LIFE IS PUNK: ZAHNI MÜLLER

Foto

Ox-Schreiber im Porträt. Teil 3: Stephan "Zahni" Müller

Warum immer nur fremde Leute interviewen, wenn man auch selbst genug interessante Typen im Kreise der Schreiber hat? Also stellen wir regelmäßig altgediente Mitarbeiter vor, und diesmal ist Stephan "Zahni" Müller dran. Den kennt man von seinen Bands NEUROTIC ARSEHOLES und DROWNING ROSES, und vor vielen Jahren fand er den Weg in die Riege der Ox-Schreiber.



Bitte stell dich vor.

Mein Name ist Stephan Müller, Spitzname "Zahni", Jahrgang 1962, geboren in Minden/Westfalen. Seit 1985 lebe ich in Hannover, lediglich unterbrochen von knapp drei Jahren in Hamburg, 1993 bis 1996, und zehn Monaten in Kirchlinteln bei Verden. Nicht verheiratet, nicht geschieden, keine Kinder.

Wie bist du einst zu Punk/Hardcore gekommen, was hat damals den Reiz ausgemacht?

Die SEX PISTOLS waren "schuld". Erst gehasst und nicht kapiert, was die wollten, aufgrund von Fotos und Bericht in der Bravo, dann geliebt, als ich "God save the queen" bei einem Freund hörte. Dieser Song hat mein damaliges musikalisches Weltbild - SWEET, KISS, AC/DC - komplett aus den Angeln gehoben, so etwas hatte ich definitiv noch nie zuvor gehört. AC/DC hatten danach als einzige Band noch eine Bedeutung und so etwas wie ein "Paralleluniversum" neben dem Punkrock, denn sie waren cool. Der Rest hatte abgedankt. Wenn ich rückblickend meine "intensivsten" Momente zusammenkratze, so gehört dieser Nachmittag hundertprozentig dazu. Ich habe dann sofort alles, was es zu dem Zeitpunkt von den Pistols gab, in unserem Mindener Plattenladen gekauft und rauf und runter gehört. Die Initialzündung war also ganz klar die Musik. Plötzlich interessierte mich aber auch, was "dahinter" steckte. Ich fand auf einmal die Bravo-Fotos und die Klamotten spitze, allein aus dem Grund, dass die Musik mich umgehauen hatte. Es waren wahrscheinlich die Frustration und die Wut, die ich spürte und die mich ansprachen.

Ich meine, ich hatte keine allzu brutale Jugend, bin ziemlich behütet im Mittelstand aufgewachsen, dennoch kam die "Message" bei mir an. Ich hätte, wie viele andere Jungs auch, wahrscheinlich einfach mein Leben weitergelebt, wäre vielleicht ein wenig lethargischer geworden, was weiß ich ... zum Beispiel wollte ich ursprünglich mal zur Polizei, fand die Idee ganz schick. Das hatte sich mit Punkrock dann auch erledigt. Kurz nach den Pistols entdeckten Kurt, der spätere NEUROTIC ARSEHOLES-Gitarrist, Fegel, ebenso wie Kurt ein Freund aus Grundschultagen, und ich "John Peel's Rock Today"-Radiosendung und da kamen dann noch die anderen Kaliber wie STIFF LITTLE FINGERS, DICKIES, LURKERS oder DEAD BOYS dazu. Allerdings dauerte es einige Zeit, bis ich mich traute, mir meine schulterlangen Haare abzuschneiden und meinen persönlichen "Style" zu ändern. Von daher waren meine Veränderungen erstmal nicht so gravierend und die Reaktionen meiner Umgebung fielen eher verhalten aus. Auffallend war lediglich, dass ich meine kompletten SWEET-Poster -einige von KISS waren auch dabei - inklusive Starschnitt von den Wänden im Flur und im Zimmer holte. Alles verschwand in einer Riesenkiste, zusammen mit den ganzen Heften und Ordnern, genannt "Sammelalben", die voll geklebt waren mit Berichten und Randnotizen über THE SWEET, die ich in den damaligen Zeitschriften wie Bravo, Pop, Pop/Rocky ausfindig machen konnte. Diese Kiste mit ungefähr 10.000 Bildern und Berichten - kein Witz! - habe ich dann mit Hilfe einer Anzeige im Superposter-Magazin für 50,- DM an den ersten Anrufer - aus Bochum, glaube ich - verscheuert. Über die knapp einhundert Anrufe und die Angebote in den Tagen danach möchte ich nicht reden ... heul!

Und stattdessen hingen plötzlich Poster und Fotos von den SEX PISTOLS in meinem Zimmer. Meine Jugendfreunde kapierten das nicht, trugen weiterhin Plateauschuhe und versuchten, wie Brian Connolly auszusehen. Sie waren von einem Tag auf den anderen aus meinem Leben verschwunden. Das war die erste Veränderung, an die ich mich erinnern kann. Da ich aber schon die zwei eben erwähnten "Gleichgesinnten" hatte, Kurt und Fegel, und diese auch viel mehr mochte als die alte Clique, fand ich das gar nicht schlimm. Irgendwie war es eine logische Entwicklung, die ich nicht weiter hinterfragte. Echten Stress bekam ich, als das mit dem Punk-Outfit losging. Wir nahmen uns alte Jackets, schnitten diese auseinander, um sie mit Sicherheitsnadeln wieder zusammenzuflicken, machten Badges dran und malten hinten die Lieblingsbands drauf. Zumeist zierten DISCHARGE, CRASS oder die U.K. SUBS unsere Rücken. Die Haare waren inzwischen auch kurz und wurden zumeist mit Rasierschaum aufgestellt. Das fanden meine Eltern nicht so witzig, auch Nachbarn waren irritiert. Das mit meinen Eltern eskalierte später noch einmal, als ich unseren Handballverein GWD Minden, zugunsten der Auftritte, die wir vermehrt mit den NEUROTIC ARSEHOLES hatten, verließ. Wir schrieben inzwischen das Jahr 1983.

