erwähnten, schmucken Kollektion „The Snake Pit Book“, ist es wohl nicht übertrieben von einer Bilderbuch-D.I.Y.-Karriere zu sprechen. „Meine Definition von Erfolg ist es, in der Lage zu sein, etwas zu produzieren – seien es Comics, sei es Musik – ohne mit dem eigenen Geld draufzahlen zu müssen. Das heißt nicht, dass du unbedingt die dicke Kohle mit deinem Kram verdienen musst. Wenn du plusminus Null dabei herauskommst, dann bist du in meinen Augen erfolgreich. Das ist natürlich schwieriger, wenn man es auf dem D.I.Y.-Level durchzieht, aber wenn letztendlich alles klappt, ist das Gefühl, etwas erreicht zu haben, um ein Vielfaches größer und befriedigender. Bei mir ist es mittlerweile so, dass ein guter Teil meines Einkommens aus den Comics und der Musik stammt, was sehr schön ist. Allerdings bin ich immer noch auf meinen Dayjob in der Videothek angewiesen, um die Miete zahlen zu können.“
Ein Glück also, dass Austin, im Gegensatz zu so vielen anderen Städten in den USA, auch für den schmalen Punkrock-Geldbeutel vergleichsweise erschwinglich ist – trotz kurzfristig dräuender Gentrification durch den massenhaften Einfall von Dot-Com-Yuppies. Und dann hat die texanische Enklave unkonventioneller Lebensentwürfe ja noch den Ruf der Music-City überhaupt. „Ja, Austin ist schon nett. Allerdings ist die Musikszene hier bei weitem nicht so übermäßig bombastisch großartig, wie alle behaupten. Klar, es gibt hier eine unglaubliche Menge an Musik, aber das Meiste ist einfach bekackter Bar-Rock. Zwar machen jede Menge geiler Bands auf Tour Halt in Austin, aber von den lokalen Bands sind vielleicht drei oder vier richtig gut. Was die Yuppies angeht, die sind nach dem Platzen der Dot-Com-Blase größtenteils wieder dahin zurück verschwunden, wo sie hergekommen sind, was den Gentrification-Prozess spürbar zurückgeschraubt hat.“
Wie eingangs erwähnt, ist Ben nicht nur ein ausgewiesenes Party-Animal, sondern auch noch unverbesserlicher Workaholic. Und so wird auch auf seiner zweiten kreativen Baustelle gerade im Akkord gerackert und gerockt. „J CHURCH gehen im November auf US-Tour und nehmen im Dezember und Januar ein neues Album für No Idea auf. Leider ist für die nähere Zukunft keine Europatour geplant, aber wir sind alle unheimlich heiß darauf, wieder bei euch aufzuschlagen!“ Bleibt zu hoffen, dass sich ein findiger Booker darauf besinnt, dass es sich bei J CHURCH um eine der feinsten Adressen in Sachen Pop-Punk handelt und die Jungs so bald wie möglich wieder rüberholt. Underground-Comic-Fans seien bis dahin „The Snake Pit Book“ empfohlen sowie die vierteljährlich erscheinenden „Snake Pit“-Einzelausgaben. Doch Vorsicht: Es besteht Suchtgefahr! Sollte der Comic-Shop eures Vertrauens „The Snake Pit Book“, das bislang nur in Englisch vorliegt, übrigens nicht in der Import-Ecke vorrätig haben, kann es direkt beim Verlag Gorskypress bestellt werden. Gleiches gilt für die Einzelhefte von „Snake Pit“, von denen seit Erscheinen der Kollektion acht neue Ausgaben bei Young American Comics erschienen sind.