MARSHES

Irgendwie tut man den MARSHES unrecht, wenn man sie erstmal auf ihr bekanntestes Mitglied Colin Sears reduziert, DAG NASTY und DOWN BY LAW hin, ALLOY her. Denn bereits mit ihrem ´95er Debüt auf dem Hamburger Label Evade Rec. machte die Band aus Amherst im US-Bundesstaat Massachussetts deutlich, dass von ihr noch einiges zu erwarten ist. Mit dem ein Jahr später auf Grass Rec. bzw. Bitzcore erschienenen "Fledgling"-Album gelang dem Trio dann auch ein echter Geniestreich, doch gleichzeitig verliess sie das Labelglück: der Stress mit Grass Rec. verhinderte eine bereits gebuchte Europatour. Jetzt hat sich Bill von Dr. Strange Records der MARSHES angenommen, und oh boy, der Mann steht auf die Band - wochenlang lief in seinem Auto nichts anderes als ein Tape mit den "Fledling"-Songs. "Pox On The Tracts" heisst die neue Scheibe, die erfreulicherweise auch auf Vinyl erschienen ist und über die ich mich mit einem supernetten Colin Sears unterhielt.

Können wir in ein paar Sätzen die Vorgeschichte der MARSHES klären?

Klar. 1994 spielte ich noch bei ALLOY, oder zumindest so halb - mal war ich drin, mal draussen. Ich tourte mit DOWN BY LAW, kam zurück, spielte noch ein bisschen bei ALLOY, aber da zeichnete sich deren Ende schon ab, weil keiner mehr so richtig Lust hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mit meinem alten Freund Emil Busi schon über eine neue Band gesprochen, und dann traf ich noch Steven Wardlaw, mit dem ich früher schonmal zusammen in einer Band gespielt hatte. Im Frühsommer ´94 probten wir dann mal zusammen, und es funktionierte hervorragend - vier Tage machten wir nur zusammen Musik, es war phantastisch! Und damit waren die MARSHES geboren, das heisst, wir legten erst nach dem Sommer so richtig los.

Kennt man die Bands, in denen ihr vorher gespielt habt?

Wohl eher nicht. Mit Emil spielte ich bei RUMBLE PUPPY, die allerdings nicht besonders gut waren, und mit Steven war ich bei GRAVE GOODS - auch nix besonderes.

Mit ALLOY und DOWN BY LAW spieltest du bei Bands, bei denen du - zumindest habe ich angesichts der starken Persönlichkeit von Vic Bondi bzw. Dave Smalley das Gefühl - eher im Hintergrund standest. Die MARSHES scheinen alles in allem mehr "deine" Band zu sein.

Hm, sagen wir so: bei ALLOY waren lauter starke Persönlichkeiten beteiligt. Als ich und Roger Marbury dort einstiegen, prägten wir die Band durchaus, es war also eine andere Band als der Vorgänger JONES VERY. Als wir einstiegen, war sogar geplant, als JONES VERY weiterzumachen, aber da wir den Sound doch veränderten, wurde die Band umbenannt. Für mich ist das erste ALLOY-Album "Eliminate" sogar eine der besten Platten, auf denen ich gespielt habe. Es war spannend und aufregend mit ALLOY zu spielen, aber es war auch immer sehr anstrengend, mit Vic in einer Band zu sein, wobei wir privat immer gut klarkamen, nur in der Band nicht ganz so gut.

Was DOWN BY LAW betrifft, so war es tatsächlich so, dass ich kurzfristig für den ausgestiegenen Drummer einsprang. Und obwohl Dave Smalley einer meiner ältesten Freunde ist, ist es doch so, dass DOWN BY LAW von Anfang an vor allem die "Dave Smalley Band" waren und er daraus auch kein Geheimnis macht. Lange konnte das mit uns also nicht gutgehen, denn wenn ich wo mitmache, will ich auch voll involviert sein: bei DAG NASTY war das so, bei ALLOY und heute bei den MARSHES. DOWN BY LAW war da eine ganz andere Kiste: zum einen die Umstände, "nur" ein Drummer zu sein, zum anderen die ungewohnte Westküste, das machte die Sache nicht einfach. Ehrlich, Eastcoast und Westcoast, das ist wie Deutschland und Südfrankreich, irgendwie eine andere Welt. Ich bin, um die Sache abzuschliessen, also echt froh, bei den MARSHES spielen zu können.