Aber dann trat so langsam Ruhe ein. Erstens durch Gewöhnung und zweitens dadurch, dass ich den "extremen" Stil - so extrem war der im Vergleich zu anderen aber gar nicht - zurückfuhr. Ich hatte ja die Arseholes als Ventil nach draußen. Interessant bleibt allerdings zu bemerken, dass meine Eltern immer zu mir standen und mich und meine Freunde z.B. ständig zur Musikbox oder anderen Party-ähnlichen Zusammentreffen im Mindener Raum kutschierten. Und das, nachdem bereits jeder von uns in meinem Zimmer unter härtester Beschallung durch Punkrock einen 10er-Träger geleert und noch mal ordentlich mit Rasierschaum nachgelegt hatte. Respekt!

Was sind deine früheren, was deine heutigen "Szene"-Aktivitäten?

Kurt und ich starteten 1979 im Prinzip die NEUROTIC ARSEHOLES, indem er auf einer alten Gitarre seines Onkels schrammelte und ich dazu sang. Wir trafen uns im Keller von Kurts Eltern. Unsere ersten Songs hatten englische Texte. Unterstützung kam aus dem Langenscheidt-Lexikon. Dass es um Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeiten in der Welt gehen sollte, war klar, denn dank John Peel hatte sich unser Repertoire an Bands, die wir kannten und hörten und deren Texte uns prägten, inzwischen stark erweitert. Unser erster Song hieß "Dive bombers" und handelte vom Krieg, dann kam "Innocent" - Unfähigkeit der Justiz, gefolgt von "Pressure and violence" - Gewalt, "Total destruction" - Krieg und "Teens fuck off" - dieser Song war eher unpolitisch und disste die damalige Teenieband THE TEENS, die wir natürlich hassten, aufs Übelste ... Aber auch "I saw you die" entstand in dieser Zeit und hat es als einziger Song in die spätere Arseholes-Zeit "überlebt". Parallel zu unseren musikalischen Aktivitäten brachten wir das Fanzine Paranoid heraus und bekamen so Kontakt zu anderen Leuten aus der Szene, die da gerade entstand. Unsere deutschen Lieblingsbands wie DAILY TERROR, BUTTOCKS schickten uns Material, wir schrieben Reviews über unsere aktuellen Lieblingsscheiben und waren jugendlich-unbedarft. Ist schon ziemlich köstlich, wenn ich mir die Teile jetzt so anschaue. Die Ausgaben 1 und 2 erschienen jeweils in Zehner-Auflage (!) und wurden über RipOff in Hamburg verkauft. Ausgabe 3 haben wir dann hundertmal kopiert und verkauft, da hatten wir auch einige Leute mehr am Start, die das Fanzine vertrieben. Für die Ausgabe 4 trennten wir uns, ich weiß eigentlich gar nicht mehr so genau, warum - im Vorwort hieß es "wegen besserer Verwirklichung der eigenen Ideen". Ich machte noch die Nummer 4 vom Paranoid und Kurt ein oder zwei Magazine vom Abfallprodukt.

Außerdem haben wir 1981/1982 zwei oder drei "Festivals der falschen Töne" in einem Jugendzentrum nahe Minden organisiert. Zuerst nur mit Mindener Bands, später waren auch BLUT+EISEN und die BOSKOPS aus Hannover mit dabei. Minden hatte für seine Größe eine ordentliche Punk-Szene. Wir trafen uns jeden Dienstag in der Musikbox am so genannten "Punkabend". Ein Cousin von Fegel legte dort auf und hat alle Platten gespielt, die wir mitbrachten. Das war natürlich super und jedes Mal ein ziemliches Fest. Na ja, das mit den Arseholes ging dann ja auch weiter und das ziemlich ordentlich. Es ist schon cool, was auch heute noch an Resonanz kommt - ich habe vor einiger Zeit einen von einem Fan eingerichteten MySpace-Account übernommen und ein bisschen "aufgemöbelt" - und was wir damals so auf die Beine gestellt haben. Im Herbst des Jahres 1985 herrschten bei den NEUROTIC ARSEHOLES dann allerdings nur noch Ego-Trips, die mich die letzten Nerven kosteten und auf die ich irgendwann keinen Bock mehr hatte. Wir lösten uns im Januar 1986 auf - unser Abschiedsgig fand am 25.01. im AJZ Bielefeld statt.

