KEINE ZUKUNFT WAR GESTERN

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Punk in Deutschland

Eine Lesereise mit Punk "unplugged" oder: wenn Ex-Leute von POPZILLAS, HEROINES und RISIKOFAKTOR gemeinsame Sache machen. Als mir Yvy Pop vor einiger Zeit von ihrem neuen Projekt erzählte, wusste ich noch gar nicht genau, wie ich das nun wieder verstehen sollte. Coversongs von Punk-Klassikern hieß es. Dann kam auf einmal ein Buch dazu. Dann wollte man eine Lese- und Bandtour vereinbaren und nun erscheint im Spätsommer/Herbst das Buch "Keine Zukunft war gestern - Punk in Deutschland", gepaart mit einer Lesetour, auf der sogar diverse Punk-Klassiker "unplugged" zum Besten gegeben werden. Klingt doch alles sehr interessant.


"Keine Zukunft war gestern - Punk in Deutschland" heißt euer Buch - um was handelt es sich dabei? Roman, Fiktion oder Dokumentation?

Andi: Das ist eigentlich schon mal echt eine gute Frage. Am ehesten trifft wohl die Beschreibung "Dokumentation", weil ein Ziel des Buches ist, Material, welches die Punk-Szene so hervorgebracht hat, zu dokumentieren. Das Buch besteht aus drei Teilen: einem Teil A mit dem Versuch einer chronologischen Nachzeichnung der Entwicklung von 1976 bis gestern sowie reichlich illustrierendem Foto-, Interview-, Flyer- und Fanzine-Material. Bei diesem Teil haben wir uns übrigens am Buch "Punk" von Steven Colegrave und Chris Sullivan orientiert. Teil B besteht aus Essays zu verschiedenen ausgesuchten Themen, und in Teil C gibt es sechs Interviews mit Punks beziehungsweise Ex-Punks zu dem Thema, wie "Punk" ihr Leben geprägt hat.

Yvy: Die zahlreichen Themen und Autoren und das persönliche und dokumentarische Bildmaterial bei "Keine Zukunft war gestern" vermitteln in ihrer Vielfalt ein authentisches Gesamtbild von mehr als 30 Jahren Punk in der Bundesrepublik. Und es macht großen Spaß, beim Lesen mit hineingezogen zu werden.

Wie entstand denn die Idee zu diesem Buch?

Andi: Ich arbeite im "Archiv der Jugendkulturen" in Berlin und zu uns kommen häufig Studenten und Journalisten, die zum Thema Jugendkulturen forschen. Bei der Frage nach einem Buch über Punk in Deutschland, zumindest in der BRD, mussten wir zwar nicht passen, es gibt ja diverse Bücher, allerdings sind diese auf ihre jeweils eigene Art sehr speziell. Es fehlte so eine Art Überblick und da dachten wir, das müsste es doch eigentlich geben. Die Idee dazu, das selbst zu machen, entstand in mehreren Schüben bei Klaus Farin und mir.

Und wer schrieb alles mit?

Andi: Das Buch und alles Drumherum stemmte die "IG Dreck auf Papier", bestehend aus verschiedenen Leuten aus der Punk-Szene. Mitgeschrieben haben Yvy Pop, The Meia, Jan Sobe vom "Proud to be Punk"-Fanzine und viele viele weitere, die Fragebögen ausfüllten und für diverse Interviews bereitstanden. Sehr wichtig war für mich auch immer der punkhistorische Rat von Kalle Stille und Meia. Redigiert hat Klaus Farin, Layouterin ist Conny Agel und ohne die Bemühungen um Fotomaterial von Sir Arvind "Pinhead" Batra hätten wir ganz, ganz alt ausgesehen. Die Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit liegt bei Gaffa und noch einmal Yvy Pop.

Yvy: Gestemmt, koordiniert und strukturiert haben das Kompendium allerdings hauptsächlich Andi und Klaus.