Kannst du an dieser Stelle vielleicht aufklären, was mit Vic Bondi geschehen ist? Ich habe nur gehört, dass er nach Seattle gezogen ist, um für Microsoft zu arbeiten.

Oh ja, das stimmt! Der verdient da in einem Jahr soviel Ged wie ich wohl in zehn Jahren nicht. Er arbeitet also für Microsoft, und er hat vor einer Weile auch ein neues Album aufgenommen. Einer der Alternativnamen für ALLOY war immer THE ZAPRUDER FILM - du weisst schon, diese Amateuraufnahme des Mordes an John F. Kennedy - und den Namen hat Vic jetzt ausgegraben für sein Projekt mit dem Gitarristen von RAGE AGAINST THE MACHINE. Die Platte ist schon längst fertig und soll wohl irgendwann auf Sony rauskommen. Wer will, kann ja selber mal versuchen, ob er mehr darüber rausfindet - Vic müsste eigentlich per eMail unter vic.bondi@microsoft.com oder so erreichbar sein. Naja, weisst du, Vic ist eigentlich echt ein total netter Kerl, da ist es einfach etwas hart, dass er als erklärter Antikapitalist jetzt für Bill Gates arbeitet. Ich finde das etwas extrem...

Apropos - von was lebst du denn?

Nicht von den MARSHES, haha! Ich studiere seit einigen Jahren und unterrichte gleichzeitig jüngere Studenten, und seit diesem Jahr habe ich auch eine Stelle in einem Forschungsprojekt. Für all das gibt´s zwar kaum Geld, aber es gibt echt miesere Jobs. Ich studiere Geographie und arbeite unter anderem an der Erhaltung von Bodendenkmälern. Wenn wir jetzt hoffentlich auf Tour gehen, muss ich die Uni-Jobs mal wieder aufgeben, aber im Sommer mache ich dann weiter.

Eure erste Platte kam in Deutschland auf Evade - gab´s davon auch eine US-Version?

Ja, allerdings enthielt die nur sieben statt neun Songs. Beide CD-Versionen sind aber längst ausverkauft - von der auf Evade gab´s wohl so 2.000, und von der in den USA auf Sike Rec. circa 1.500. Was eine Wiederveröffentlichung betrifft, so sieht es derzeit nicht gut aus, denn als wir nach dieser Platte bei Grass unterschrieben, wollten die das Debüt auch nochmal rausbringen und wir verkauften ihnen die Rechte. Naja, und jetzt arbeiten wir stark daran, die Rechte zurückzubekommen, damit Dr. Strange die Platte rausbringen kann.

Erzähl uns doch mal kurz, was da mit Grass Records abging und beinahe zur Auflösung der MARSHES führte.

