MILHOUSE

Tja, wie kriege ich bloss die Kurve vom Simpsons-bekannten Milhouse zur gleichnamigen New Yorker Band? Irgendwie gar nicht, scheint mir, denn während das Vorbild nicht unbedingt positiv rüberkommt, eher den typischen Opportunisten und Trittbrettfahrer gibt, sind MILHOUSE als Band ein verdammt eigenwilliges und starkes Geschöpf. Nach der ´96er EP "Modern problems, old-fashioned solutions, and classic mistakes" erschien jetzt, wiederum auf Wreck-Age, das Debüt-Album "Obscenity in the milk", das einmal mehr mit sowohl einfühlsamem wie aggressivem Hardcore zwischen "old school" und "new school" besticht. Vom damaligen Line-up sind heute nur noch Sänger Artie Philie und Gitarrist Brian Meehan dabei, doch Ersatz wurde gefunden mit Greg Collins (dr, ex-SLEEPASAURUS), Rachel Rosen (bass, ex-SFA) und Justin Brannan (gt, auch INDECISION). Unser New York-Korrespondent nahm sich MILHOUSE-Sänger Artie im Herbst für dieses Interview vor.

Euer neues Album, das euer erstes Abenteuer im Reich der Langspielplatten ist, nennt sich "Obscenity in the milk", also "Obszönität in der Milch". Ich glaube, ´ne Menge Leute werden sich fragen, was zur Hölle das bedeutet.

Das ist ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat aus Ernest Hemingways Buch "For whom the bell tolls". Ich könnte da jetzt bis ins kleinste Detail gehen, stattdessen erzähl ich dir die leicht verdauliche Version. Wenn du das Buch gelesen hättest, wüsstest du, daß das Zitat an einem Punkt der Geschichte vorkommt, der die völlige Frustration darstellt, unter der einer der Nebencharaktere leidet. Er ist ein Aufständischer, der sich in den spanischen Bergen versteckt hält und der immer öfter feindliche Bomber über ihm am Himmel vorbeifliegen sieht. Er ist also ein Mann, der jeden Tag dem Tod ins Auge sieht, unter Umständen, die er nicht beeinflussen kann, und deswegen ist alles, was ihm bleibt, diese Umstände immer und immer wieder zu verfluchen. Das ist grundlegend das Gefühl, dass wir mit MILHOUSE ausdrücken wollen. Das ist meine Art, der Welt erbittert die Faust entgegenzustrecken. Jeder Text auf der Platte beweist das auch.

Zum Beispiel?

Nun, "Haunted house" etwa, da geht´s darum, in einer Art selbstkreiertem Gefängnis zu leben. Das gleiche bei "Sleeping with the enemy", das gibt auch so ein bestimmtes Gefühl wieder. "Versus excalibur" beschreibt den Kampf, den du nicht gewinnen kannst, wie auch die meisten der Auseinandersetzungen, in die ich verwickelt bin, unnütz sind.

Glaubst du, dass deine Texte verstanden werden, so, wie du sie erklärst?

Ich bezweifle es. Manchmal frage ich mich, ob überhaupt jemand liest, was ich schreibe, oder ob die Leute es nur mögen uns zuzuschauen und vorgeben, dass sie wüssten, was in uns vorgeht. Letztendlich kümmert es mich aber auch nicht, ob mich jemand versteht. Nicht, dass ich es nicht geniesse Anerkennung für mein Tun zu ernten, aber letztendlich schreibe ich die Texte für mich, so klischeehaft das klingen mag. Ausserdem sind die Songs selbst nur die eine Hälfte des Konzepts. MILHOUSE sind ein Live-Erlebnis, erst dort kommt unsere Energie richtig zur Geltung. Wir lieben es zu spielen, und wir spielen um uns zu amüsieren, und manchmal ist das Publikum ein bischen mehr als eine störende Menge. Und gelegentlich kann das Publikum auch der Feind sein.

Ihr benutzt einige "Requisiten" bei einigen eurer Shows, wie die Ski-Maske die du manchmal trägst, oder die US-Flagge, auf welche die Zahl 666 aufgemalt ist. Hat das eine bestimmte Bedeutung?

NATÜRLICH. WARUM SONST SOLLTE ICH MIR DIE ZEIT NEHMEN ´NE VERDAMMTE MASKE AUFZUZIEHEN ODER MITTEN IM SET EINE FLAGGE VOR MEINEN FÜSSEN AUSBREITEN, WENN SIE KEINE BEDEUTUNG HÄTTEN!?

Also, worum geht's?

