THE SUICIDE FILE

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"Trophy boys and girls go fuck yourself"

Es gibt ja in letzter Zeit einige Reunions, zum Beispiel BOLD, UNDERDOG, LIFETIME oder auch eure eigene. Was haltet ihr davon?

Dave:
Es kommt immer darauf an. In unserem Fall ist es so, dass wir nie Ärger untereinander hatten und die beste Zeit unseres Lebens mit der Band verbracht haben. Deshalb sind wir sehr glücklich über jeden Moment, der uns dieses tolle Gefühl von damals wiedergibt. Ich weiß, dass es bei einigen anderen Bands ähnliche Gründe sind, zum Beispiel bei LIFETIME. Das sind gute Freunde von uns und sie sind glücklich, wieder spielen zu können. Einigen Bands geht es natürlich um das Geld. Das ist gerissen und absolut überflüssig.

Eure Texte sind in jedem Fall gehaltvoll und ernsthaft genug, um darüber reden zu können. Ist der Song "Laramie" nach der Stadt in Wyoming benannt, in der ein junger Mann Opfer eines Mordes mit homophobem Hintergrund wurde?

Dave:
Ja, ein Typ namens Matthew Shepard ist auf dem Nachhauseweg von Leuten, die wussten, dass er schwul war, zusammengeschlagen und an einem Zaun quasi gekreuzigt worden. Eine Menge Leute in den Staaten, die ich kenne, benutzen Wörter wie "schwul" oder "Schwuchtel" als Schimpfwörter, obwohl sie von sich behaupten, nicht homophob zu sein. Ich finde es einfach lächerlich, Wörter so zu benutzen, obwohl Menschen sterben müssen, auf Grund von jahrhundertealten unbegreifbaren Einstellungen.

Neeraj: Ich wusste erst nicht, dass Dave einen Song darüber geschrieben hat, aber ich fand es großartig, da sich nur noch wenige Leute mit dem Thema Homophobie beschäftigen, vor allem da die Szene in Boston sehr machohaft ist. Ich denke einfach, dass alle Menschen das Recht haben, zu lieben, wen sie wollen, ohne dafür verfolgt zu werden. Und es passiert trotzdem in den USA, mit einer Regierung, die die Rechte der Homosexuellen eh beschneidet.

Ein anderer politisch motivierter Song ist "Kissinger". Was hat euch dazu inspiriert? Henry Kissinger hat ja so einiges "verbrochen".

Dave:
Da könnte ich länger drüber reden. Ich weiß nicht, wie Kissinger außerhalb der USA gesehen wird, aber in den USA ist er immer noch ein gefragter und seriöser Redner, er wird interviewt und ist ein Bestsellerautor. Ich habe das Buch "The Crimes of Henry Kissinger" von Christopher Hitchens gelesen, was großartig ist. Eine Menge Sachen, die Kissinger gemacht hat, waren verfassungsfeindlich und unmoralisch. Er ist indirekt für den Völkermord in Kambodscha und direkt für Morde in Argentinien, Chile und anderen Ländern verantwortlich. Davon handelt der Song. Wenn er einen Orden vom Präsidenten bekommt und sich in Interviews wie ein ehrenwerter Politiker verhält, dann sehe ich nur einen Mörder und Kriegsverbrecher.

Der Song "Ashcroft" handelt ebenfalls von einem Politiker, der nicht mehr im Amt ist. Denkt ihr, dass die US-Justiz mit seinem Nachfolger Gonzales liberaler werden wird?

Dave:
Machst du Witze?! Absolut nicht! Ich mochte Ashcroft nicht und ich mag Alberto Gonzales nicht, vor allem, da er die Stellungnahme schrieb, die Guantánamo Bay legitimierte. Das beschämt mich echt. Das seltsame an dem Song ist, dass ich ihn nicht lange nach dem 11. September schrieb. Es war kurz nach dem Superbowl 2001, wo man ein Riesenevent zelebriert hat und alle Leute zur Fahne salutiert haben. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Niemand hat den Präsidenten oder die anderen Regierungsmitglieder kritisiert. Beim Schreiben des Songs hatte ich das Gefühl, ein gewisses Risiko einzugehen, denn immer, wenn ich Leuten den Song erklärt habe, hieß es: "Warum tust du das? Wir haben gerade so viel durchgemacht." Ich fand, Ashcroft war der Schlimmste aus dem Haufen. Mittlerweile weiß ich jedoch, dass es da wesentlich schlimmere Typen gibt.