O.k., wo fange ich an? Also, als wir bei Grass unterschrieben, war es ein Independent-Label. Vier Monate später, als wir gerade "Fledgling" aufnahmen, schlossen die einen Vertriebsvertrag mit BMG ab, und davon war ich von Anfang an nicht besonders begeistert. Als wir dann im Frühsommer ´96 in Deutschland auf Tour waren, steigerte sich mein Unbehagen immer mehr, aber Steven und Emil waren der Meinung, wir sollten nichts überstürzen. Als wir zurück waren, trafen wir uns mit den Grass-Leuten und mussten feststellen, dass die irgendwie keinen Plan hatten, wie es weitergehen sollte. Wir allerdings hatten bewusst bei einem Indie unterschrieben und wollten nicht bei einem Major-Sublabel sein. Es stellte sich dann auch heraus, dass der Boss von Grass so ein reicher Schnösel ist, der keinerlei Ahnung von guter Musik hat und es einfach cool findet, ein Label zu haben. Wir hatten eben immer nur mit Camille zu tun, einer Frau, die ich seit DAG NASTY-Tagen kannte und die bei Grass arbeitet. Die Situation war echt beschissen, denn wir dachten, mit dem Grass-Deal könnten wir richtig durchstarten, und so hatten Steven, der auch zwei Kinder hat, und ich unsere Jobs aufgegeben, um richtig touren zu können - erst sechs Wochen durch die USA, dann fünf durch Europa. Doch da die Sache mit Grass dann voll in die Binsen ging und wir uns mit denen völlig zerstritten, mussten wir die Touren canceln und uns wieder Jobs suchen, um überhaupt die Miete zahlen zu können. Tja, was soll ich noch gross dazu sagen? Wir haben unsere Lektion gelernt und sind uns jetzt umso sicherer, dass wir uns um möglichst alles selbst kümmern sollten.

Als Konsequenz habt ihr bei Dr. Strange unterschrieben, einem Label, bei dem alles auf einem sehr persönlichen Level läuft.

Oh ja, das ist uns sehr wichtig. Bill ist ein supernetter Kerl, und eigentlich hätten wir schon längst bei ihm sein können, doch als uns sein Brief erreichte, hatten wir gerade einen Monat vorher bei Grass unterschrieben. Bill arbeitet derzeit daran, von Grass die "Fledgling"-Rechte zu bekommen, damit wir dann alle Platten auf Dr. Strange haben.

Verrate mir doch mal, was so besonders an Bad Bramstedt ist, dass ihr im Booklet der neuen CD einen entsprechenden Kartenausschnitt abgebildet habt.

He, ganz einfach: da wohnt Holger Ebeling, der auf Evade Records unsere erste CD rausgebracht hat. Das ist eher so ein Insider-Witz.

Das Artwork eurer neuen Platte ist wunderhübsch: drei gezeichnete Soldatenbübchen, die eine Kanone laden. Wo habt ihr das denn her?

Aus einem Malbuch von Anfang der Vierziger. Emils Bruder hat es auf einem Flohmarkt gefunden, und es war total heftig, all diese militaristischen Bildchen für Kinder. Unser Cover ist das Titelbild des Buchs, und es war im Original total zerfleddert und ausgeblichen, doch Emils Bruder André hat mit dem Computer ein wahres Wunder vollbracht.

Und die Rückseite? Da ist Foto zu sehen, auf dem drei echte Heuschrecken mit einem Helm auf dem Kopf in einem Auto sitzen.

Das ist auch wieder so ´ne Sache aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Wir haben diese alte Ausgabe der Zeitschrift Life gefunden, und da war dieses Foto. Es gab da wohl so einen verrückten Typen, der mit toten Heuschrecken und Spielzeugautos versucht hat, die Schlachten des Krieges nachzustellen - eine völlig verrückte Sache.

Die neue Platte habt ihr mit Don Zientara in den Inner Ear Studios aufgenommen, dem legendären Dischord-Studio. Wie war das für dich, gewissermassen wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren?

Schön und seltsam zugleich. Roger und ich waren ja schon vor DAG NASTY zusammen in einer Band, und damals, mit 17, war Inner Ear das erste Studio, das ich von innen sah. Später nahmen wir dort mit DAG NASTY auf, und über all die Jahre kehrte ich nach Inner Ear zurück, so auch mit RUMBLE PUPPY. Was die MARSHES anbelangt, so wollten wir von Anfang an dort aufnahmen, doch irgendwie klappte es nie - bis jetzt. Ausserdem ist Inner Ear heute auch nicht mehr so billig, weshalb wir vorher richtig heftig üben mussten, um das Album dann in einem akzeptablen Zeitraum einspielen zu können. Und deshalb ist es auch ein beinahe live eingespieltes Album.