Ich hatte bereits Ende 1985 zusammen mit Prüse, Gitarre, und Marco, Schlagzeug, die DROWNING ROSES gegründet. Das war bei weitem nicht so "erfolgreich", aber vom Spaßfaktor und der Intensität mindestens ebenbürtig, meist sogar entspannter untereinander, mit noch mehr Leuten, die wir kennen lernten und die uns die Jahre über begleiteten. Zwischendurch, nach unserer ersten Europatournee zusammen mit NOFX im Jahr 1988, besetzte Bart das Schlagzeug. Schließlich sind wir mit den Roses als Abschluss 1990 noch auf eine USA-Tournee mit NOFX gegangen. Danach lösten wir uns auf - Bart wollte andere Musik machen. Wir hatten dann 1994 noch mal drei Auftritte, in Minden, Hamburg und Frankfurt, 1998 folgte - nach dem 1989-Revival - eine weitere Arseholes-Tour und seit letztem Jahr spielen wir ab und zu Gigs mit den DROWNING ROSES. Dieses kam durch ein spontanes Konzert in Minden ins Rollen. Plötzlich fragten Menschen, ob wir nicht noch mal hier oder dort spielen wollten. In Hannover habe ich auch noch eine Band. Das Ganze hat Punk-Vergangenheit, klingt aber eher rockig und ist ziemlich melodiös. Ansonsten schreibe ich ja schon seit ein paar Jahren fürs Ox. Ich glaube, das werden jetzt annähernd acht oder zehn Jahre ...

Was machst du, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen, wie war der Weg dorthin?

Seit 2005 bin ich Sozialpädagoge. Und das ging so: Im Sommer 1985 sagte mein Vater zu mir - ich hatte vier Monate zuvor meinen Zivildienst beendet: "Junge, wenn du bis zum Herbst keinen Job, keine Ausbildung oder Studium anfängst, dann landest du bei der Post." Mein Vater war Postbeamter. Diese "Drohung" machte meinem Gammeldasein, lediglich unterbrochen von Arseholes-Gigs und viel Alkohol auf diversen Partys, ein Ende. Ich ging zusammen mit meinem alten Freund Macke - auch einer von den ganz alten, nur Fegel und Kurt waren früher da - nach Hannover und studierte Sozialwissenschaften. Das habe ich bis zum Vordiplom auch ganz ordentlich durchgezogen. Dann bin ich aber über meine Vorliebe für Musik - DROWNING ROSES waren am Start, die ganze Hardcore-Szene boomte, Moses, Dolf, Thomasso, die AU... - im Jahr 1988 beim Frontline-Mailorder gelandet und das war's dann mit der Studiererei. Ich habe dort ein paar Jahre im Lager gearbeitet, befand mich sozusagen im "Paradies". Alles, was ich brauchte, trudelte tagtäglich in riesigen Kisten aus den USA ein. Alles Importe, alles frisch, die "Suffer" von BAD RELIGION fällt mir da mal so ein, und vieles von dem, was bei mir jetzt so in den Plattenkisten und CD-Regalen rumsteht.

Einige Jahre später verließ ich Frontline, ich hätte gerne eine Festanstellung gehabt, ging aber nicht. Stattdessen machte ich im Herbst 1992 meinen eigenen Mailorder auf. Der hieß Crazy Large und basierte auf HipHop. Das war natürlich eine echte Herausforderung. Ich hörte zu der Zeit so gut wie gar keinen Rap oder HipHop und fand so ziemlich jede Attitüde zum Kotzen -- und wir starteten bei Null. Aber mein Geschäftspartner, ein alter Freund aus Hamburg, mit dessen Hilfe - unter anderem finanzieller Art - ich den Laden ins Leben rief, lag ziemlich richtig mit seiner Einschätzung, dass der nächste Frontline oder Mülleimer oder Nuclear Blast zum Scheitern verurteilt wäre. Und tatsächlich waren wir der erste HipHop-Mailorder Deutschlands!

Wir starteten das Projekt aus meiner Wohnung in Hannover. Das war recht krass: Flur und Ex-Schlafzimmer mutierten zu einem Wust aus Kartons, Klamotten und Platten. Rechnungen schrieb ich per Hand, das mit dem Computer dauerte einige Zeit. Der Postbote, der nach und nach immer mehr Pakete abholen musste, war total begeistert - 4. Stock ohne Fahrstuhl ... Die Tage wurden kürzer und die Nächte immer länger, die Mailorder-Arbeit kannte ich dank Frontline ja aus dem eff-eff und es machte Spaß zu registrieren, wie der Laden wuchs. Nach einem Jahr bin ich dann nach Hamburg gegangen. Crazy Large lief dort von einem richtigen Büro aus und mit Computer. Rein geschäftlich ging es dem Mailorder gut. Unsere Aushilfen rekrutierten sich aus meinem Bekanntenkreis. Das sah dann so aus: zwei von ihnen kamen am Montag und blieben bis Freitag. Nach zehn bis zwölf Stunden täglich zusammen im Büro ging es zu mir nach Hause in mein Neun-Quadratmeter-Zimmer in der Wohnung, die ich mir mit Hajo teilte. Da gab's dann meist eine Pizza von unterwegs, ein paar Bier und morgens ohne Frühstück wieder ins Büro. Der Weg dorthin war weit. Ich lebte in Eppendorf und das Büro war in der Innenstadt. Am Wochenende blieb ich meist in Hamburg und arbeitete alles auf, was noch so liegen geblieben war. Das war hart, aber ich hatte ja schließlich eine Aufgabe, die mir Spaß machte, auch wenn das mit der Zeit etwas an die Substanz ging.