Nun, da gibt es verschiedene Gründe, sowohl für die Maske als auch für die Flagge. Beides sind Symbole, Metaphern für Ideen und Gefühle, die ich mit meinen Texten zu verbinden versuche. Die Maske, nun, wir tragen alle irgendwie Masken. Ich möchte damit dem Publikum zeigen, dass meine nur viel offensichtlicher ist als bei den meisten. Es ist der Versuch, Aufrichtigkeit abstrakt zu zeigen. Sie erleichtert mir das zu tun, was ich tun will, und sie hat beim Publikum den Effekt, dass da vielleicht was hängenbleibt. Deswegen ist es sowohl ein psychologisches Ding wie auch eine Metapher.

Ich vermute, dass sich hinter der Aktion mit der Flagge ein politisches Statement verbirgt.

In gewisser Weise. Aber es ist nicht irgendein Anti-Amerika-Klischee, es ist fast das Gegenteil. Ich beschäftige mich in meinen Texten sehr viel mit der offensichtlichen Dummheit der Menschheit. Besonderes hier in den Staaten, mit einer Regierung voller Idioten, die wiederum nur Idioten regieren, scheint sich die Menschheit tatsächlich zurückzuentwickeln, sie wird immer ungenügsamer und immer unselbstständiger. Im Gegensatz dazu der satanistische Gedanke, der dafür steht die Menschen an ihren persönlichen Taten zu messen, sie als Individuen und nicht als gesichtslose Masse zu sehen.

Sie werden nach ihren Fähigkeiten beurteilt und nicht nach ihrer Rasse oder ihrem Geschlecht. Meiner Meinung nach sollten nämlich die, die es können, sich nach ihren Möglichkeiten der Wirklichkeit bewusst werden, da sie sich sonst auf ein niedrigeres soziales Level verbannt finden werden.

Die grundlegenden Prinzipien der amerikanischen Gesetzgebung scheinen dieses Konzept zu verkörpern, doch in der Praxis wurde unsere Regierung immer mehr in Selbsttäuschung und ehrloses Verhalten verstrickt. Aber zur gleichen Zeit hilft ihre Unfähigkeit den Leuten mit weniger Intellekt, aber der Bereitschaft zu arbeiten, zu existieren - nicht in dem Sinn einen Job zu kriegen, sondern in ihrer Bereitschaft voranzukommen. Mir scheint, dass der Kapitalismus als System, das gekennzeichnet ist durch Gier, eines ist, von dem nur die wirklich findigen Leute profitieren können, darunter Geschäftsleute, Künstler oder auch Leute die sich Sozialhilfe erschummeln oder Steuern hinterziehen - jeder, der das tut, "bekämpft das System".

Für mich ist das System eine Ansammlung von Regeln, die existieren um gebrochen zu werden, wenn du jemals über den Status eines Sklaven oder Lakaien hinwegkommen willst. Die Regeln sind dazu da, die zu unterdrücken, die dumm genug sind, diesen zu gehorchen, denn für die anderen, die entschlossen und schlau genug sind, stellen sie nur eine Sprosse der Leiter dar, auf der sie emporklettern. Und die Flagge, die unser Land repräsentiert, ist deshalb mit der 666 über den Sternen und Streifen geschmückt, um eine visuelle Metapher darzustellen für diese Idee und wie diese angewandt wird, oder zumindest wie sie angewandt werden sollte, an uns Amerikanern und noch wichtiger an uns als Individuen.

Nach diesen Ausführungen könnte man dich ja fast als "patriotischen Anarchisten" bezeichnen.

Nun, ich weiss über Patriotismus nicht so richtig Bescheid. Ich sehe nur das Potential für Individuen, in Amerika voranzukommen. Ich bin mir sicher, das ist woanders genauso möglich, aber es ist eben nur Amerika, mit dem ich persönlich vertraut bin. Ich mag es auch irgendwie, aber ich verspüre keine besonders grosse Loyalität gegenüber "meinem" Land. Ich würde nie für es sterben wollen. Ich mag es hier zu leben, das soziale Klima, mein Leben und die Gemeinschaft mit meinen Freunden passt mir einfach, schätze ich mal.

Wo wir gerade beim Thema "soziales Klima" sind, wie denkst du über die sogenannte "political correctness" in der Hardcore-Szene?