Was sagt ihr denn zur aktuellen Lage in Nahost beziehungsweise dem momentanen Libanon-Krieg?

Dave:
Eigentlich kann ich zu dem aktuellen Krieg im Libanon nichts sagen, da ich seit seinem Beginn in Europa bin und mich deshalb nur schlecht informieren konnte. Aber ich kann euch meinen allgemeinen Standpunkt zum Nahostkonflikt erläutern: ich bin kein starker Unterstützer Israels und seiner Vorgehensweise. Außerdem bin ich für einen palästinensischen Staat. Das Ganze ist ein ziemlich komplexes Thema, generell denke ich, auch bezüglich des momentanen Konflikts, dass sich Israel weniger harsch verhalten sollte.

Neeraj: Ich saß am Flughafen und habe auf meinem Abflug nach Europa gewartet, als der Krieg begann. Dementsprechend habe ich auch nur wenige Informationen, aber ich denke, man sollte zurück zur Diplomatie gehen. Der Nahostkonflikt ist unglaublich kompliziert und emotional aufreibend. Dennoch ist es am wichtigsten, neutral zu bleiben. Damit meine ich eine Neutralität, bei der man gleichzeitig versucht, Dinge zu ändern. Aber es wird einem schwer gemacht, neutral zu sein, denn egal, was man sagt, ist man entweder antisemitisch oder gegen Moslems. In den USA ist es schwer, die israelische Seite zu kritisieren, ohne dass der Vorwurf des Antisemitismus laut wird. Dabei gibt es auch in den USA Juden, die Israel kritisch betrachten.

Dave: Besonders ärgerlich ist die Unterstützung durch die christliche Bush-Regierung und den Anhängern dieser reaktionären Religionsgemeinschaft, die den israelischen Staat lediglich so bedingungslos unterstützen, weil sie die Bibel wortwörtlich nehmen und Israel für das jüngste Gericht wichtig ist. Aber ich fange lieber gar nicht erst mit den Christen in den USA an ...

Wie bewertet ihr als Band mit politischen Texten die aktuelle "Szene", die mehr und mehr ins Unpolitische abdriftet? Wie waren die Reaktionen auf eure Texte in Boston?

Dave:
Aus Boston zu kommen, ist zugleich Segen und Fluch. Zum einen wurde uns eine gewisse Loyalität entgegengebracht, so dass uns zum Beispiel auch alte BLOOD FOR BLOOD-Fans unterstützen. Auf der anderen Seite bevorzugt es die Mehrheit der Bostoner Szene, sich zu prügeln oder Straight Edge zu predigen. Trotzdem hat es immer auch politische Bands gegeben wie CUT THE SHIT. Dass Hardcore insgesamt unpolitischer geworden ist, ist auch eine Reflektion der Menschen und ihrer Interessen im Allgemeinen. Was in den USA vielfach passiert, ist "commodification": Eine Rebellion wird zu etwas gemacht, das man verkaufen kann. Sie entziehen der Rebellion den politischen Charakter und zurück bleiben nur der Trend und die Mode.

Vielleicht einer der Gründe, weshalb es im Hardcore oft nur um limitiertes Vinyl, Nikes oder Bandshirts geht.

Jim:
Als ich mit Hardcore in Berührung kam, war ich sehr politisch. Plötzlich wurde es aber hip, politisch zu sein und mir wurde es weniger wichtig. Ich war schon immer antagonistisch, in jeglicher Hinsicht. Nichtsdestotrotz habe ich mich immer bewusst über aktuelle Politik informiert, aber ich wollte nicht mehr so tief involviert sein.