Als dann allerdings Differenzen mit meinem Geschäftspartner dazu kamen, kehrte ich Crazy Large 1996 schließlich den Rücken. Ich zog nach Kirchlinteln bei Verden, zu meiner damaligen Freundin. Ein knappes Jahr später ging es dann zurück nach Hannover, ohne Job und ohne Frau. Ich bin erstmal bei einem alten Freund eingezogen und landete schließlich bei VW. Ich brauchte dringend einen Job, und obwohl VW damals ein Irrenhaus war und es vermutlich auch heute noch ist, nahm ich an. Ich arbeitete in der Gießerei im Drei-Schicht-Betrieb. Das bedeutete, jede Woche eine andere Schicht: Früh, Nacht, Spät. Ich will hier keine Klischees bedienen, aber alles, was man von Malochern am Band und im Akkord hört, ist wahr! Manche Pausen verbrachte ich allein in lärmenden, abgelegenen, heißen Buden, weil ich das Gequatsche in der Kantine nicht ertragen konnte. Themen dort: Autos, Geld, Lottogewinn, Schlagzeilen der Bild, Currywurst.Da fehlen mir echt die Worte. Ein paar Highlights, also nette Leute waren rar gesät. Ich rannte bei jedem Wetter in einem ziemlich massiven Arbeitsanzug herum, gepaart mit Handschuhen und Ohrstöpseln. Acht Stunden lang, jeden Tag. Aber ich hatte einen Job, damit auch Kohle und konnte mir so bald eine eigene Wohnung leisten. Ich setzte mir als absolute Schmerzgrenze zwei Jahre, dann hätte ich gekündigt, definitiv.

Allerdings kam mir im Spätsommer 1998 Frontline zuvor, die dringend einen Lagerchef benötigten, die machten inzwischen nur noch Mode, trotzdem kannte ich natürlich noch eine Menge Leute von damals. Das zog ich dann bis 2000 durch, bevor ich und alle anderen im Lager "outgesourced" wurden. Als nächstes startete ich eine Ausbildung zum "Webmaster", habe das Ganze mit "sehr gut" abgeschlossen, in dem Bereich aber nie gearbeitet. Schließlich meinte meine damalige Freundin zu mir: "Hey, warum machst du nicht was mit Menschen?" - "Ja, warum eigentlich nicht?", hätte meine spontane Gegenfrage lauten können. Ich hatte immer viel mit Menschen zu tun. Ich habe damals die komplette Arseholes- und DROWNING ROSES-Korrespondenz gemacht. Ich schrieb Bands an, die ich dann zum Teil persönlich kennen lernen durfte, wie VERBAL ASSAULT, habe viele Leute getroffen und über Jahre Kontakt gehalten ...

Zugegeben, es ist eine andere Sache, mit behinderten oder "sozial auffälligen" Menschen zu arbeiten, aber auch dort geht es um Kommunikation, Offenheit und Verlässlichkeit. Empathie kommt noch hinzu, aber die hatte ich früher auch schon. Die "Arbeit mit Menschen" begann für mich durch kleinere Jobs. Ich betreute unter anderem von 2001 bis 2003 eine Frau, die ohne Arme und Beine geboren worden ist, machte Schulbetreuung mit geistig und körperlich behinderten Kids. Anschließend bin ich dann als "Quereinsteiger" zu den Sozialpädagogen an die FH gegangen. Verblüffenderweise wurden mir alle Scheine aus meinem Sozialwissenschaftsstudium von 1985-1988 anerkannt, die mich dann direkt ins Hauptstudium katapultierten. Das war 2003. Im Jahr 2005 war ich fertig mit dem Studium und musste direkt im Anschluss ein Anerkennungsjahr machen. Das lief sehr gut. Ich wurde anschließend befristet übernommen, stieg dann aber ein halbes Jahr später, also März 2007, aus dem Job aus, um in die Gründungsphase des Projektes ESta, an dem zwei Freunde beteiligt waren, mit einzusteigen. Dort bin ich noch heute. Blicke ich zurück, so war natürlich nicht alles so einfach oder logisch. Ich hatte auch extreme Zweifel, "Tiefs" und alles was dazu gehört. Aber ich habe immer versucht, so zu leben und zu arbeiten, wie es mir entsprach und wie ich es für richtig und verantwortungsvoll hielt.

Wie "punkrock" ist dein Job, wo gibt es Berührungspunkte zu deinen privaten Interessen beziehungsweise zu Punk-Idealen, worin liegen die "Inkompatibilitäten"?

Diese Frage habe ich mir, ehrlich gesagt, noch nie gestellt. Vielleicht ist es nötig, zuerst zu definieren, was "Punkrock" für mich bedeutet: Punkrock war und ist für mich ein Protest gegen den bürgerlichen Lebenslauf und eine Lebenseinstellung. In meinen Dutzenden von Ferienjobs zum Beispiel machte ich meistens ziemlich stumpfe Arbeiten - Straßenbau, Fabriken, Post -und war von Menschen umgeben, die diesen Job zum Großteil ebenfalls nicht wirklich machen wollten oder ihn nur des Geldes wegen machten und wie irre dem Wochenende entgegenfieberten. Mit jedem "Gang zur Arbeit" wurde mir klarer, dass ich das nicht wollte. Ich wollte nicht nach der Schule in die Ausbildung gehen, nach Feierabend ins Eigenheim und vor die Glotze. So wollte und konnte ich nicht leben. Jetzt - viele Jahre später - kann ich das auch so formulieren. Mit 17 oder 20 Jahren war das eher ein diffuses Lebensgefühl, welches sich darauf bezog, was ich nicht wollte. Ich hatte damals überhaupt keine Ahnung, was, außer Musik, ich denn zur Hölle machen wollte. Und so gesehen, also wenn ich Punkrock als Lebensgefühl und losgelöst von Nieten, Iro, Alkohol, Konzerten, betrachte, hat mein Leben noch immer viel mit Punkrock zu tun.