Zuerstmal hat mich der Begriff schon immer aufgeregt. Das Gespenst der "Political Correctness" ist ja etwas, das sich konservative Meinungsführer zusammengesponnen haben, um sich selbst gegen progressive Ideen oder Reformen zu schützen. Wenn jemand Vegetarier oder Feminist ist oder ein sehr politischer Mensch, vielleicht nur wenig von der Position der Linken entfernt, oder wie auch immer der gegebene Status Quo sein mag, nun, diese Leute und ihre Überzeugung werden als "politically correct" trivialisiert. Der Begriff ruft Bilder von Beatniks und Hippies hervor, die nichts anderes im Sinn haben als ihre Bemühungen, anderer Leute Denken und Tun zu ändern. Sicher gibt es Leute wie diese, und es gibt auch Leute die viel zu vertieft in ihren eigenen Liberalismus sind. Aber im Allgemeinen sind die Leute, die andere als zu "PC" anklagen, oft die gleichen wie die, die Sachen verteidigen, die einfach nicht zu verteidigen sind, wie z.B. Rassismus, Sexismus oder Schwulenfeindlichkeit.

Leute, die fest zu ihren Überzeugungen stehen, würden den Begriff "politically correct" niemals für sich selbst verwenden oder sich gar mit ihm schützen wollen. In der Hardcore-Szene passiert das trotzdem ziemlich oft. Menschen tendieren kurioserweiser oft dazu dem Rahmen mehr Bedeutung als dem Bild zu schenken. Ich will damit sagen, dass Leute in der Szene, die Themen wie Strichcodes auf den Platten aufgreifen oder Texte überanalysieren, man so beschreiben könnte, dass sie nicht verstanden haben, für was diese Musik und diese Subkultur steht und was sie sein könnte.

Würdest du sagen, dass Politik zum grössten Teil von Punk und Hardcore ferngehalten werden oder zumindest eine kleinere Rolle spielen sollte?

Nein, keineswegs! Auf keinen Fall! In Wirklichkeit ist das Hinterfragen der Mechanismen unserer Szene ein wichtiger Teil derselben, genauso wie das Beschäftigen mit den Dingen die sich in der Welt um uns abspielen. Da muss es irgendwie eine Balance geben zwischen diesen beiden Faktoren und der Tatsache, dass Musik auch unterhalten soll. Ich meine, wäre jemand von uns dabei, wenn wir nicht ursprünglich die Musik gehört hätten? Ich bezweifle das. Wenn es nicht diese satirische Gehässigkeit im Punkrock gäbe, wären wir wahrscheinlich nicht besser als diese "PC"-Labersäcke, als die wir manchmal hingestellt werden. Entweder das, oder wir würden alle die neuen METALLICA- oder VAN HALEN-Platten kaufen. Ich weiss nicht, welches Schicksal schlimmer ist.

Die allgegenwärtige Frage: Religion im Hardcore?

Ich habe kein Problem damit.

Wirklich?

Warum sollte ich? Ich bin Satanist und das spiegelt sich auch in meiner Band wieder, besser gesagt, ich fördere es. Nur weil ich denke, dass ein paar Glaubensrichtungen überflüssig sind, heisst das nicht, dass ich sie verbannen kann. Greg unser Drummer, brachte es neulich auf den Punkt, als er sagte, dass Punk und Hardcore ideologisch nicht festgelegt sei, sondern ein offenes Forum darstellten für alle möglichen Ideen, sei es Religion, Widerstandskampf oder Saufthemen. Ganz egal, ob einige Szenegurus Punk in eine bestimmte Richtung lenken wollen, es wird immer Cliquen geben, die das ignorieren und ihre eigene Philosophie in die Szene bringen werden. Kannst du abstreiten, dass Religion ein wichtiger Teil von Hardcore ist, wenn du dich richtig damit beschäftigst? Wer sind die Leute die sich überhaupt über so etwas aufregen? Verlierer sind es, Schwachsinnige, die sonst nichts zu tun haben. Jeder, der sich zu viele Gedanken über Religion und Hardcore macht, sollte mal Prioritäten in seinem Leben setzen.

Aber versuchst du nicht auch mit deinen Texten und deiner Metaphorik das Christentum zu "bekämpfen"?

Absolut nicht. Das wäre doch reine Zeitverschwendung. Ich meine, wenn ein selbsternannter Gegenkultur-Guru einen nutzlosen Krieg gegen das Christentum im Speziellen oder Religion im Allgemeinen in Betracht zieht, o.k., von mir aus, soll er doch. Aber ich persönlich fühle, dass wenn du so viel Glauben in Dinge steckst, die du nicht sehen oder berühren kannst - was für die meisten die Basis von Glauben ist -, nun äh, zu dumm, ich weiss auch, dass es nutzlos ist Zeit zu verschwenden um Fanatiker zu überzeugen. Auf was du nun unsere Texte und Metaphorik beziehst, ist meistens das Ergebnis dessen, was wir vom Satanismus übernommen haben, oder es ist das Ergebnis dessen, was ich vorhin schon erklärt habe, unsere Intoleranz gegenüber dem Fehlen von menschlichen Eigenschaften wie Konsensfähigkeit und Intuition. Das Christentum lebt von einem riesigem Reservoir an solchen Leuten, und vielleicht stelle ich manchmal diese "Jesusdronen" gelegentlich ein bisschen bloss.