Es gibt ja seit dem Punk-Jubiläum einen erstaunlichen Output an Büchern zu diesem Thema. Wodurch unterscheidet sich "Keine Zukunft war gestern" von anderen Publikationen wie zum Beispiel "Als die Welt noch unterging" oder "Punkrock"?

Gaffa: Im Gegensatz zu anderen Büchern betrachten wir Punk nicht als etwas, das abgeschlossen ist oder tot wäre. Außerdem ist es so, dass hier eben mal nicht die Prominenz zu Wort kommt, sondern der gemeine Punk von nebenan. Ein paar bekanntere Gestalten sind allerdings auch dabei, wie zum Beispiel Willi Wucher oder Sir Hannes Smith von den IDIOTS und PHANTOMS OF FUTURE. Meine persönliche Motivation da mitzumachen war, ist, die Fackel der Erinnerung an die Jüngeren weiterzureichen. Ich finde das wichtig.

Yvy: Ja, ich sehe das ähnlich wie Gaffa. Ein bisschen in den Kisten wühlen und alte Geschichten wiederauflebenlassen ist herrlich, und Punk ist, meiner Meinung nach, gekoppelt an Pathos und hemmungslose Nostalgie. Deswegen haben wir die Bücher wie "Verschwende deine Jugend" auch so verschlungen.

Andi: Ich würde die Aufzählung am liebsten bei "Verschwende deine Jugend" beginnen, durch das, meinem Eindruck nach, diese kleine Bücherwelle begonnen hat, zumindest, wenn man das Thema "Punk in der DDR" außen vor lässt, zu dem es schon zuvor Buchtitel gab. Ich denke, dass "Verschwende deine Jugend" ganz massiv dazu geführt hat, dass sich Leute mit ihrer Punk-Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Wovon im Übrigen sicher auch wir profitiert haben. Ich hätte echt nicht gedacht, seitens der Szene auf so ein Interesse und so eine Bereitschaft zu stoßen, wie es schließlich geschehen ist. "Verschwende deine Jugend" ist ja auch ein begeisterndes, sehr gut lesbares Buch. Was mich dabei nur etwas gestört hat, war, dass die Zusammenstellung letztendlich den künstlerischen, den frühen NDW-Teil in den Vordergrund rückte, was fortan als DIE Geschichte von Punk in Deutschland galt, obwohl das Buch niemals repräsentativ sein konnte - und es auch nicht sein wollte. Auch "Als die Welt noch unterging" ist ein geniales Buch mit vielen interessanten Geschichten, Analysen und Details. Allerdings eben vor allem für ein akademisches Publikum geschrieben, und mit einer nicht zu übersehenden Abneigung gegenüber Deutschpunk. So hat jedes bereits publizierte Buch unser Interesse noch weiter geweckt, letztendlich fehlte uns dabei aber immer etwas.

Yvy: Und genau darin liegt auch die Eigenständigkeit von "Keine Zukunft war gestern" begründet. Durch die komplett unterschiedlichen Inhalte und Schreibstile vom wissenschaftlichen oder chronologischen Text hin zum Fanzine- oder Erlebnisbericht, gepaart mit ranzigen Zeitungsartikeln und -ausschnitten reduziert sich der Blinkwinkel nicht nur auf eine Person.

Andi: Wir können die Repräsentativität, die "Verschwende deine Jugend" nicht lieferte, natürlich auch nicht bringen, es wäre auch reichlich vermessen, das anzustreben. Und zum Scheitern verurteilt. Schließlich ist Punk sehr individuell und bedeutet letztendlich für jeden etwas anderes. Wir versuchen jedoch, dieser durch die Kombination von verschiedenem Material näher zu kommen. Ein wichtiger Unterschied ist natürlich auch, dass wir nicht nur die frühen Jahre in den Blick nehmen, sondern versuchen, die Entwicklung bis gestern nachzuzeichnen. Auch sollen nicht nur irgendwelche Stars oder Ikonen zu Wort kommen, wie Gaffa so nett mit dem "gemeinen Punk" andeutete. Die Autorinnen und Autoren stammen alle selbst aus einer Szene, für die immer noch "No more heroes" gilt.