Zur Zeit arbeite ich mit zwei Freunden in einer neu gegründeten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung. Unser Haus gilt als Modellprojekt. Wir haben alle unsere bisherigen Jobs aufgegeben, arbeiten viel, haben wenig Geld und wenig Zeit. Aber ich habe das Gefühl, dass ich dort zum jetzigen Zeitpunkt genau das Richtige tue und genau dort hingehöre. Und witzigerweise kommen sowohl Lutz als auch Manuela ebenfalls aus dem Punkrock, auch wenn sie schon lange nichts mehr mit der Szene zu tun haben. Im Alltag mit den Kids bedeutet das, dass ich authentisch agiere, und ihnen beispielsweise auch meine Meinung zur Gesellschaft oder zum Konsumverhalten mitteile. Heutzutage kannst du den ganzen Tag im TV und im Netz alle möglichen Infos aus der ganzen Welt bekommen, alles wird schneller und hektischer, und gleichzeitig wird den Kids gnadenlos mit schönen, glatten, nichtssagenden Menschen ein Leben vorgegaukelt, welches in meinen Augen leer und sinnlos erscheint. Die meisten Kids möchten dieses gleichgeschaltete Programm, leben und hecheln ihm unhinterfragt hinterher. "Punkrock" im Alltag heißt für mich, andere Impulse zu geben, einfach das "Normale" zu hinterfragen: "Was hat das eigentlich mit dir zu tun? Was ist dein Interesse, dein Ziel? Was macht dich glücklich?" Und das mache ich nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern es ergibt sich im gemeinsamen Tun und in gemeinsamen Gesprächen.

"Eine andere Welt ist möglich" sagt attac. Was sagst du, was tust du dafür?

Ich glaube, es wird schwierig werden, die drohenden Umwelt- und anderen Katastrophen noch abzuwenden. Die meisten Menschen werden einfach stumpf weiter konsumieren, obwohl sie natürlich wissen, dass die Pole schmelzen, die Müllberge wachsen und die meisten Tiere in ihrem Lebensraum bedroht sind. Erst wenn sie ihren Wasserhahn aufdrehen und es kommt nichts mehr raus, während draußen die Sonne auf eine ziemlich kahle Erde knallt, werden sie ihr Verhalten ändern. Bis dahin wird mit kurzzeitig schlechtem Gewissen einfach weitergemacht und jeder hat seine Rechtfertigungen dafür. Dieses finstere Endzeit-Szenario bedeutet nicht, dass ich aufgebe und mitmache. Wahrscheinlich besitze ich noch einen Funken Hoffnung. Und weil ich den habe, habe ich weder in den 80ern noch heute den Kopf in den Sand gesteckt. Ich halte es einfach für wichtig, etwas dagegen zu setzen, auch wenn man oftmals unweigerlich an die Geschichte mit dem Tropfen und dem heißen Stein denken muss. Wenn ich an die Zeit der ersten Arseholes-Scheibe zurückdenke, war Punkrock damals auch irgendwie "Endzeitstimmung": Die Welt geht unter, der große Knall, kalter Krieg, korrupte Politiker ...

Wir haben die "Hippie-Scheiße" gehasst oder belächelt. Wir wollten Ungerechtigkeiten und Ausbeutung benennen, aber es war die Stimmung der feiernden Endzeit. Heute ist es für mich wichtig, mein Konsumverhalten genau zu betrachten, denn ich bin der Meinung, dass der Konsument den Markt verändern kann. Bewusst einkaufen klingt zwar tatsächlich wie "Hippie-Scheiße", macht aber Sinn. Sich mit gleichgesinnten Freunden und Bekannten zu umgeben, macht das Leben lebenswerter. Ideen und Vorstellungen zu entwickeln und umzusetzen, ist wichtig. Im Job, im direkten Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen erkenne ich, dass ich durch das Vermitteln meiner Sicht der Dinge einiges bewirken kann. Das dauert zwar, aber ich glaube, dass jede Interaktion, und sei sie noch so kurz, eine Wirkung hat. Die Kids nehmen immer irgendetwas mit. Andere Beispiele: Lagerfeuer statt TV, Musik und Texte hinterfragen, vegetarisches Essen in der Einrichtung - und wenn unterwegs nach einem Hamburger oder Döner geschrieen wird, dann gibt's den natürlich auch!

Wie reagiert(e) dein Umfeld - privat wie beruflich - auf deine Punkrock-Vorliebe? Verständnis, Erstaunen, Unkenntnis?

Mein Umfeld hat sich in allen Belangen an meinen Lebensstil gewöhnt. Ich kenne auch einige andere Leute, die in meinem Alter noch in irgendeiner Form "ungebunden" sind, keine Kinder haben und/oder einen anderen "way of life" gefunden haben. Es war manchmal nicht so leicht, das habe ich wohl schon erwähnt. Unter dem Strich bin ich aber sehr dankbar und froh darüber, dass die SEX PISTOLS damals wie ein Komet in mein Leben geknallt sind und dieses verändert haben. Punk hat meine Einstellung zum Leben, zu allem, was möglich ist, verändert und mir Wege gezeigt, mich zu verwirklichen. Meine Eltern hätten es ziemlich sicher ganz cool gefunden, wenn ich den "gutbürgerlichen" Weg eingeschlagen hätte und hätten sich weniger Gedanken um meine Zukunft und das liebe Geld gemacht. Aber sie hätten auch nicht so viele aufregende Sachen erlebt: Geld irgendwohin nachschicken, Autos von Handballvereinen und Firmen organisieren, damit die NEUROTIC ARSEHOLES diesen oder jenen Gig absolvieren können, nächtliche Anrufe bezüglich eben dieser Autos, die soeben - parkend - Opfer von betrunkenen Autofahrern geworden sind ... Und inzwischen können sie es auch schätzen, wie ich lebe, wie ich bin und was ich mache/gemacht habe. Sie waren bei drei Konzerten meiner Bands, ich habe nachgerechnet, einmal Arseholes, zweimal DROWNING ROSES, alle open air in Minden und Umgebung! Also, im Umfeld ist das alles kein Thema mehr.