Ohne das jetzt werten zu wollen: im Vergleich mit "Fledgling" hört man das. Ich schätze mal, dass Grass euch ein recht dickes Studiobudget gegeben hatte.

Nein, das stimmt nicht mal. Das Studio war nur viel billiger und wir hatten mehr Zeit beim Aufnehmen. Aber darauf kommt´s auch nicht an: wir drei sind mit "Pox on the tracts" viel zufriedener, es ist einfach direkter, hat mehr mit uns zu tun und ist nicht so poliert. Abgesehen davon haben wir uns in den letzten Jahren auch weiterentwickelt, so dass diese Platte uns mehr entspricht.

Lass uns nochmal kurz darauf zurückkommen, dass beim Thema MARSHES immer wieder deine DAG NASTY-Vergangenheit auftaucht. Nervt das nicht auf Dauer?

Manchmal ist das echt eine Bürde. Die MARSHES werden ständig damit verglichen, und ich bin schon zufrieden, es geschafft zu haben, dass nicht mehr auf jedem Konzertflyer, jeder Anzeige und in jeder Besprechung was von "ex-DAG NASTY" steht. Klar, irgendwie ist das ein "Verkaufsargument", aber das ist doch alles schon so lange her, dass es kaum noch was mit meiner heutigen Band zu tun hat. Andererseits waren DAG NASTY einfach eine sehr gute Band, es gibt also nichts, wofür ich mich schämen müsste.

Gut, schliessen wir das Thema mit der Frage ab, ob uns doch noch eine DAG NASTY-Reunion bevorsteht.

Diese Frage kann ich zu 99,9% verneinen. Gerüchte dieser Art gibt es seit dem "Four on the floor"-Album immer wieder, wobei ich sagen muss, dass schon dieses Album kein richtiges DAG NASTY-Album war. Ich finde die Platte o.k., aber letztendlich muss man sagen, dass da nicht die Arbeit reingesteckt wurde, die nötig gewesen wäre. Deshalb nochmal: man sollte niemals nie sagen, aber eine Chance von 0,1% besteht immer. Wir sind einfach alle so weit von damals entfernt, weisst du? Andererseits: wer weiss schon, was uns alten Herrschaften in den nächsten drei Jahren so einfällt.

Was die musikalisch Seite der MARSHES anbelangt, so kann man meiner Meinung nach durchaus sagen, dass du dich in all den Jahren weder mit ALLOY noch mit den MARSHES weit von dem entfernt hast, was damals bei DAG NASTY gespielt wurde.

Da stimme ich dir völlig zu. Die MARSHES haben zwar ihren eigenen Sound, aber letztendlich bin ich immer im gleichen Genre geblieben: DAG NASTY waren eine sehr melodische Band und die MARSHES sind eine melodische Band. Und woran ich das besonders merke ist die Reaktion von Frauen: DAG NASTY waren damals besonders bei Frauen beliebt, weil wir eben nicht so hart waren wie die ganzen Hardcore-Bands, und bei den MARSHES gibt es heute die gleiche Reaktion.

Wenn wir schon beim Thema sind: was für Bands haben dich denn beeinflusst?

Das waren die ganzen frühen britischen Punkbands, später dann auch New Wave. Und danach waren es die ganzen D.C.-Hardcore-Bands, mit denen ich aufwuchs, allen voran MINOR THREAT. Heutzutage höre ich so viele verschiedene Sachen, dass ich mich da nicht festlegen kann. Allerdings sind da kaum neue Punkbands dabei, denn die meisten langweilen mich einfach. Eine Ausnahme sind da ein paar europäische Bands wie FREE YOURSELF und BURNING HEADS, die mir sehr gut gefallen - im Gegensatz zu diesen ganzen US-Bands auf Fat Wreck, die nur gut produziertes Mittelmass sind. Als Band sind wir eben ziemlich "old school" und nur bedingt für Leute tauglich, die vor allem auf Epitaph- und Fat Wreck-Bands stehen.