Dave: Für mich waren die DEAD KENNEDYS und MINOR THREAT unglaublich wichtig. Sie symbolisieren die zwei Zweige, in die sich Hardcore aufgeteilt hat: die einen, die politisch waren, DEAD KENNEDYS, und die anderen, die über persönliche Probleme gesungen haben, MINOR THREAT. Mit SUICIDE FILE wollten wir diese beiden Zweige vereinen.

Was haltet ihr denn von der so genannten "Conservative Punk"-Strömung, die ja von Dave Smalley mitgetragen wird?

Dave:
Was damit zusammenhängt und mich sehr ärgert, ist das Christentum. Religion hat keinen Platz im Hardcore, das steht für mich fest. Aber es gab schon immer konservative Punks, man muss sich nur die Oi!-Szene ansehen oder Bands wie ONE LIFE CREW oder SKREWDRIVER. Gleichzeitig bin ich ein großer Unterstützer der Meinungsfreiheit, egal ob die Meinung richtig ist oder nicht.

Neeraj: Das sehe ich etwas anders. Ich bin natürlich auch für Meinungsfreiheit, aber es gibt eine Grenze, die bei beleidigenden oder historisch negativ belasteten Dingen liegt.

Was haltet ihr eigentlich von der FSU, also Friends Stand United, die ja bekanntlich mit der Bostoner Hardcore-Szene in Verbindung steht?

Jim:
Wir haben einige sehr gute und enge Freunde in der FSU. Die FSU war zu Beginn eine Gruppe von Freunden, einige davon kamen aus schwierigen Verhältnissen. Damit möchte ich nichts entschuldigen, ich sage nicht, dass die FSU unbedingt gut ist. Aber ich möchte betonen, dass einige unserer besten Freunde dort involviert sind und das gute Leute sind. Andere wiederum sind aus vollkommen falschen Gründen in der FSU.

Dave: Ich bin absolut nicht für Gewalt und immer, wenn etwas Gewalttätiges im FSU-Umkreis passiert, fühle ich mich regelrecht hintergangen. Aber ich muss sagen, dass Boston einmal eine sehr gewalttätige Gegend mit vielen Nazis war und hätte es die FSU nicht gegeben, wäre es wohl immer noch so. Die FSU war vor fünf Jahren noch etwas komplett anderes als jetzt. Jetzt machen sie wirklich schreckliche Dinge.

Da ihr oft als Einfluss für andere Bands dient, was für musikalische oder textliche Einflüsse habt ihr selbst als Band?

Dave:
Meine textlichen Einflüsse sind recht weit reichend. Besonders einflussreich waren aber Bands wie X, DEAD KENNEDYS und andere politische Hardcore-Bands. Ich denke auch, dass AMERICAN NIGHTMARE ein großer Einfluss für alle Bands gewesen sein muss, denn sie waren die erste Band im Hardcore, die sich getraut hat, persönliche Gefühle in den Vordergrund zu stellen. Dadurch habe ich mich beim Schreiben meiner Texte wohler gefühlt.

Neeraj: UNBROKEN haben meine Sicht auf Musik und mein eigenes Schreiben von Musik geändert. Außerdem Bands wie die DESCENDENTS oder die großartigen THIRD DEGREE. Bei SUICIDE FILE wollte ich allerdings etwas anderes machen. Ich wollte, dass bei dem Ganzen ein Southern California-Rock'n'Roll-Gefühl mitschwingt. Ein kleiner Twist zum Punk und Hardcore.

Jim: Meine Einflüsse sind alles und nichts. Kunst, Leben, Bands, alles Mögliche. Man sollte sich keine Grenzen setzen, für alles offen bleiben, für Jazz, Blues, alles.

Was steht denn als Nächstes an? Macht ihr weiter?

Dave:
Wir haben gelernt, kein Statement mehr über eine mögliche letzte Show abzugeben. Vielleicht machen wir eine Platte, vielleicht auch nicht.