Punk war mal eine Jugendbewegung. Wie lässt sich das mit deinem Alter vereinbaren? Für immer jung, für immer Punk? Oder manchmal doch das schleichende Gefühl, für irgendwas zu alt zu sein?

Klar war ich Jugendlicher, als ich zum Punkrock gekommen bin. Und das in dem Alter auszuleben - Stress mit den Eltern, Stress mit anderen Jugendlichen, Alkohol trinken, Konzerte und so weiter- machte natürlich absolut Sinn. Da war man doch froh, wie alle anderen Jugendlichen sicherlich auch, die "Alten", alle Konventionen und Regeln mal nicht am Start zu haben. Da hatte ich auch noch die Kondition, tagelang zu feiern und wenig zu schlafen. Konzerte und Kater bestimmen jetzt allerdings nicht mehr mein Leben ... Es geht vielmehr darum, was man aus der Jugend und dieser "Bewegung" ins weitere Leben mitnimmt, ohne sich den Button "Berufsjugendlicher" an die Jacke zu tackern. Vielleicht ist das so etwas wie die "ewige Neugier", was überhaupt gehen kann. Eigentlich ist diese Frage also kein Thema, aber seit wir wieder ab und zu mit den DROWNING ROSES spielen/gespielt haben, habe ich schon darüber nachgedacht: "Will das noch jemand hören? Sieht das noch gut aus? Hört sich das noch gut an? Hat das noch eine Berechtigung?" Wir haben zwar ein paar neue Songs, spielen aber im Prinzip die Sachen von 1986 bis 1989. Wenn ich an Gigs wie letztes Jahr in der AU oder im Frühjahr 2008 in Minden und Bielefeld denke, dann glaube ich zu wissen, dass das nach wie vor in Ordnung ist. Wir spielen ja auch nicht, um noch mal eine schnelle Mark zu machen, dazu hatten wir als DROWNING ROSES in der Szene auch nie die entsprechende, langanhaltende Bedeutung. Wir spielen, wenn uns Leute danach fragen. Wir spielen, weil wir Bock drauf haben. Genau deshalb schreibe ich noch fürs Ox. Genau deshalb kaufe ich immer noch Platten und höre die Musik. Weil ich Bock drauf habe. Alter? 46? Ich kann nichts dafür ...

Bei welcher Gelegenheit hast du angefangen, über Musik zu schreiben?

Wir haben 1978 mit dem "Paranoid" aus purer Begeisterung für die Musik heraus angefangen. Wir wussten ja inzwischen, dass "Punk" bedeutete, alles zu tun, worauf du gerade Bock hattest. Es gab ja auch schon ein paar Fanzines zu der Zeit und auch wir wollten "der Welt da draußen" - mit einer Auflage von 10 Heften! - unsere Euphorie mitteilen und möglichst auch mit ihr teilen. Ein paar Leute haben dann ja auch reagiert. Joe aus Kiel hat uns damals besucht und wir hielten eine für uns "legendäre" Session im Keller von Kurts Eltern ab. Es war der pure Enthusiasmus. Beispielsweise lag ich zu der Zeit mal kurzfristig im Krankenhaus, als mein Vater zu Besuch kam und einen Brief aus Hamburg mitbrachte. Ich öffnete - und die BUTTOCKS hatten mir inklusive diverser Live-Fotos auf meine Interviewanfrage geantwortet. In diesem Moment kam die Schwester zum Blutdruckmessen rein und meinte nur: "Was ist das denn für ein Liebesbrief? Dein Blutdruck ist bei 380!", oder so um den Dreh. Die Messung wurde dann später, als ich mich beruhigt hatte, wiederholt ... Die ganzen vier Ausgaben ging das so: Bands anschreiben, Platten, die wir damals noch in Berlin orderten, besprechen, über Bands, die wir cool fanden, Artikel verfassen, Konzertkritiken - was man halt so macht in einem Fanzine. Die NEUROTIC ARSEHOLES, die dann ja auch so langsam komplett waren, wurden danach sozusagen Kurts und mein "Sprachrohr". Was ich aus der Zeit des Paranoid in die der Arseholes mitgenommen habe, waren die Kontaktaufnahme zu den Leuten, das Briefeschreiben, Menschen mit Songs für Tapesampler versorgen, Interviews beantworten ...

Wie und wo hast du das Ox erstmals wahrgenommen?

Das muss so um die #5 herum gewesen sein. Das war sicherlich auf einem der vielen Konzerte oder über einen Mailorder. Daran kann ich mich allerdings nicht mehr genau erinnern. Ich habe das Magazin dann nicht weiter explizit verfolgt, es war wie bei den anderen Fanzines auch, immer mal wieder gekauft und gelesen.