Ich habe gehört, dass es zum Buch-Release von "Keine Zukunft war gestern" auch eine Party mit Lesetour geben wird. Dort werdet ihr auch als Band auftreten. Wer verbirgt sich genau denn dahinter?

Gaffa: Ursprünglich sollten ja neben mir Yvy Pop, POPZILLAS/HEROINES, Uwe Umbruch und MazZ, beide aktuell bei HIROSHIMA MON AMOUR, Chris Missile und Elektra, beide HEROINES, dabei sein. Wir wollten zur Release-Party in Berlin Punk-Klassiker aus drei Jahrzehnten spielen. Das wäre sicher gut geworden, aber nachdem MazZ dann aber aus zeitlichen und beruflichen Gründen absagen musste, kam das Projekt ins Stocken. Als die Probetermine immer wieder verschoben wurden oder ausgefallen sind, stand auf einmal das ganze Ding auf der Kippe. Aber unsere Yvy hat sich dann ein neues Konzept überlegt.

Yvy: Also, nachdem das Projekt einer "All-Star-Covercombo" mit britischen, amerikanischen und deutschen Punk-Klassikern nicht so recht Form annehmen wollte und die Zeit langsam knapp wurde, um solch ein Monsterprojekt zu stemmen, habe ich die Notbremse gezogen. Nachts ist mir dann eine schöne Idee in den Schoß gefallen, die wir nun umsetzen: Andi und Klaus haben gerade alle Hände voll zu tun, das Buch auf den Markt zu werfen und zu promoten. Wir, die Musikfraktion, wollen das nun mit allen Kräften unterstützen. Heraus kam eine Lesereise, bei der die Autoren Passagen aus dem Buch lesen und das Ganze musikalisch mit bekannten und unbekannten Perlen des Deutschpunks "unplugged" umrahmt wird. Hinterher gibt es das Werk "Keine Zukunft war gestern" natürlich am Büchertisch zu kaufen, auf Wunsch auch mit Kritzeleien der Autoren. Das wird eine richtig schöne Sache!

Wer war denn zuerst da: das Huhn oder das Ei - die Band oder das Buch?

Gaffa: Die Idee zur Band hatte Yvy fast zeitgleich mit den ersten Mails, die für das Buch hin- und hergeschickt wurden. Wir fanden, dass da noch was passieren musste. Dass das Buch einfach nur so erscheint und das wäre es dann schon, fand ich irgendwie öde.

Yvy: Wie Gaffa schon sagt, das Buch ist großartig und muss unters Volk gebracht werden. Eine Release-Party lag nahe und dann kam die Idee mit der All-Star-Tour und schließlich die wohl passendste Form: eine Lesereise mit Punk "unplugged".

Was wird uns an einem Abend mit euch erwarten? Wie kommen Band und Buch zusammen und was wird auf der Bühne passieren?

Yvy: Soviel können wir schon einmal berichten: die Tour wird nicht in großen Hallen stattfinden, sondern in Juzes, Kulturcafés, Clubs und Bibliotheken. Auszüge aus dem Buch werden von den Autoren gelesen, Bildmaterial wird projiziert und zwischendurch gibt es ernste, aggressive, melancholische und auch humorvolle Songs, die auf sehr eigenwillige Weise interpretiert werden. Es wird sehr persönlich und sozusagen "zum Anfassen" sein.

Und was wird die Band danach machen? Gibt es ein Leben nach der Lesetour?

Gaffa: Sich auflösen? Keine Ahnung. Man muss sich ja auch mal treiben lassen können. Jetzt ziehen wir das Ding erstmal durch und dann schauen wir mal, was noch kommt - oder auch nicht.

Yvy: Erst mal bringen wir die Lesetour Part One hinter uns. Im März geht es dann weiter auf die Leipziger Buchmesse. Wenn das Buch so erfolgreich wird, wie wir es ihm wünschen, touren wir solange, bis der letzte Punk der Republik diese Bibel gekauft hat.