Aber du hast dich selbst nicht als atheistisch bezeichnet, sondern als "anti-theistisch" im Sinne von gegen jede Art von Gottgläubigkeit zu sein.

Ja, habe ich. Und soweit mich das betrifft, bin ich das auch. Aber ich habe weder die Zeit noch die Neigung, all die Schwachköpfe auf der Welt zu erleuchten. Zeig mir einen, der das tut, und ich werde dir einen zeigen, der nichts anderes mit seinem Leben anzufangen weiss.

Wechseln wir das Thema: Mit all den Line-Up-Wechseln, die es seit MILHOUSEs Gründung gab, denkst du, dass es da einen bestimmten Punkt gibt, an dem die Band aufgehört hat MILHOUSE zu sein? Hast du jemals daran gedacht, dass es besser gewesen wäre, wenn ihr euch vor einiger Zeit aufgelöst hättet?

Nun, manchmal kommt dieser Gedanke auf, besonders nachdem ich die ganze Kritik mitbekommen habe, die DEADGUY einstecken mussten, weil sie den Bandnamen beibehalten haben, obwohl die kreativen Kräfte der Band ausgestiegen waren. Der Unterschied ist, dass MILHOUSE schon immer hauptsächlich Brians und meine Band gewesen ist. Wir schreiben die Musik und die Texte, wir entscheiden welche Shows wir spielen, und wir sind wirklich dafür verantwortlich, was ästhetisch für unsere Band drin ist. Wenn Keith Huckins und Tim Singer anstatt DEADGUY zu verlassen die anderen rausgeschmissen hätten, wären sie völlig im Recht gewesen weiter als DEADGUY aufzutreten, aber so spielen heute ein paar Verlierer Songs nach, die sie nicht geschrieben haben und versuchen möglichst böse zu wirken. DEADGUY sind, traurig das sagen zu müssen, zu einer richtig billigen Cover-Band geworden. Der Punkt ist, MILHOUSE würden aufhören MILHOUSE zu sein, wenn Brian oder ich aufhören würden. Das soll aber nicht heissen, dass die bisherigen Mitglieder von MILHOUSE nichts dazu beigetragen oder irgendwie die Substanz der Band in den letzten Jahren verändert haben. Auch wenn das jetzige Line-Up das wahrscheinlich beste ist, das wir je hatten, so würde das Album, das wir gerade aufgenommen haben, doch anders klingen, wenn nicht Dave oder Laura oder einer der anderen, die ausgestiegen sind, ihre Einflüsse und Persönlichkeiten eingebracht hätten. Das hört sich vielleicht wie Bullshit an, ist aber die Wahrheit. Wir sind immer MILHOUSE gewesen, in jeder Besetzung, und der einzige mögliche Fall, dass wir auseinanderbrechen könnten, wäre wenn Brian und ich uns gegenseitig auf den Geist gehen oder uns die Band einfach zu langweilig werden würde. Bis jetzt war es aber jedenfalls alles andere als langweilig.

Warum stört es euch so, wenn ihr als "Emo-Hardcore"-Band bezeichnet werdet?

Weil "Emo" ein nutzloses Adjektiv ist, wenn du eine bestimmte Musikrichtung beschreiben willst. Es ist einfach überflüssig. "Emo" wird als Abkürzung für "Emotional" verwendet, und meines Wissens nach ist Musik meistens emotional - ganz egal, ob diese Emotionen ehrlich oder vorgetäuscht sind. Ausserdem sind die meisten Bands, auf die diese Bezeichnung im Hardcore zutrifft, übelster Scheiss. Bands, die du als Emo-Bands bezeichnen kannst, sind meistens Bands, die richtungslose, monotone Musik gepaart mit innerlicher Traurigkeit spielen, mit pseudo-politischen Texten oder nicht erwiderter Liebe als Hauptthema. Sie tragen ihre Musik und Texte einer vor sich hin siechenden Szene vor, mit den obligatorisch absurd-obskuren Bandnamen und eben solchen Titeln. Und zu solchen Bands passen wir nicht. Wir halten denen tapfer das "FUCK YOU!"-Schwert entgegen.

Nun, ich denke, das ist der richtige Moment um zum Schluss zu kommen. Irgendwelche abschliessenden Botschaften für die Massen?

Nein - oder sehe ich etwa wie Ray Cappo aus?

Tom Sheehan
Übersetzung: David Häußinger