Und was hat dich dann bewegt, beim Ox mitzumachen?

Das war viele Jahre später. Auslöser war euer Interview während der Arseholes-Tour von 1998. Als ihr mir das Heft zugeschickt habt, dachte ich mir, dass ich schon mal wieder Lust hätte, für ein Punkrock-Magazin zu schreiben. Und ich hatte mir zu dem Zeitpunkt das Ox auch regelmäßiger zugelegt. So startete ich dann eine unverbindliche Anfrage bei euch ...

Was macht für dich heute den Reiz aus, für das Ox zu schreiben?

Ich bin immer wieder gespannt auf die Platten und CDs, die ich zum Besprechen bekomme, freue mich über persönliche Highlights, kriege es aber auch hin, mit meiner Ansicht nach eher durchschnittlichen bis schlechten Scheiben umzugehen. Mit den Kolumnen bin ich ja eher zurückhaltend in den letzten Monaten, da fehlt mir meist die Zeit, aber auch die machen mir Spaß. Dass ich für die letzten Ausgaben einige Interviews gemacht habe, mit A WILHELM SCREAM, Fat Mike/GIMME GIMMES, THE HAUNTED, war für mich eher ungewöhnlich, aber sehr interessant. Das Ox ist für mich noch gelebter Punkrock. Es sind viele Leute daran beteiligt, die ziemlich frei agieren können, es werden alternative Bücher und Filme vorgestellt, aktuelle Themen tauchen auf ...

Wie schätzt du die Entwicklung des Heftes ein, wie sollte es weitergehen?

Die Grundpfeiler eines Fanzines sollten bestehen bleiben: Kolumnen, politische Statements, bestimmte Rubriken. Auch die Ox-CD als Plattform für neue, unbekannte Bands ist ein wichtiger Bestandteil. Das sind für mich relevante Abgrenzungen zum "normalen" Musikmagazin und ich habe keine Zweifel, dass das so bleibt. Denn die Entwicklung beim Ox ist schon in diese Richtung gegangen, eine Menge Werbung und Anzeigen, teilweise Farbe, was ich allerdings mag. Es hat sich mit zunehmender Größe ja auch zu einem Job entwickelt, da lässt sich das wohl kaum vermeiden, wenn man zudem ein gewisses Preislevel halten will. Teilweise finde ich, dass zu viele Bands und Interviews im Heft sind, dadurch kommt manches zu kurz und kann inhaltslos wirken. Ansonsten alles gut und weitermachen!

Gab/gibt es ein Interview/einen Artikel, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist, positiv wie negativ?

Ich kann mich bei der Masse an Interviews nicht mehr an sooo viele erinnern, besonders inhaltlich. Mir ist allerdings das Gespräch mit Lemmy von MOTÖRHEAD im Gedächtnis geblieben als eines, welches ich mit Interesse gelesen habe und welches ich gut fand. Hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass dieser Typ eher ungewöhnlich war im Ox. Und das Interview mit Dave Grohl, der ja offensichtlich, trotz allen Erfolges, ein eher cooler und bodenständiger Mensch geblieben ist.

Welche Bands/Platten und Genres haben dich früher beeindruckt und beeinflusst, welche sind es heute?

Die Bands von früher habe ich bereits erwähnt, dennoch: SEX PISTOLS, RAMONES, U.K. SUBS, DICKIES, LURKERS, STIFF LITTLE FINGERS, DEAD KENNEDYS. In der zweiten Generation dann BLACK FLAG, BAD BRAINS, DISCHARGE, G.B.H, MDC. Mitte der 80er dann BAD RELIGION, VERBAL ASSAULT, NOFX, POISON IDEA ... Heutzutage höre ich immer noch die Sachen, die allgemein unter "Punkrock" oder "Hardcore" laufen, aber ich glaube, dieses Feuer von damals lodert nicht mehr so intensiv - wie denn auch? Ich habe so viele Bands gesehen und gehört, da wird es nicht gerade leichter, mich noch wirklich vom Hocker zu hauen. Ich meine das weder herablassend noch besserwisserisch, es ist einfach so gefühlt. Ich finde allerdings immer wieder Platten super und bin nach wie vor begeisterungsfähig - A WILHELM SCREAM, COMEBACK KID und GO IT ALONE sind Spitzen-Bands mit tollen Platten. Was mich definitiv beeindruckt, ist die Konstanz von NOFX, immer noch gepaart mit dieser Punkrock/Du-kannst-mich-mal-Attitüde.

Was hat sich deiner Meinung nach in der Szene in der Zeit, die du dabei bist, am maßgeblichsten verändert, sowohl positiv wie negativ?

Die maßgeblichste Veränderung resultierte wohl daraus, dass Anfang/Mitte der 90er plötzlich Bands wie GREEN DAY und OFFSPRING riesengroß wurden. Punk wurde massenkompatibel, machte BLINK-182 möglich und sorgte dafür, dass auch Bands wie BAD RELIGION, NOFX oder MILLENCOLIN vor Zuschauermengen spielten, die sonst in der Größenordnung nicht möglich gewesen wären. Wie soll man eine solche Entwicklung verhindern? Man kann sie nur registrieren und weiter sein Ding durchziehen. Der "Underground" ist ja weiterhin existent: 1997 haben wir mit den NEUROTIC ARSEHOLES auf dem 25-jährigen Geburtstag der Korn in Hannover gespielt, den Laden gibt es heute noch. Dieses Jahr gab es das AJZ Bielefeld bereits 35 Jahre, die AU in Frankfurt 25 Jahre. Aber der Zugang zu Punkrock durch den "Mainstream" macht es für den "Underground" nicht leichter. Kleine Konzerte sind heutzutage nicht mehr so gut besucht wie früher. Die Kids gehen lieber auf ein riesiges Open-Air mit RANCID und KETTCAR.

Was ist heute das größte Ärgernis in Zusammenhang mit Musik?

Es gibt ein paar Sachen, die irgendwie nerven: überhöhte Preise auf Konzerten, die eigentlich in kleinen, angenehmen Clubs über die Bühne gehen könnten. Diese neuen CD-Hüllen, bei denen man das Backcover nicht mehr öffnen kann. Bands, die mit maximal ein oder zwei Originalmitgliedern durch die Clubs ziehen. Das hat mich schon 1985 bei THE SWEET fertig gemacht. Ein voll besoffener Brian Connolly mit drei Jugendlichen auf der Bühne, grusel. Oder QUEEN ohne Freddy Mercury, THIN LIZZY ohne Phil Lynott, die SPERMBIRDS ohne Lee Hollis, RAMONES ohne Joey, Dee Dee und Johnny - es gibt Sachen, die gehen einfach nicht. Aber das ist natürlich immer Geschmackssache ...

Wie wichtig waren dir früher Äußerlichkeiten, wie Schuhe, Frisur, Kleidung ... und wie sieht das heute aus?

Ich war schon immer ganz gern irgendwie "in" beziehungsweise fand es wichtig, cool auszusehen. In den 70ern bedeutete das Hosen mit Schlag, Clogs und rotkarierte Hemden am Bauchnabel zusammenbinden ... Später mussten meine Haare ziemlich exakt zu Berge stehen, die Jacken und Badges waren wichtig, die Ärmel meiner T-Shirts wurden abgeschnitten. Im Nachhinein und über die Jahre betrachtet, ist es mir zwar nicht immer gelungen, cool auszusehen, aber egal! Ich habe immer irgendwie darauf geachtet. Bedingt durch unzureichende Geldmittel war mir einige Zeit der Preis der Klamotten wichtiger als der Look. Arghh. In meinem Alter wird das mit der Kleidung aber wieder wichtiger ... auf alle Fälle schaue ich, ob mir diese oder jene Hose/T-Shirt/Jacke auch einigermaßen steht. Punkt.

Wie groß/klein ist deine Plattensammlung, wie wichtig ist sie dir?

Im Vergleich zu der langen Zeit, in der ich mir Platten und CDs zulege, wahrscheinlich eher klein. Das liegt unter anderem daran, dass ich, als mich die Punk-Explosion umpustete, alle meine 70er-Jahre-Platten für unfassbar wenig Kohle verhökerte. SWEET, SLADE und Ted Nugent oder auch KISS hatten plötzlich keine Bedeutung mehr. Auch meine vier vorhandenen BEATLES-Doppelalben gingen für lachhaftes Geld über den Flohmarkttisch. Da fehlen auf jeden Fall mehrere hundert Scheiben, mindestens. Ich habe denen lange Zeit nachgetrauert, nicht ständig, aber immer mal wieder, bis ich dann mal Henry Rollins in einem Interview sah, der genau das Gleiche getan hat - allerdings scheint er die ganzen alten Scheiben aus dem Fenster geschmissen zu haben. Durch seine fesselnde Art zu erzählen, fühlte ich mich wieder erinnert: da war es, das Gefühl - peng! - auf den Punkt gebracht. Das Zeug war einfach durch, es war scheiße, es war langweilig, also ab dafür. Leute, die in ihrem Leben nicht wirklich Platten gekauft haben, sind immer ein bisschen baff angesichts meiner Sammlung, aber ich finde das eher überschaubar. Wenn meine Bude mal abfackeln würde, wäre das fehlende Vinyl, speziell aus den Jahren 1977 bis 1990, schon ein ziemlicher Verlust, den ich mit einem hohen Konsum an Alkohol und anderen Drogen kompensieren müsste ...

Wie steht es um dein Konsumverhalten?

Wie viel Geld hast du früher für Platten ausgegeben, wie viel heute?

Ich gebe seit einigen Jahren sehr viel weniger Geld für Platten aus, als ich das früher getan habe. Mir fehlte in den letzten Jahren oft die Kohle, außerdem habe ich einen Freund, der regelmäßig die neuesten Sachen am Start hat. Aus dem Netz habe ich nie gesaugt. Und wahrscheinlich würde ich viele Sachen, die ich mag, dort auch gar nicht finden. Singles kaufe ich immer wieder gerne.

Gibt es heute Wichtigeres - Hobbys, Beruf, Familie - in deinem Leben als Punkrock, wie gehst du mit eventuellen Interessenkonflikten um?

Wenn Punkrock bedeutet, sich ständig auf Konzerten herumzutreiben und den ganzen Tag Musik zu hören, dann gibt es vieles, was heutzutage wichtiger ist. Betrachte ich Punkrock jedoch als Teil meines Lebens - und das ist er -, dann haben sich die äußeren Erscheinungs- und Verhaltensformen zwar verändert, aber die innere Haltung ist geblieben. Und aus dieser inneren Haltung heraus rekrutiert sich schließlich alles, was mir heute wichtig ist und wer oder was mich umgibt. Dazu gehören meine Freundin, meine Freunde, der Job, die Familie und meine Hobbys.